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Welt Artikel "Die großen Aufklärer waren oft Judenhasser"

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Begonnen von G5, 25. August 2012, 17:51:08

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Abe81

Entschuldigt wieder diesen Roman. Ich habe mich schon sehr zusammengerissen, nicht noch mehr zu schreiben und auch nicht zu kompliziert. Ich gelobe Besserung, fürchte aber, daß das bei diesem Thema nur schwer geht.

ZitatEs wird die Frage gestellt, ob das alles noch verständlich ist.

Das hier geraunte 'Nicht-Verstehen' liegt natürlich auch daran, daß mit einer Menge Lektüre und Quellen um sich geworfen wird, die man gelesen haben muss/sollte; das ist natürlich voraussetzungsreich und damit potentiell unverständlich für viele. Aber die Kehrseite wäre leider eine Verflachung, die ebenso die 'Schlagkraft' der Argumente verflachen würde. Ich für meinen Teil könnte mich bemühen die (zugegeben) häufig gedroppten großen Begriffe (z.B. Ideengeschichte, Totalitarismustheorie...)  mit einem Link auf eine Seite zu versehen, die den Begriff prägnant zusammenfasst, ohne dabei allzu viel an seinem Gehalt zu eskamotieren - der Referer über anonym.to löscht leider auch immer die Anker in den Links, d.h. man wird nur auf die Seite weitergeleitet, aber nicht in den Seitenbereich, den ich verlinke... ärgerlich.

Ich finde das Thema hier auch gerade spannend, weil es gerade auch die Diskussion um die epistemiologische Schwachstellen der modernen Atheisten befeuert, die m.E. zentraler Kern dieser Diskussion ist/sein sollte. Wer klärt die Aufklärer auf? Sie sich selbst, wenn sie denn nicht das Kind mit dem Bade ausschütten; oder wie Adorno es in der Minima Moralia formuliert "Der Gedanke, der den Wunsch, seinen Vater, tötet, wird von der Rache der Dummheit ereilt"

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ZitatDa Naturwissenschaft und Logik den Spielraum für Religion zunehmend eingeengt haben...
[Hervorh. Abe]

Das würde ich bestreiten. Mit Kant könnte man eher sagen "das Wissen aufheben, um zum Glauben Platz zu haben". Das heißt nämlich, daß man mit dem Wissen auch gleichzeitig die Grenzen dieses Wissens aufzeigen kann (Meta-Wissen i.S. von Erkenntnistheorie).  Der Spielraum der Religion wurde vielleicht dahingehend 'eingeengt', als solche Formen von Religiösität wie Animismus, Totemismus etc. verschwanden. Hier wurde der Grund des Religiösen von der Erkenntnis über die Natur zurückgedrängt. Man muss keinem Regengott mehr frönen, weil man weiß, wie Regen zustande kommt. Diese Naturentzauberung hat aber ihre Erkenntnisgrenzen.

Logik ist erstmal nur eine Erkenntnisform, die nichts damit zu tun hat, von wem sie angewendet wird, sie ist universal. Wer sich mal ein Werk zum katholischen Dogmatismus vorgenommen hat und sich mit (Aussagen-)Logik ein wenig auskennt, wird erstaunt sein, wie konsistent das alles argumentiert ist. Die können das in sich auch so konsistent tun, da sie einen Allgemein- und Letztbegriff haben, nämlich Gott. Eine Prämisse, mit der alles steht oder fällt.

Insofern könnte man auch behaupteten, daß die Religion eine Brutstätte der Vernunft ist und die Theologie (i.S. von gedachter Religion, also Vermittlung der Vernunft mit den Geboten) als das trojanische Pferd, das die Aufklärung in sich trug, bezeichnen.

Eine steile These, die sich vielleicht in diesem Zusammenhang diskutieren lässt: die Geschichte der monotheistischen Religionen ist eine Verfallsgeschichte. Ihre Vermittlung über Vernunft ist im Judentum am stärksten ausgeprägt, im Protestantismus verkehrt sich das schon in eine Flucht in die Innerlichkeit, im Islam ist es nur noch Handlungsanleitung für den Alltag* und ein politisches System. Die modernen Atheisten möchten allerdings das Kind mit dem Bade ausschütten und damit auch der Welt die Vernunft austreiben.

