Neuigkeiten:

Wiki * German blog * Problems? Please contact info at psiram dot com

Main Menu

Das Licht des Marxismus (war: Re: Krise in der Ukraine)

Postings reflect the private opinion of posters and are not official positions of Psiram - Foreneinträge sind private Meinungen der Forenmitglieder und entsprechen nicht unbedingt der Auffassung von Psiram

Begonnen von Peiresc, 12. Oktober 2022, 05:55:46

« vorheriges - nächstes »

sailor

Eine schöne ex-post-Analyse. Aus heutiger "Wahrer Linker Perspektive" ist der Bolschewismus genauso bähbäh wie die Sozialdemokratie :D Der Punkt ist, dass keine Nation, die 1917 auch nur annähernd in die Gefahr einer Revolution geriet, eine intakte bürgerliche Gesellschaft hatte, welche die Krise des Feudalismus auffangen konnte. Selbst in D war die Wahrscheinlichkeit einer linken Revolution immer gegeben. Gleichzeitig hat der Sieg der Bolschewiken in der Oktoberrevolution und im Bürgerkrieg das Tor zu einer Verwirklichung der linken Träume aufgestoßen... wobei schon die Realität des Bürgerkrieges für Verwässerungen der reinen Lehre (NEP) gesorgt hat. Spätestens mit Stalin ist die Linke an der Realität gescheitert: Die Bodenreform, eine der Maßnahmen, die den Bolschewiken die Unterstützung der Bauern brachte, wurde durch die Kollektivierung wieder rückgängig gemacht. Die Bevorzugung urbaner Zentren bei der Versorgung mit Gütern führte zusammen mit der Kollektivierung und der Industrialisierung zu massiven Migrationsbewegungen, welche die sozialen Ideen und Konzepte ad absurdum führten. Hier war es vor allem die mangelnde Integration der ruralen Bevölkerung in eine sozialistische Arbeiterklasse, welche die Linke nie vorgesehen hatte. Natürlich war die Arbeiterklasse immer die Speerspitze, aber die war in russland klein. Die Linke hat dabei nie begriffen, dass sie nur ine dünne Schicht war/ist, die sich im Falle russlands subtil und allmählich einer Mehrheit aus ruralen Aufsteigern angepasst hat. Realität ist der größte Feind der Illusion.

Peiresc

Zitat von: Max P am 23. Dezember 2022, 19:22:11Links bedeutet für mich im Kern die Emanzipation des Individuums von vermeidbaren oder reduzierbaren - eben auch ökonmischen - Zwängen bei gleichzeitiger Verantwortung für andere und die Gesellschaft.
Klingt toll, aber was bedeutet das im Einzelnen? BGE? Oder bleibt es da bei wolkigen, zu nichts verpflichtenden Statements?

Zitat von: Max P am 23. Dezember 2022, 19:22:11Das beinhaltet natürlich auch die Frage nach der Verfügungsgewalt über die Produktionsmittel.
Und wie vermeidest Du Stagnation, Entwicklung eines Funktionärsadels etc?

Peiresc

Zitat von: Peiresc am 24. Dezember 2022, 13:04:16Entwicklung eines Funktionärsadels

Mal ein Beispiel. Es ist zwar aus einer völlig anderen Ecke, aber dafür ist es aktuell. Es soll nicht mutlos machen, aber es soll zeigen: Fortschritt ist kein Gesetz, sondern allenfalls eine Tendenz (Bunge); Geschichte ist offen (Popper). Ernest Gellner (Pflug. Schwert und Buch) hat gezeigt, dass man die Entwicklung der Naturwissenschaften in Europa durchaus auch als Zufall auffassen kann.

ZitatTaliban
,,Wir werden Mädchen auf keinen Fall Bildung ermöglichen und wir werden nicht nachgeben,selbst wenn Atom bei der Umsetzung von Gottes Dekreten gegen uns benutzt wird.Wenn wir Zivilisation,Fortschritt und Gleichberechtigung wollten, hätten wir nicht all die Jahre gekämpft."
https://twitter.com/ArezaoNaiby/status/1607303739479556097
----
Nachrichtensprecher zu #Taliban|Sprecher:
"Ihre Tochter studiert in Doha/Qatar nicht wahr ?"
Taliban-Sprecher:
"Hmmm..ja"
https://twitter.com/Anonymous9775/status/1607051439725068294
(jeweils mit Videoclips).

