Die EU drückt aufs Gaspedal:
Ja; und die Brexities haben es dagegen gar nicht so eilig: ausgerechnet Boris Johnson sieht "keinen Grund zur Hast".
http://www.faz.net/agenturmeldungen/adhoc/brexit-johnson-europa-nicht-den-ruecken-zuwenden-14306381.htmlSo, wie sich das liest, sieht es fast aus wie ein grotesk überzogener Machtkampf um die Spitze bei den Tories, bei dem die P...nase Farage mit seinem Gefolge gerade recht kam. Crazy Boris hat Cameron gekippt, und jetzt will er es etwa ruhiger angehen lassen. Wenn er sich dabei mal nicht verrechnet hat, er wäre nicht der erste in diesem Spiel.
Wenn wir gerade vom Demokratie- und Mitbestimmungsdefizit bei der EU reden: ok, das besteht durchaus, ich bin mir nur nicht sicher, ob eine EU, die dieses Defizit dort beseitigt, wo es sich stellt, überhaupt gewollt wird. Zur Zeit ist es ja so, dass es einen generellen Vorrang von Gemeinschaftsrecht vor nationalem Recht gibt. Richtlinien, die von der Kommission in Brüssel kommen, müssen innerstaatlich umgesetzt werden, sonst können Sanktionen drohen. Damit schafft die EU einen seltsamen Rechtszustand: Rechtsquellen (die Richtlinien), die nach dem Vorgang ihrer Entstehung eigentlich nur die Qualität von Rechtsverordnungen, also von administrativ geschaffenem Recht haben, stehen höherrangig da als förmliche Gesetze der Mitgliedstaaten, also höher als parlamentarisch-legislativ geschaffenes Gesetzesrecht. Ob sie damit de facto verfassungsrechtsähnlichen Rang haben, ist eine Frage, die der Ex-BVerfG-Richter Dieter Grimm kürzlich einmal aufwarf, und sie ist ziemlich beunruhigend. In dieser Schieflage liegt das eigentliche Demokratiedefizit der EU-Organisation. Es liegt dagegen nicht in der Abwesenheit von Volksabstimmungen - selbst unser Grundgesetz kennt sie nur in einigen seltsamen Fällen, um einen davon hat sich die deutsche Politik anno 1989/1990 beim Beitrittsverfahren der neuen Bundesländer elegant herumgewunden.
Will man ein strukturelles Demokratiedefizit in der EU beseitigen, muss man wohl oder übel den europäischen Parlamentarismus stärken, und zwar auf Kosten der mächtigen Kommission. Und das würde bedeuten: wir wählen, von Skandinavien bis zur Ägäis, in gleicher und freier Wahl dasjenige Parlament, das verbindliches europäisches Recht für alle Mitgliedsländer setzt und die Kommission als Spitze der europäischen Administration wählt und legitimiert.
Dann hätten wir einen föderalen europäischen Bundesstaat, und es gäbe auch nachvollziehbare und einwandfrei legitimierte Wege, Kompetenzen und Subsidiaritäten zu regeln - auf der Ebene gesamteuropäischen Verfassungsrechts. Auf der Ebene eines Staatenbundes, der sachliche Regelungsbereiche an Gemeinschaftsorgane delegiert und damit in den eigenen Staaten die Parlamente zu Gunsten eingesetzter Kommissare delegitimiert, kann das dagegen niemals wirklich funktionieren. Zum Vergleich: die Bundesrepublik Deutschland ist ein Bundesstaat mit einem Bundes- und vielen Landesparlamenten, die alle, aber auf die jeweiligen verfassungsrechtlich vorgegebenen Kompetenzen beschränkte förmliche Gesetze beschließen können. Dort, wo es zu Kollisionen kommen kann, gilt: Bundesrecht bricht Landesrecht. Aber nur dort! Bundesländer können insbesondere nicht hergehen und dem Bundesgesetzgeber - oder gar der
Bundesregierung - Gegenstände der eigenen Gesetzgebungskompetenz übertragen, die dann anschließend nur noch abgenickt werden können.
Aber Hand aufs Herz: traut sich jemand einen europäischen Bundesstaat wirklich zu?