*) als Zuspitzung dieses Prinzips ein amüsante Zitat von Khomeini, das in seiner Skurrilität wirklich nicht sein komischstes ist, sondern eher extrem repräsentativ: ,,Der Mann, der beim Koitus mit einer Frau ejakuliert hat, die nicht seine eigene ist, und der erneut beim Koitus mit seiner eigenen Frau ejakuliert, darf seine Gebete nicht sprechen, wenn er voll Schweiß ist; aber wenn er zuerst mit seiner Ehefrau und dann mit einer außerehelichen Frau koitiert, darf er seine Gebete sprechen, auch wenn er voller Schweiß ist." (Khomeini, Ruhollah Musavi: Meine Worte. Weisheiten, Warnungen, Weisungen; München, 1980)

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ZitatAtheismus ist aber keine Religion, sondern einfach nur Atheismus. Atheisten haben ansonsten kein gemeinsames Merkmal, und so ist die Aufklärung nicht die Maske oder das trojanische Pferd des Antisemitismus.

Obwohl das hier ja der eigentliche Grund des Threads war, würde das m.E. extrem ausufern, dieses Fass aufzumachen. Ich kann nur nochmal auf die oben bereits verlinkte Dialektik der Aufklärung (DDA) hinweisen, die argumentiert, "warum die Menschheit anstatt in einen wahrhaft menschlichen Zustand einzutreten, in eine neue Art von Barbarei versinkt." und was das mit gewisser Notwendigkeit mit der Aufklärung zu tun hat; es wird behauptet Aufklärung sei ihrer Intention nach Befreiung, führe aber in ihrer Geltung (also das was in der Idee zur Wirksamkeit kommt) nur zur Ausweitung von Herrschaft. Wenn du möchtest, können wir das diskutieren, aber ich finde den Diskussionsstrang über die Neuen Atheisten spannender, der hat sich ja auch bereits 'entfaltet'.  By the way: Der 'Philosoph' MSS hat ja auch eine Rezeption der DDA in seinem Traktat zum evolutionären Humanismus; das ist so ziemlich die dümmlichste Rezeption, die ich jemals gelesen habe. Dazu müsste man die DDA wirklich mal ausführlich gegen solche Liebhaber verteidigen.

Zitatdie Frage nach der Moral heute den Kernpunkt der Gottesbeweise dar (Wenn Gott tot ist, dann ist alles erlaubt). Hitler und Stalin haben Massenmord begangen, weil sie von Gott verlassen waren (vor dem 20. Jhd. hatte der Terreur der Französischen Revolution diese Funktion). Wenn der Glaube zusammenbricht, so glaubt man, dann bricht auch die soziale Ordnung zusammen. Atheismus ist einfach a priori moralisch anrüchig, und es kommt nur darauf an, ihm das nachzuweisen.

Das ist einer der zentralen Punkte, in der die modernen Aufklärer einen Kategorienfehler begehen (bzw. auch ihre dummen Kritiker). Nämlich den von moralischer Handlung/moralischer Mensch sein auf der einen Seite und moralischer Begründung auf der anderen Seite. Letzteres ist die Bedingung der Möglichkeit für ein Urteil(!) über ersteres.
An einem Beispiel erklärt: Als der Papst auf Staatsbesuch in England war, wurde Dawkins auf einer Gegendemo als Sprecher eingeladen. Er hat davon geredet, den Papst sei ein "enemy of humanity" (klick) und nahm an einer Kampagne teil, die forderte, ihn - den Papst - wegen "crimes against humanity" anzuzeigen (klick). Ob das rechtspositivistisch standhält, will ich hier gar nicht diskutieren, sondern über die Voraussetzungen einer solchen Forderung, also ihre metaphysischen Grundlagen. Humanity übersetzt sich in diesem Kontext ins Deutsche mit "die Menschlichkeit" oder "die Menschheit". Menschlichkeit/Menschheit kann aber kein empirisch gegenwärtiger Gegenstand sein, also keine begriffliche Abstraktion von allen existierenden Menschen. Aus letzterer Bezeichnung (Menschheit als Summe aller empirischen Menschen) lässt sich kein Aussschluss als Verbrechen begründen; der praktische Ausschluss durch z.B. Mord hätte unter dieser empiristischen Betrachtung zur Folge, daß diese einfach nicht mehr zur Summe gezählt werden. Fertig. Mehr nicht. Die Frage, welchen Status der Begriff der Menschheit hat, ist also nicht nur eine emprische/theoretische Frage, sondern dem Ankläger der "crimes against humanity" aufgenötigt, weil dieser Status vom Angeklagten zur Disposition gestellt wird (dafür möchte man sie ja anklagen, für den grausamen Ausschluss von Menschen aus der Menschheit). So kann Menschheit sinnvollerweise nicht anders als emphatische Idee gedacht werden - also als etwas, das (moralischen) Bedeutungsgehalt hat, über die reine Summe der Mitglieder der Menschheit hinaus. Das heißt wiederum, irgendwas muß ja dem Begriff der Menschheit/Menschlichkeit Geltung verleihen - also diesen Bedeutungsüberschuss geben, der über die rein empirische Summe hinausweist. Ironischerweise hat die katholische Kirche, die hier angeklagt wird, die Begründung für eine Geltung parat, die steckt nämlich in der theologischen Bindung der Menscheit an den Allgemeinbegriff 'Gott', vermittelt über andere Kategorien, wie 'Erbsünde', 'Jesus' etc. Aber diese Prämissen und auch die Kategorien teilen die Ankläger ja nicht mit der Kirche, im Gegenteil, sie bestreiten deren Existenz. Auf welcher Grundlage lässt sich dann aber anklagen? Solche Forderungen ("crimes against humanity") können nicht aufgelöst werden in empirischer Immanenz, wenn man solche großen Begriffe wie Freiheit, Vernunft, Moral etc. noch denkbar machen und ihnen eine Geltung verleihen möchte.

