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Das Licht des Marxismus (war: Re: Krise in der Ukraine)

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Begonnen von Peiresc, 12. Oktober 2022, 05:55:46

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Typee

Zitat von: Schwuppdiwupp am 27. Dezember 2022, 11:42:34Okay, wenn du sooo pingelig sein möchtest, dann ...

... dann ist trotzdem wurscht. Denn ich gehe mal davon aus, dass es durchaus legitim ist anzunehmen, dass die faktischen Machthaber vor dem 1. WK hierarchisch strukturierte Adelige waren - auch ohne Lehenssystem.

Das ist nicht pingelig, sondern ein entscheidender Faktor. Jedenfalls in Westeuropa herrschte zu dieser Zeit nicht Vasallentum und Leibeigenschaft, sondern Kapitalismus reinsten Wassers. Der Begriff des "Manchester-Kapitalismus" war zu dieser Zeit bereits geprägt, und er stammte genau aus einer Monarchie mit ausgeprägten Adelsständen als Unterbau, und er, nicht aber Landbesitz bestimmten, wo es langging.

An Marxens Kritik der Arbeitsverhältnisse seiner Zeit war ja vieles richtig, nicht aber an seiner Ignoranz gegenüber der Fähigkeit der politischen Klasse, gegenzusteuern und damit das System auf lange Zeit überlebensfähig zu halten. Der Druck auf den Ballon stieg dadurch eben nicht, er wurde unter der kritischen Schwelle gehalten. Ob es jemals zu einer erfolgreichen (pseudo-) proletarischen Revolution in Russland gekommen wäre, wenn nicht das Chaos der Kriegs- und Bürgerkriegsverhältnisse die Monarchie restlos ausgehöhlt hätte, ist längst nicht ausgemacht.
The universe is under NO obligation to make sense to us
(Neil deGrasse Tyson)

sailor

Ähm mit westfernsehen meinte ich tatsächlich die Taliban, welche das Konsumieren von "Feindsendern" verfolgten... da war meinerseits die Trennung zwischen den Heuchlern/Bigotten/Fanatikern wohl nicht deutlich genug.

Krise des Feudalismus: Typee hat recht, was die reine Lehre angeht... aber auch nicht ganz. Gerade in D und Ö war der Status des Adels auch für Kapitalisten erstrebenswert, auch wenn die "Macht" nicht mehr in Hektar und Scheffel gemessen wurde. Aber auch in D/Preußen waren die "Agrarier", die ostelbischen Gutsadeligen eine Macht, mit der man rechnen musste. Diese führte auch nach dem 1. WK die Rückzugsschlacht des reinen Feudalismus weiter. Was ich mit "Krise des Feudalismus" meinte war die Krise der adelsbasierten Systeme in D/Preußen, ÖU, Russland... und zum Teil auch übertragbar auf die Türkei. Die rein auf ererbten Titeln basierende Verteilung von Entscheiderposten hat den Krieg zu dem Disaster gemacht... und letztendlich die letzten Reste feudaler/adliger Legitimation zerstört. Gleichzeitig gabs bisher nur ein Bürgertum, was dem Adel nachgeeifert hat, das musste sich auch neu finden... glücklicherweise war dieses Bürgertum aber in Mitteleuropa stark genug, um zumindest formal die Revolution zu vereiteln. In russland war die Situation anders, das Bürgertum war deutlich kleiner, überhaupt stand die urbane Arbeitsteilung und Spezialisierung ganz am Anfang... und nicht ohne Grund starteten die Bolschewiken in St. Petersburg... nach der bereits erfolgten Februarrevolution^^ Die wird als Katalysator sehr gern vergessen.

Schwuppdiwupp

@Sailor: Genau das wollte ich zum Ausdruck bringen.
Ach, was weiß denn ich ...

Max P

Zitat von: sailor am 27. Dezember 2022, 18:43:20glücklicherweise war dieses Bürgertum aber in Mitteleuropa stark genug, um zumindest formal die Revolution zu vereiteln.

Informell hat die Revolution stattgefunden? Das verstehe ich nicht.  :gruebel 

Peiresc

Zitat von: Max P am 27. Dezember 2022, 19:35:47Informell hat die Revolution stattgefunden? Das verstehe ich nicht.  :gruebel 

Das Antonym zu formal ist inhaltlich, dachte ich.

sailor

Das Bürgertum in D hat nach dem 1.WK eben keine Revolution zugelassen... gleichzeitig aber auch keinen dauerhaften eigenen Gegenentwurf hinbekommen. Die Sozialdemokratie war eine Möglichkeit, die jedoch zwischen rechts und links zerrieben wurde... Wobei man dort nach links auch immer versuchte, die Arbeiterschaft weiter für sich zu gewinnen (womit das inhaltliche von Peiresc erklärt wäre).