Ich bin sicher, dass selbst die Steinzeitkommunisten unausweichlich eine Hierarchie hatten; keine Art von Gewaltmaßnahme wird das dauerhaft verhindern. Sie ist Kennzeichnen einer jeden menschlichen Gesellschaft – der Grad der Ideologisierung ist nur proportional zum Grad der Heuchelei und zum Zynismus.

Scipio 2.0

Zitatder Grad der Ideologisierung ist nur proportional zum Grad der Heuchelei und zum Zynismus.

Ich befürchte das musst du nochmal erläutern.

HAL9000

Zitat von: Scipio 2.0 am 26. Dezember 2022, 18:45:44... Ich befürchte das musst du nochmal erläutern.
Ich verstehe das so: Je radikaler eine Ideologie, desto weniger wird sie gerade von den Verkündern befolgt.

Habra

Zitat von: HAL9000 am 26. Dezember 2022, 18:57:01
Zitat von: Scipio 2.0 am 26. Dezember 2022, 18:45:44... Ich befürchte das musst du nochmal erläutern.
Ich verstehe das so: Je radikaler eine Ideologie, desto weniger wird sie gerade von den Verkündern befolgt.

Vielleicht nach George Orwell:

Alle (hier Verkünderideologie einsetzen) sind gleich, manche sind gleicher.

Gilt in jeder Glaubensgemeinschaft.

sailor

War doch bei den Taliban 1.0 genauso: Westfernsehen verbieten und selbst die größten Sat-Schüsseln auf dem Dach... oder eben Dosenbier nach Wandlitz liefern lassen^^

Max P

Zitat von: sailor am 24. Dezember 2022, 12:20:34Der Punkt ist, dass keine Nation, die 1917 auch nur annähernd in die Gefahr einer Revolution geriet, eine intakte bürgerliche Gesellschaft hatte, welche die Krise des Feudalismus auffangen konnte.
Ähm, Anfang 20 Jhd. gab es in Europa schon lange keinen Feudalismus mehr, mithin auch keine Krise desselben. 

ZitatSelbst in D war die Wahrscheinlichkeit einer linken Revolution immer gegeben.
Gerade in Deutschland war 1918 eine Revolution zum Greifen nah.

ZitatGleichzeitig hat der Sieg der Bolschewiken in der Oktoberrevolution und im Bürgerkrieg das Tor zu einer Verwirklichung der linken Träume aufgestoßen.
Nein. Es wurde ein Tor linker Träume aufgestoßen, das stimmt, aber in Russland konnten sie eben nicht verwirklicht werden.

ZitatSpätestens mit Stalin ist die Linke an der Realität gescheitert: ...
Vermutlich meinst du, dass Stalin und seine Politik unvermeidlich war, aber das wär natürlich Unsinn.

ZitatHier war es vor allem die mangelnde Integration der ruralen Bevölkerung in eine sozialistische Arbeiterklasse, welche die Linke nie vorgesehen hatte. Natürlich war die Arbeiterklasse immer die Speerspitze, aber die war in russland klein.
Nichts anderes habe ich geschrieben (sofern du auf mich antworten wolltest).

Max P

Zitat von: sailor am 26. Dezember 2022, 21:07:10War doch bei den Taliban 1.0 genauso: Westfernsehen verbieten und selbst die größten Sat-Schüsseln auf dem Dach... oder eben Dosenbier nach Wandlitz liefern lassen^^
Die SED konnt vieles verbieten, West-TV aber nicht.

Schwuppdiwupp

Zitat von: Max P am 27. Dezember 2022, 01:09:54Ähm, Anfang 20 Jhd. gab es in Europa schon lange keinen Feudalismus mehr, mithin auch keine Krise desselben. 