In diesem Kontext, weil du, bayle, es ja auch erwähntest: Theologie schützt zumindest, dieser Ideengeschichte nach, vor gewissen anderen Weltanschauungen - man ist sozusagen auf eine abonniert und versucht sich idealerweise auch daran zu halten; man hat als gläubiger Katholik,  ab einer gewissen historischen Stufe der Theologie(!), also eine gewisse Resistenz gegen andere Ideen.  So konnte, im Umkehrschluss, Stalin Massenmörder werden, weil er es weder besonders mit Marx, noch mit der Religion hielt. Er hatte  die wahnhafte Idee von einer Weltgesellschaft, die von jedem empirischen/individuellen Menschen abstrahieren kann, Hauptsache sie setzt sich durch, wie es seine Geschichtsphilosophie prophezeit. D.h. man könnte ihm religiöses Denken ankreiden, wie es Dawkins und Hitchens ja auch machen, aber eben kein theologisches, denn letzteres ist vermittelt mit der Vernunft. Und der transzendente Vernunftgebrauch ist eben die Voraussetzung für Kritik der Wirklichkeit; man muß sich ja analytisch/gedanklich außerhalb der Wirklichkeit setzen können, um sie zu kritisieren. Und das wäre ein weiterer Vorwurf an die neuen Aufklärer: Ihre Rede von der Religion als allem Übel bzw. dessen Ursache, die aus empiristischer Immanenz geboren ist, verhindert einen kritischen Blick auf die Gesellschaft, der die Religion entsprungen ist. Religion ist ihnen sozusagen die Erbsünde/ ein Letztbegriff, dessen historische und gesellschaftliche Genese für ihre Abschaffung nicht hinterfragt werden muss.

Truhe

Zitat von: Abe81 am 30. August 2012, 14:11:57
Entschuldigt wieder diesen Roman. Ich habe mich schon sehr zusammengerissen, nicht noch mehr zu schreiben und auch nicht zu kompliziert. Ich gelobe Besserung, fürchte aber, daß das bei diesem Thema nur schwer geht.

ZitatEs wird die Frage gestellt, ob das alles noch verständlich ist.

Das hier geraunte 'Nicht-Verstehen' liegt natürlich auch daran, daß mit einer Menge Lektüre und Quellen um sich geworfen wird, die man gelesen haben muss/sollte; das ist natürlich voraussetzungsreich und damit potentiell unverständlich für viele. Aber die Kehrseite wäre leider eine Verflachung, die ebenso die 'Schlagkraft' der Argumente verflachen würde.

Nö nö, macht mal ruhig auf gehobenem Niveau weiter. Das passt schon, zumal die "Streit"kultur sehr gepflegt ist. Ich finde das spannend.  :police:
Insbesondere, da ich aus oben genannten Gründen oftmals vieles plausibel finde. Solange bis die Gegenargumente kommen und die wiederum plausibel sind. Dann komme ich mir doof vor, weil a) es mir nicht selbst aufgefallen ist und b) ich wieder merke, wie wenig ich weiß.  >:(

Ich staune nur, wieviel manch einer so weiß und gelesen hat. Das könnte ich mir beim besten Willen nicht merken. Die ganzen Leute, die ganzen Ismen...  :o :o
Hoffentlich bleibt vom Mitlesen wenigstens ein Hauch im Kopf hängen.

PaulPanter

ZitatHoffentlich bleibt vom Mitlesen wenigstens ein Hauch im Kopf hängen.
Bei sonne Textwand höre ich auf zu lesen. Bei der Ausdrucksweise sowieso.

Dr. Ici Wenn

Ich finde nicht, dass das Rincewind'sche Law schon gilt. Ich kann dem noch gut folgen und finde es recht konsistent geschrieben. Sind auch einige wirklich gute Änsätze dabei. Ich lese die Diskussion gerne weiter.