Die Rechten konnten sich auf Fragmente des Adels, des adelsaffinen Kapitals und Bürgertum stützen. Mit der Spielart "Nationalsozialismus" hat auch die Rechte linke Inhalte umgesetzt... und zwar auf Kosten des Kapitals. Es ist nicht alles so einfach, wie es bei der Agitprop-Sitzung im Rotlicht scheint ;)

Peiresc

@Max P

Bei der Gelegenheit fällt mir dann doch ein Literaturtipp ein: lies mal Sebastian Haffner, "Die verratene Revolution. Die deutsche Revolution 1918/19"

Max P

Zitat von: sailor am 27. Dezember 2022, 22:56:42Mit der Spielart "Nationalsozialismus" hat auch die Rechte linke Inhalte umgesetzt... und zwar auf Kosten des Kapitals. Es ist nicht alles so einfach, wie es bei der Agitprop-Sitzung im Rotlicht scheint ;)

Die Nazis haben nirgendwo linke Inhalte umgesetzt. Dafür wurden sie auch nicht finanziert. Sie sollten die linken Parteien und Gewerkschaften zerschlagen sowie Streikrecht und Demokratie abschaffen. Das haben sie dann ja auch gründlich getan, wobei die Dinge dem Kapital danach zugegeben etwas entglitten sind. Seine Repräsentanten konnten sich allerdings bruchlos in die Bundesrepublik hinüberretten.
Ach ja, das gute alte Agitpropmaterial lag gar nicht mal so sehr daneben.  8)

sailor

Mieterschutz/Vermietermelken? Einführung/Ausweitung von Arbeitsschutz und Ergonomie am Arbeitsplatz? Urlaubsreisen? Übernahme aller Rentner in die KV? 1. Mai als Feiertag( tuts sehr weh?) :D

Und längst widerlegte Lehrmeinungen braucht auch nicht mehr zu kommen: Seit den 1970ern ist klar, dass das Großkapital keine Rolle bei der Finanzierung der NSDAP spielte... vielmehr war das Kapital abgeschreckt durch die linke Rhetorik und das sehr linke Stimmverhalten der NSDAP in den Ländern... oder auchdurch gemeinsame Aktionen von lechts und rinks wie dem Berliner Straßenbahnerstreik.

Mal ne Lektüre

Max P

Zitat von: sailor am 28. Dezember 2022, 22:28:10Mieterschutz/Vermietermelken? Einführung/Ausweitung von Arbeitsschutz und Ergonomie am Arbeitsplatz? Urlaubsreisen? Übernahme aller Rentner in die KV? 1. Mai als Feiertag( tuts sehr weh?) :D
Stimmt, da gab es ja das Amt Schönheit der Arbeit und zum Vorzeigen ein paar KdF-Schiffe. Und die Vermieter wurden auch noch gemolken (was mir nun völlig neu war)! Ich mag mich aber trotzdem nicht dazu durchringen, diese angeblichen Wohltaten "Umsetzung linker Inhalte" zu nennen. 

ZitatUnd längst widerlegte Lehrmeinungen braucht auch nicht mehr zu kommen: Seit den 1970ern ist klar, dass das Großkapital keine Rolle bei der Finanzierung der NSDAP spielte... vielmehr war das Kapital abgeschreckt durch die linke Rhetorik und das sehr linke Stimmverhalten der NSDAP in den Ländern... oder auchdurch gemeinsame Aktionen von lechts und rinks wie dem Berliner Straßenbahnerstreik.
Letzteres war eine einmalige Aktion. Und allerspätestens nach dem "Röhmputsch" wurde endgültig klar, dass etwaige linke Rhetorik der Nazis eben nur Rhetorik war.