Das stimmt nicht. Und schon gar nicht in Russland, Deutschland und Österreich. Selbst danach hatten die Herren von und zu deutlich bessere Karrierechancen im Militär und Wirtschaft als das gemeine Fußvolk.

Bis zum Ende des Ersten Weltkriegs hatten Kaiser und deren ergebenen Fürsten das sagen. Und das Bürgertum versuchte ihnen im Habitus, Protz und Prunk nachzueifern. Diese gebildete, reiche aber nichtadelige Oberschicht hatte kein Interesse am Kommunismus, da dieser den eigenen Wohlstand gefährden würde.

Russland hinkte aber mit der industriellen Revolution sehr weit hinterher und war deshalb im Wesentlichen ein Agrarstaat mit einer Bevölkerung, die mental kaum der Leibeigenschaft entwachsen war.
Ach, was weiß denn ich ...

Peiresc

Zitat von: Max P am 27. Dezember 2022, 01:12:06
Zitat von: sailor am 26. Dezember 2022, 21:07:10War doch bei den Taliban 1.0 genauso: Westfernsehen verbieten und selbst die größten Sat-Schüsseln auf dem Dach... oder eben Dosenbier nach Wandlitz liefern lassen^^

Die SED konnt vieles verbieten, West-TV aber nicht.

Dein Vertrauen wäre erschütternd, wenn es nicht um ein solch nebensächliches Thema ginge.  ;)  Zwischen "verboten" und "erlaubt" ist ein Spektrum, mit regionalen und zeitlichen Schattierungen. Auch dies ist eine Facette der Heuchelei.

Nicht jeder kann eigene Erfahrungen mit Diktaturen haben, insofern hat es definitiv einen Fortschritt gegeben. Das entbindet nicht von der Pflicht, sich über Dinge zu informieren, über die man mitreden will. Ich empfehle deshalb eine tiefergehende Lektüre. Leider habe ich da keine Literaturhinweise parat.

Typee

Zitat von: Schwuppdiwupp am 27. Dezember 2022, 08:35:19
Zitat von: Max P am 27. Dezember 2022, 01:09:54Ähm, Anfang 20 Jhd. gab es in Europa schon lange keinen Feudalismus mehr, mithin auch keine Krise desselben. 

Das stimmt nicht. Und schon gar nicht in Russland, Deutschland und Österreich. Selbst danach hatten die Herren von und zu deutlich bessere Karrierechancen im Militär und Wirtschaft als das gemeine Fußvolk.

Bis zum Ende des Ersten Weltkriegs hatten Kaiser und deren ergebenen Fürsten das sagen. Und das Bürgertum versuchte ihnen im Habitus, Protz und Prunk nachzueifern. Diese gebildete, reiche aber nichtadelige Oberschicht hatte kein Interesse am Kommunismus, da dieser den eigenen Wohlstand gefährden würde.

Russland hinkte aber mit der industriellen Revolution sehr weit hinterher und war deshalb im Wesentlichen ein Agrarstaat mit einer Bevölkerung, die mental kaum der Leibeigenschaft entwachsen war.

Das stimmt seinerseits nicht. Es gab wohl Monarchien, aber kein Feudalsystem mehr. Feudalismus beruht auf einem Lehenssystem,  in dem alle Herrschaftsfunktionen von der über den Grundbesitz verfügenden aristokratischen Oberschicht ausgeübt werden. Das lässt sich jedenfalls nicht von Deutschland und Österreich behaupten.
The universe is under NO obligation to make sense to us
(Neil deGrasse Tyson)

Schwuppdiwupp

Okay, wenn du sooo pingelig sein möchtest, dann ...

... dann ist trotzdem wurscht. Denn ich gehe mal davon aus, dass es durchaus legitim ist anzunehmen, dass die faktischen Machthaber vor dem 1. WK hierarchisch strukturierte Adelige waren - auch ohne Lehenssystem.
Ach, was weiß denn ich ...