Truhe

Zitat von: Dr. Ici Wenn am 30. August 2012, 15:22:43
Ich finde nicht, dass das Rincewind'sche Law schon gilt. Ich kann dem noch gut folgen und finde es recht konsistent geschrieben. Sind auch einige wirklich gute Änsätze dabei. Ich lese die Diskussion gerne weiter.
Dito, habe es trotz Textwand gelesen. Hat einen roten Faden und nachvollziehbare Gedanken. Kein Vergleich zu z.B. Kristall-Andi...
Für den Service der Linksetzung an der Stelle mal einen Dank. Das erleichtert das Mitlernen. Falls Links komische Zeichen enthalten (insb. '#') dann markieren und das "Hyperlink"-Icon klicken (oder vorn "url" und hinten "/url" in eckigen Klammern rumschreiben). Dann funzen die besser.

bayle

@Abe81
Ich bin zum Ausgleich wieder etwas kürzer und bleibe bei meinem Hackstück-Stil. Der hat auch seine Vorteile.

ZitatDa Naturwissenschaft und Logik den Spielraum für Religion zunehmend eingeengt haben...
Das würde ich bestreiten.

Wie, die Entwicklung der Geologie, der Biologie (Evolution), der Physik haben den Spielraum für Religion nicht eingeengt?

ZitatWer sich mal ein Werk zum katholischen Dogmatismus vorgenommen hat und sich mit (Aussagen-)Logik ein wenig auskennt, wird erstaunt sein, wie konsistent das alles argumentiert ist. Die können das in sich auch so konsistent tun, da sie einen Allgemein- und Letztbegriff haben, nämlich Gott. Eine Prämisse, mit der alles steht oder fällt.

Nein, die theologische Logik (hier verstanden im allgemeinen üblichen Sinn), von Augustinus über Pasqual, Newman, Swinburne bis zu Ratzinger und Küng, ist gescheitert. Einzelheiten auf Nachfrage, ausführliche Zusammenfassung z. B. bei John Leslie Mackie, Das Wunder des Theismus, preiswert bei Reclam. Auch die Logik der Religionskritik hat sich entwickelt, von Lukrez über Locke, Hume und Kant, Feuerbach und Marx, Freud, Hans Albert, Dawkins und Hitchens. Wenn beides zusammen den Spielraum der Religion nicht eingeengt hat, welche Erklärung gibt es dann überhaupt für den Säkularismus?

Und selbst wenn das mit der formalen Logik korrekt wäre, so wäre doch der Punkt, dass Gott selbst nicht bewiesen werden kann, nicht völlig unerheblich: 
"Sätze von Systemen hängen aneinander wie Mitglieder von Verbrecherbanden. Einzeln überwältigt man sie leichter. Man muß sie also voneinander trennen. Man muß sie einzeln der Wirklichkeit gegenüber stellen, damit sie erkannt werden. ... Der Satz ,Der Regen fällt von unten nach oben' paßt zu vielen Sätzen (etwa zu dem Satz ,Die Frucht kommt vor der Blüte'), aber nicht zum Regen" (Bertolt Brecht)

Zitat... die Religion eine Brutstätte der Vernunft ...

Ja, eine, aber bei weitem nicht die wichtigste. Vernunft kann sich allenfalls als Reibung am Dogma entwickeln. Walter Brandmüller, Chefhistoriker des Vatikans und inzwischen Kardinal, meint (ich verkürze), dass eigentlich die Inquisition die Bedingungen für die wissenschaftliche Bedeutung Galileis geschaffen habe. Auf diese höchst dialektische Weise ist auch Adenauer am Bau der Berliner Mauer schuld. Außerdem springt die Religion als Brutstätte der Unvernunft ebenso ins Auge.

Zitat... die Geschichte der monotheistischen Religionen ist eine Verfallsgeschichte. Ihre Vermittlung über Vernunft ist im Judentum am stärksten ausgeprägt, im Protestantismus verkehrt sich das schon in eine Flucht in die Innerlichkeit ...

Das würde ich mir aber als Protestant verbitten. P. Stibbons, übernehmen Sie. Wieso sollte protestantischer Mystizismus gegenüber dem Katholischen Mystizismus ein Verfall sein? Über den jüdischen Mystizismus maße ich mir kein Urteil an, vermute aber, dass es ihn gab und gibt. Wieso überhaupt ist die weltabgewandte Innerlichkeit ein Verfall gegenüber dem äußerlichen Regelkorsett der Tora (Leviticus, = 3. Buch Mose)?