ZitatMal ne Lektüre
Eben dort steht auch, dass die genauen Finanzquellen der NSDAP aufgrund von "Archivsäuberungen" kaum noch zu rekonstruieren sind. Wie man dann den Schluss ziehen kann, es hätte keine nennenswerte Finanzierung durch interessierte Wirtschaftskreise gegeben, ist mir schleierhaft. Andererseits, angesichts des Drecks, den die nazi- und dann bruchlos bundesdeutschen "Leistungsträger" am Stecken hatten. verwundert es dann wieder auch nicht so sehr...

sailor

In dubio pro reo, ohne Beweise kein Schuldspruch. Gilt auch für Nazis und Kapitalisten^^ Im Übrigen ist dort beschrieben, dass eben nicht alles verschütt gegangen ist... und dass die Großindustrie es lieber mit den rechtskonservativen Parteien trieb als mit den populistischen und sich durchaus sozialistisch gebenden Nazis. Diese Parteien wie die DNVP waren deutlich kapitalfreundlicher als die NSDAP, welche über ihren Antisemitismus auch einen latenten Antikapitalismus mit sich brachte (Juden als gierige Banker/Wucherer). Die Rolle dieser Kreise und ihr ambivalentes Verhältnis zu Hitler (siehe Harzburger Front, mit der man "hitler an die Wand drücken wollte, bis er quietscht") ist gerade ein Gegenbeweis für die These vom Aufbau Hitlers durch das Kapitel.

Die linken Elemente wurden abgesetzt, nachdem Hitler klar wurde, dass er für seine Pläne die Kapitalisten brauchte... und die rechts-konservativen Koalitionspartner nur eine Last waren. Er verfolgte also zwei Ziele: Sicherung der alleinigen Macht und Sicherung der Zusammenarbeit mit der Industrie. Gleichzeitig war seine Innenpolitik für die Industrie attraktiv, weil er die Arbeitnehmerschaft deutlich besser "beruhigte" als alle Regierungen vor ihm, Zuckernbrot und Peitsche, sehr offensichtlich angewendet. Aber Zuckerbrot bleibt Zuckerbrot, egal ob von linken oder rechten Machthabern. Du kannst ja sehr gern auf den 1. Mai als gesetzlichen Feiertag verzichten, weil er von den Nazis kommt ;)

Noch ein Punkt: Hitler hat im Krieg ständig daran gedacht, die innenpolitischen Fehler des 1. WK nicht zu wiederholen, die Versorgungssicherheit der heimischen Bevölkerung hatte immer oberste Prio... daher kamen die Hungerwinter in D erst nach 45... in "Resteuropa" war jeder winter zwischen 39 und 45 ein Hungerwinter.

Max P

Zitat von: sailor am 29. Dezember 2022, 12:44:25Aber Zuckerbrot bleibt Zuckerbrot, egal ob von linken oder rechten Machthabern. Du kannst ja sehr gern auf den 1. Mai als gesetzlichen Feiertag verzichten, weil er von den Nazis kommt ;)

Es hieß ja dann auch, dass "nicht alles schlecht war unter Hitler!" Außerdem, die Autobahn! Und überhaupt. 8)

sailor

Das sagst du jetzt. Ausserdem fehlt noch "Mutterkreuz!... aber davon abgesehen, es ist ist nicht alles Gold was glänzt im Sozialismus. Man kann die Theorie mittlerweile nicht mehr ohne die Praxis sehen und letztere ist... naja, mehr als nur durchwachsen. Zumal die heftigsten Exzesse dann kamen, wenn die Ideologie besonders stark hervorgehoben wurde (Kulturrevolution in China, (Zwangs-)Kollektivierungen, interne Säuberungen der Kader gegen "Linke"/"Rechte").

Yadgar

Hi(gh)!

Zitat von: Max P am 29. Dezember 2022, 13:36:40Es hieß ja dann auch, dass "nicht alles schlecht war unter Hitler!" Außerdem, die Autobahn! Und überhaupt. 8)

Auschwobahn! Ich hätte große Lust, mal die Autobahn Köln-Frankfurt (erbaut 1934-1943) zu rendern, wie sie unter dem "Tor zum Westerwald" hindurch geradewegs in die Höllenglut der Vernichtungslager führt, flankiert von Spruchbändern wie "Deutscher Wille, deutsche Kraft - die Autobahn, die Fortschritt schafft" und Ähnlichem... um zum hundertsiebenundfünfzigtausendachthundertvierundzwanzigsten Mal zu zeigen, was der Nationalsozialismus für ein wahnsinniger Todeskult war!

Bis bald im Khyberspace!

Yadgar

Max P

Zitat von: Yadgar am 04. Januar 2023, 20:36:51"Deutscher Wille, deutsche Kraft - die Autobahn, die Fortschritt schafft"

Zumindest der letzte Teil könnte auch O-Ton FDP sein. Ansonsten haben die Nazis ihre Lager und Gaskammern aber auf der Schiene beschickt. Überhaupt ist die wesentliche Beteiligung der Reichsbahn am Holocaust zwar bekannt, aber nach wie vor nur ungenügend aufgearbeitet.