Max P

Zitat von: Schwuppdiwupp am 27. Dezember 2022, 08:35:19
Zitat von: Max P am 27. Dezember 2022, 01:09:54Ähm, Anfang 20 Jhd. gab es in Europa schon lange keinen Feudalismus mehr, mithin auch keine Krise desselben. 

Das stimmt nicht. Und schon gar nicht in Russland, Deutschland und Österreich. Selbst danach hatten die Herren von und zu deutlich bessere Karrierechancen im Militär und Wirtschaft als das gemeine Fußvolk.
Ja, es gab den Adel noch als Stand, und er hatte noch seine Besitztümer (die hat er bis heute), aber die herrschende Klasse war er in Europa (zumindest westlich Russlands) schon lange nicht mehr. Es gab keinen Feudalismus mehr, wie Typee richtig geschrieben hat. Somit auch keine "Krise des Feudalismus".

ZitatRussland hinkte aber mit der industriellen Revolution sehr weit hinterher und war deshalb im Wesentlichen ein Agrarstaat mit einer Bevölkerung, die mental kaum der Leibeigenschaft entwachsen war.
Richtig.

---

Zitat von: Peiresc am 27. Dezember 2022, 09:13:45
Zitat von: Max P am 27. Dezember 2022, 01:12:06
Zitat von: sailor am 26. Dezember 2022, 21:07:10War doch bei den Taliban 1.0 genauso: Westfernsehen verbieten und selbst die größten Sat-Schüsseln auf dem Dach... oder eben Dosenbier nach Wandlitz liefern lassen^^
Die SED konnt vieles verbieten, West-TV aber nicht.
Dein Vertrauen wäre erschütternd, wenn es nicht um ein solch nebensächliches Thema ginge.  ;)  Zwischen "verboten" und "erlaubt" ist ein Spektrum, mit regionalen und zeitlichen Schattierungen. Auch dies ist eine Facette der Heuchelei.

Nicht jeder kann eigene Erfahrungen mit Diktaturen haben, insofern hat es definitiv einen Fortschritt gegeben. Das entbindet nicht von der Pflicht, sich über Dinge zu informieren, über die man mitreden will.
Mit der DDR habe ich mich bei Kleinem durchaus befasst und hatte darüber hinaus außer Verwandschaft und einen kommunistischen (aber sehr lieben) Opa in Halle eine Reihe langjähriger (oppositioneller) Freunde in Ostberlin. Von daher erdreiste ich mich, bei diesem Thema etwas mitzureden. Was das Westfernsehen in der DDR anging, hätten seinen Empfang die Machthaber sicher gerne verboten oder verhindert, waren dazu aber praktisch nicht in der Lage.

Nogro

Aus https://de.wikipedia.org/wiki/Westfernsehen :
ZitatAnfang der 1960er Jahre wurde in der ,,Aktion Ochsenkopf" die Bevölkerung aufgefordert, Vorrichtungen in den Fernsehgeräten, die Westempfang ermöglichten, zu entfernen und Antennen, die nach Westen gerichtet waren, zu beseitigen. FDJ-Trupps entfernten mitunter eigenmächtig Antennen von Häuserdächern, vereinzelt kam es zu Rangeleien. Die Aktion war nach der westdeutschen Sendeanlage Ochsenkopf nahe der innerdeutschen Grenze benannt, die gezielt in die DDR sendete.[4] Die Kampagne war von einer großen, staatlich gelenkten Presseberichterstattung und von Denunziationsversuchen seitens der FDJ begleitet. Dennoch scheiterte die Kampagne schon nach wenigen Wochen, weil sich zu viele Bürger in ihren Privatwohnungen der Überwachung entziehen konnten – notfalls durch sogenannte Nachtantennen, die nur zum Fernsehempfang in der Dunkelheit aufgestellt wurden.
Kenne ich auch vom Hohen Meißner (Kanal10?) aus dem Raum Leipzig. Damals wünschte man sich "ein atomwaffenfreies Wochenende und gutes Westbild" (z.T. wieder aktuell)
Es genügt nicht, keine Ahnung zu haben. Man muss auch dagegen sein (Hermann Hinsch)