   
ZitatDialektik der Aufklärung (DDA)

Ich habe versucht, mich mit Deinem verlinkten Text anzufreunden, aber es ist mir nicht gelungen. Auch ich meine, dass diese Diskussion nicht allgemein interessant wäre und weit weg führen würde.

ZitatDas ist einer der zentralen Punkte, in der die modernen Aufklärer einen Kategorienfehler begehen

[Ich krieg das leider mit diesen geschachtelten Zitaten nicht so gut hin, ich hätte gern noch meinen Satz davor; bitte nochmal oben nachlesen.] Ich habe das Gefühl, nicht richtig verstanden worden zu sein.  Was ich hier referiere, ist die der Glaubensverteidigung zugrunde liegende Position. Sie findet sich mehr oder minder explizit in vielen Stellungnahmen von kirchlicher Seite. Mehr Einzelheiten auf Nachfrage. Nur die Darstellung in nuce ist von mir. Sie hat mit der Position der Aufklärung zunächst nichts zu tun.
   
ZitatTheologie schützt zumindest, dieser Ideengeschichte nach, vor gewissen anderen Weltanschauungen

Noch ganz abgesehen davon, dass es ja wohl verwegen wäre, die katholische Religion in ihrer Geschichte als Antidot für Antisemitismus zu begreifen: Die Ideengeschichte der Menschheit lässt sich nicht isoliert als Ideengeschichte erklären. Bereits Edward Gibbon (1737-1794) hat den untrennbaren Zusammenhang (man ist fast geneigt zu sagen, die Determiniertheit) der frühen Konzilsbeschlüsse mit der jeweiligen politischen Gemengelage schlagend nachgewiesen.  Die Selbststilisierung der Kirche als Hort der Toleranz muss nicht ernstgenommen werden, "relative Milde ist hier nur bei relativer Ohnmacht zu erwarten" (H. Albert). Die häufig beklagten Verzögerungen des "mea culpa" der Kirche hängen einzig an der normativen Kraft des Faktischen.

ZitatSo konnte, im Umkehrschluss, Stalin Massenmörder werden, weil er es weder besonders mit Marx, noch mit der Religion hielt.

Stalin konnte Massenmörder werden, weil er an seine persönliche Allmacht (also seine Gottesebenbildlichkeit) glaubte und im Besitz einer alleinseligmachenden Ideologie war, deren Wahrheit füglich nicht bezweifelt werden konnte.

bayle

Mein grundsätzliches Problem mit der Befürwortung der Religion (durch Nichtreligiöse) ist: wer immer sich für sie ausspricht (z. B. Habermas, Paulskirchenrede) - ist er nun Bekenner oder nur lauwarmer Sympathisant? Ist er - als Sympathisant - zu erhaben und zu klug, selbst an den lieben Gott zu glauben, aber hält an der Notwendigkeit des Glaubens für das einfache Volk fest, um es im Zaum zu halten? Ist das dann nicht doch ... so etwas ... wie Betrug?

ZitatDie verschiedenen Formen der Anbetung, die in der Römischen Welt vorkamen, wurden vom Volk als gleichermaßen wahr, vom Philosophen als gleichermaßen falsch und von den Magistraten als gleichermaßen nützlich angesehen. (Edward Gibbon)

Entscheidend ist letztlich die Frage nach den praktischen Schlussfolgerungen. Vor wenigen Jahren wurde in Israel das Hirntodprotokoll auf ultra-orthodoxen Druck hin verschärft, mit der Folge eines drastischen Rückgangs der Organtransplantation.
http://www.ncbi.nlm.nih.gov/pubmed/22594371
Tantum religio potuit suadere malorum, so viel Übles hat Glauben anzuraten vermocht (Lukrez).

Ridcully

Zitat von: bayle am 28. August 2012, 18:37:35
Bitte am Textbefund erläutern.

Tschuldigung, aber da hab ich keine Lust zu. Wenn du nicht von alleine erkennst, dass die Darstellung von Glauben im allgemeinen und der einzelnen Religionen in den  Buch platte Propaganda ist, dann werde ich dich davon wohl auch nicht überzeugen können.

Zitat von: bayle am 28. August 2012, 18:37:35Einem solchen Schriftsatz, der aus den unterschiedlichsten Autoren mit den unterschiedlichsten Ansichten eine einzige braune Soße macht, schließt Du dich an?

Ich hab mich den Aussagen speziell zum Ferkelbuch angeschlossen, dass er vorher und nachher recht problematisch argumentiert, was bräunliche Tendenzen im organisierten Atheismus angeht, ist richtig, tut insoweit aber nichts zur Sache.

Zitat von: bayle am 28. August 2012, 18:37:35Ich habe noch einen anderen Alibi-Juden:

Anders als Broder bringt der Zentralrat auch ein inhaltliches Argument und dient daher nicht als Autorität durch Judentum: alle drei Religionen würden genauso schlecht wegkommen. D

Zitat von: bayle am 28. August 2012, 18:37:35
Es wird Dich nicht überraschen, dass ich mich in der Diskussion eher auf säkularen Seite wiederfinde. Ich bleibe bei ,,unehrlich".

Diese seltsame Lagerdenken ist auch so was, was mir unangenehm aufstösst. Was um alles in der Welt ist die säkulare Seite? Bin ich jetzt automatisch auf der religiösen Seite, nur weil ich das Ferkelbuch dämlich finde, MSS für einen philosophisch unbegabten Demagogen, Dawkins für jemanden, der bei seinen Leisten bleiben sollte usw.?

Zitat von: bayle am 28. August 2012, 18:37:35
ZitatHitchens schafft es tatsächlich meist, selbst bei völlig unsachlicher Israel-/ Zionismuskritik noch irgendwie die Kurve zu kriegen

Die Überschrift des von Dir oben verlinkten Artikels aus Haaretz klingt da irgendwie anders: "Despite criticism of Israel, Hitchens was ardent foe of anti-Semitism"

Wieso, da steht genau das was ich sage: radikaler Antizionist, trotzdem (anders als viele) kein Antisemit.

Ridcully

Zitat von: Abe81 am 28. August 2012, 22:12:45Diese Methode des Heranziehens von 'Alibijuden' halte ich auch für zweifelhaft, die Methode des nimmermüden Antifa-Rechercheurs Bierl (der Autor des o.g. Jungle-Artikels)- am besten mit guilty by association zu bezeichen -   ist aber nicht minder schlimm. Erstere ist mir zu subjektivistisch, letztere zu assoziativ. 

Korrekt.

Zitat von: Abe81 am 28. August 2012, 22:12:45
In diesem speziellen Fall - dem Ferkelbuch - muss ich bayle aber zugestehen, daß seine 'Alibijuden' nicht nur als solche fungieren, d.h. der hier zitierte Broder ist nicht nur dekoratives Beiwerk, sondern beansprucht für sich, einiges vom Antisemitismus verstanden zu haben. Die übliche Funktion des sog. 'Alibijuden' ist es ja eher, dem Antisemiten zu bestätigen, er sei keiner, weil man ja schon so lange befreunde sei. Aber man hätte ja auch zitieren können, warum es lt. Broder nicht antisemitisch sei, sonst hat das den Beigeschmack eines Autoritätsargumentes.

Eben, der Alibijude ist ja eine Form des Autoritätsargumentes. So gehe ich davon aus, dass Broder nicht weiter argumentiert hat.

Zitat von: Abe81 am 28. August 2012, 22:12:45
Ich halte es da lieber mit Hannes Gießler

Bei dem wird auch klar, was Broder eventuell an dem Buch findet: Der Islam kommt vielleicht noch schlechter weg, da wütet gleich der ganze Mob und nicht nur Rabbi/Pfaffe.

Zitat von: Abe81 am 28. August 2012, 22:12:45
Mal interessehalber gefragt: Habt ihr das Buch eigentlich 'gelesen'? Ich habe es mal meinem Neffen geschenkt und war dann sehr überrascht, als auf einmal dieser kalkulierte Skandal der Indizierung seine Runde machte.

Ja. Und ich hab mich doppelt fremdgeschämt: erst für die beiden Autoren, dann für die Möchtegerzensoren.

Zitat von: Abe81 am 28. August 2012, 22:12:45Ich würde mich bei Dawkins nicht nur auf diesen einen Satz einschießen.  M.E. entspringt das fast mit Notwendigkeit seiner Art von Theoriebildung. Wer Religion auch als Priestertrug auffast, der muss natürlich auch auf politischer Ebene immer die Manipulationsthese aus dem Hut Zaubern, wenn es darum geht, Gesellschaftliches zu beurteilen - und überhaupt gingen die Sphären des Gesellschaftlichen und des Religiösen ineinander auf, seien quasi identisch. Wer ebenfalls - und auch recht widersprüchlich - behauptet, eine Gesellschaft (wie auch ihr Produkt Religion) sei durch 'Meme' konstituiert (vgl. gleichnamiges Kapitel in "God Delusion"), der verkürzt Ideengeschichte auf einen plumpen Strukturalismus; Geschichte ist hier immer nur als naturgeschichtlicher Prozess zu verstehen.

Wie gesagt, er sollte einfach bei der Biologie bleiben. Was er zu gesellschaftlichen Themen verzapft, ist einfach nur peinlicher Biologismus.

Zitat von: Abe81 am 28. August 2012, 22:12:45Finkelstein z.B. lehnt den BDS mit seinen Boykottforderungen ja nicht ab, weil es ihm moralisch fragwürdig erschiene, sondern weil die Boykott-Initiatoren ihm - ganz instrumentell und verschwörungstheoretisch gedacht - nicht geschickt genug vorgingen und in ihrer Radikalität verkennen, daß die Zionisten nunmal die Medienkontrolle hätten und man da mitspielen müsse, um gehört zu werden. (Hier das Interview, auf das du, Ridicully, dich wohl oben beziehst[?])

Also ich hab da nichts in der Richtung gehört. Er sagt die Boykottbewegung rede immer vom internationalen Recht, wolle aber tatsächlich Israel zerstören, was internationalem Recht widerspreche. Die israelische Propaganda habe da völlig recht. Die Forderung nach einem unbegrenzten Rückkehrrecht sei die Forderung nach der Zerstörung Israels. Er finde die Methoden von BDS völlig richtig, aber ohne Anerkennung Israels würden sie nie irgendwohin kommen. BDS habe immer eine neue Ausrede, Israel nicht anzuerkennen. Und er redet immer von "international public", und nicht etwa zionistisch kontrollierten Medien. Er macht einen äusserst genervten Eindruck.

Ridcully

Zitat von: bayle am 29. August 2012, 15:29:36Nebenbei wäre es vermutlich auch weder fair noch würde es als konstruktiv empfunden, wenn ich P. Stibbons oder Ridcully die mittelalterlichen Absonderlichkeiten des Heiligen Vaters vorhalten würde.

Jetzt bin ich schon vom Religiösen zum Katholiken befördert worden. *hier augenverdrehsmilie einsetzen*

Ridcully

Zitat von: Abe81 am 30. August 2012, 14:11:57Menschlichkeit/Menschheit kann aber kein empirisch gegenwärtiger Gegenstand sein, also keine begriffliche Abstraktion von allen existierenden Menschen.

Wieso nicht? Genau so ist es doch gemeint: das Verbrechen ist so groß und furchtbar, dass es nicht als Tat gegen die einzelnen Opfer, sondern die Menschheit als ganzes angesehen und verfolgt wird. Diese "Menschheit" ist nicht konkret, sondern so was wie z.B. Nation (oder vielleich auch Gott?), auch wenn sie sich natürlich auf die konkret existierenden Menschen bezieht.

Das Vertuschen der Sexualdelikte ihrer Angestellten durch die katholische Kirche als Verbrechen an der Menschheit gewertet sehen zu wollen, ist aber auch wieder so ein hysterisches Geschrei, welches bei mir Fremdscham erzeugt.

Ridcully

Zitat von: bayle am 30. August 2012, 20:33:24Auch die Logik der Religionskritik hat sich entwickelt, von Lukrez über Locke, Hume und Kant, Feuerbach und Marx, Freud, Hans Albert, Dawkins und Hitchens.

Also wirklich, willst du nicht vielleicht noch MSS einsetzen?

Zitat von: bayle am 30. August 2012, 20:33:24
Auf diese höchst dialektische Weise ist auch Adenauer am Bau der Berliner Mauer schuld.

Das ist er ganz objektiv auch. Hätte die BRD die DDR nicht als ihr eigenes Staatsgebiet behandelt und ihre Staatsbürger nicht als die ihrigen, hätte die DDR ihre Staatsbürger nicht einsperren müssen. Dann hätte die BRD sie nämlich ausgesperrt, wie sie es sonst bei Ausländern auch ganz gut kann.

Zitat von: bayle am 30. August 2012, 20:33:24Stalin konnte Massenmörder werden, weil er an seine persönliche Allmacht (also seine Gottesebenbildlichkeit) glaubte und im Besitz einer alleinseligmachenden Ideologie war, deren Wahrheit füglich nicht bezweifelt werden konnte.

Er war in der UDSSR tatsächlich praktisch allmächtig, für Gott hat er sich deshalb wohl nicht gehalten. Und der Wahrheitsanspruch des ML war kein religiöser, sondern ein wissenschaftlicher. Auch der Stalinismus war ein Kind der Aufklärung. Ebenso übrigens zumindest in Teilbereichen, gerade was den Rassismus angeht, der NS.

Ridcully

Zitat von: bayle am 30. August 2012, 21:29:40
Mein grundsätzliches Problem mit der Befürwortung der Religion (durch Nichtreligiöse) ist: wer immer sich für sie ausspricht (z. B. Habermas, Paulskirchenrede) - ist er nun Bekenner oder nur lauwarmer Sympathisant? Ist er - als Sympathisant - zu erhaben und zu klug, selbst an den lieben Gott zu glauben, aber hält an der Notwendigkeit des Glaubens für das einfache Volk fest, um es im Zaum zu halten? Ist das dann nicht doch ... so etwas ... wie Betrug?

Soweit ich mich erinnern kann, ging es Habermans um Toleranz zwischen Religiösen und Säkularen und eine verbesserte Kommunikation zwischen ihnen, die am Umverständnis der säkularen gegenüber religiösen Begründungen leide. Wer sich für Toleranz gegenüber religiösen Menschen, Ansichten, Handlungsweisen ausspricht, befürwortet deshalb noch lange nicht Religion. Toleranz ist das zu dulden, was man eben gerade nicht befürwortet. Sonst bräuchte es keine Toleranz.

Zitat von: bayle am 30. August 2012, 21:29:40
Entscheidend ist letztlich die Frage nach den praktischen Schlussfolgerungen. Vor wenigen Jahren wurde in Israel das Hirntodprotokoll auf ultra-orthodoxen Druck hin verschärft, mit der Folge eines drastischen Rückgangs der Organtransplantation.
http://www.ncbi.nlm.nih.gov/pubmed/22594371

Der "drastische Rückgang" drückt sich in 21.9 (2007-2009) auf 20.5 (2011) aus. Und es waren nicht die "ultra-orthodoxen", sondern das Oberrabinat. Das sind die Orthodoxen, die vertreten die überwiegende Mehrheit der israelischen Juden.

Das fand ich auch bei MMS Reaktion auf die Kritik am Ferkelbuch unangenehm: da wurde dann plötzlich die Synagoge (im Buch ausdrücklich so genannt) nachträglich zum Tempel erklärt, da richtete sich die wenig sympathische Darstellung des Rabbiners nur gegen die Ultraorthodoxen, während die große Mehrheit der Juden ja total säkulär und entspannt seien. Und dann verlinken die zur Illustration der Ultraorthodoxen auch noch ausgerechnet auf diese antizionistische Sekte aus New York, die selbst unter den ultraorthodoxen zu den Freaks gehören. Wenn das ihr Bild des Judentums ist, muss man sich über die Darstellung um Ferkelbuch freilich nicht wundern. Allerdings finde ich das doch durchaus ein stark verzerrtes und negativ besetztes Klischee, welches man durchaus antisemitisch nennen kann. Vor allem, da diese Fundis im Umkehrschluss für die Autoren doch offensichtlich repräsentativ für die religiösen Juden sind.



Abe81

Zitat von: Ridcully am 31. August 2012, 12:34:56
Zitat von: Abe81 am 30. August 2012, 14:11:57Menschlichkeit/Menschheit kann aber kein empirisch gegenwärtiger Gegenstand sein, also keine begriffliche Abstraktion von allen existierenden Menschen.

Wieso nicht? Genau so ist es doch gemeint: das Verbrechen ist so groß und furchtbar, dass es nicht als Tat gegen die einzelnen Opfer, sondern die Menschheit als ganzes angesehen und verfolgt wird. Diese "Menschheit" ist nicht konkret, sondern so was wie z.B. Nation (oder vielleich auch Gott?), auch wenn sie sich natürlich auf die konkret existierenden Menschen bezieht.

Wenn "Menschheit = Summe der Menschen", dann ist Genozid nichts weiter als die Formel "[Summe der Menschen] - [Anzahl ermordete Menschen]=[Neue Summe der Menschen]".  D.h. im Begriff "Menschheit" der juristisch kodifizierten "crimes against humanity", auf die Dawkins sich bezieht, steckt ein moralischer Überschuss.

@bayle: Ich schreibe bereits. Es wäre nett, noch kurz zu warten, sonst ginge das Ganze als Privatgespräch 1 (Abe & bayle), Privatgespräch 2 (Ridicully & bayle) aneinander vorbei, anstatt sich aufeinander zu beziehen.

Ridcully

Verstehe ich nicht. Der Begriff "crimes against humanity" soll doch rechtfertigen, warum diese Taten überall auf der Welt verfolgt werden können, und nicht allein nach dem positiv vor Ort jeweils geltendem Recht von den lokal zuständigen Behörden, die dazu nicht in der Lage oder meist eher nicht Willens dazu sind. Es ist eine Frage der Betroffenheit, sie gehen nämlich uns alle an, die gesamte Menschheit. Was du da für einen moralischen Überschuss reindeuten zu meinen musst (und wozu), ist mir nicht klar.