Ich will versuchen einige Mechanismen zu beschreiben an denen wir gescheitert sind - auch dies ist mehr ein Brainstorming.
Zunächst mal muss erwähnt werden, dass alle erzieherisch tätigen Gruppen sich auf einem schmalen Grad bewegen - sei es Kindergarten, Schule, Erzieher, ... etc. Würde man die Frage stellen "Ist Familie gefährlich?" kann man dies wohl auch nur mit ja beantworten. Die meisten Morde, Misshandlungen und Vergewaltigungen passieren im familiären Rahmen. Würden wir deshalb die Familie abschaffen? Selbst wenn wir das täten würden wir das Problem nur in die Heime verlagern.
Die meisten freikirchlichen Gruppen die ich kenne sind aus der Rebellion entstanden - kleine reformatorische Gruppen die mit den großen Kirchen unzufrieden waren. Wir waren eine reformatorische Gruppe die wiederum mit einer verknöcherten, unglaubwürdigen Freikirche nicht zufrieden waren. In der Rebellion liegt immer auch das Problem der Übertreibung - auch wenn unsere Kritik im Kern nicht falsch war kann Radikalität dies durchaus sein. Außerdem führt Übertreibung zu kleinen, aber fatalen theologischen Ungenauigkeiten und Überbetonungen.
Ein wichtiger Faktor ist auch Zeit und Wachstum einer Gruppe. Wir sind als kleine Gruppe gestartet, die mit viel Herz helfen wollten - teilweise waren unsere Mitarbeiter ehemalige Häftlinge und Drogenabhängige. Mit dem Wachstum kamen immer mehr Mitarbeiter die zwar die Methode kopierten aber nicht genau so viel Mitgefühl hatten wie die Gründer der Bewegung. Mit den nächsten Generationen bleibt dann nur noch die Methode ohne Menschlichkeit - die Bewegung wird gefährlich oder stirbt.
Am Rande erwähnt sei hier auch ein geografischer und geschichtlicher Aspekt - was unter Todesgefahr in der UDSSR logisch war - kann für die Gemeinde russischer Flüchtlinge in Deutschland genau das Gegenteil sein. Was vor 100 Jahren noch revolutionär war kann heute vollkommen verkehrt sein. Viele freikirchliche Gruppen verpassen schlicht den Zug.
Ein weiteres Problem an dem wir gescheitert sind waren kleine theologische Verschiebungen. Dazu ein Beispiel:
Die freikirchliche Theologie hält die Bibel nicht für eine Sammlung bildlicher Geschichten sondern, soweit nicht anders gekennzeichnet, für reale Geschichte - kurz: entweder ist das Buch halbwegs ernst zu nehmen oder die christliche Religion ist nur ein schönes Märchen. Muss man nicht toll finden, kann man belächeln, aber immerhin ein eher harmloser Standpunkt. In vielen freikirchlichen Gemeinden wird das wie folgt gelehrt "Die Bibel ist die Wahrheit und ist wörtlich zu verstehen". Was für die meisten hier wohl eher dumm klingt, klingt für den Freikirchler wie richtige Theologie, nur knackiger - doch er irrt sich, dieser Satz ist nicht nur verkehrt sondern brandgefährlich. Ich habe viel Leid und Idiotie in den Freikirchen gesehen, ausgelöst durch diesen Satz.
Warum? Zunächst wird hier prognostizierte Wahrheit mit der erfassten Wahrheit verwechselt. Selbst wenn die Bibel wahr wäre, muss man sie noch lange nicht verstanden haben. Ganz sicher enthält die Bibel auch nicht "die Wahrheit" - den Satz des Pythagoras wird man hier vergeblich suchen, darum ist er aber nicht falsch. Naturwissenschaft, Philosophie, Geschichte, Sozialwissenschaft (etc.) sind existenzieller Teil der Wahrheitsfindung und damit zwangsläufig des Christentums! Und dann auch noch das hier "die Bibel ist wörtlich zu nehmen" - was bitteschön soll das heißen?! Texte sind sehr flexible Gebilde, die interpretiert man, ob man will oder nicht. Ich gehe einen Schritt weiter: Nach Abwägung kann (muss - in kritischen Fällen) ein Christ auch gegen die vermuteten Wahrheiten der Bibel handeln wenn dies der bestmöglichen Erkenntnislage (aller Wissenschaften) entspricht, alles andere ist unverantwortlich und gefährlich. Dies folgt dem Grundsatz der Bibel: Der Mensch ist ein Wesen mit freiem Willen.
Als ich den Satz "Die Bibel ist die Wahrheit" das erste mal im Gottesdienst gehört habe, fand ich den etwas krass, aber eben nicht grundsätzlich theologisch falsch. Ich habe nicht darüber nachgedacht. Hat man ihn öfter gehört klingt er zunehmend harmloser. Irgendwann hat man das als "irgendwie richtig" gespeichert. Geht jemand hier demagogisch vor, kommt er sehr leicht zu einer Aussage die erschreckend ist: "Gott verlangt absoluten und blinden Gehorsam" - wenn ich nicht gegen die Bibel handeln darf ist das der Umkehrschluss. Dieser Satz ist übrigens genau so bei uns gefallen. Ich persönlich fand das verstörend, konnte aber nicht zurückverfolgen wo der Denkfehler liegt. Dazu kam die ständige Müdigkeit und Anspannung die sich aus unserm Engagement ergeben hat - da hat man wichtigeres zu tun als an theologischen Feinheiten zu basteln. Ich hätte auch aufspringen und widersprechen können - dann hätte mich der Vorwurf getroffen nicht blind Gehorsam zu sein: Quod erat demonstrandum ;-)
Ich weise darauf hin, dass dies nur ein kleines Beispiel ist was auch nicht auf alle Freikirchen zutrifft. In unserem Fall wurden außerdem weitaus mehr Tricks genutzt. Aber deutlich wird, dass der Schritt von "Jesus liebt dich" zu "Heil mein Sekten-Führer" gefährlich kurz sein kann. Nicht immer passieren diese Verschiebungen, wie bei uns, beabsichtigt. Viele Freikirchen oder einzelne Personen driften unbeabsichtigt ab. Auch muss das Ergebnis nicht immer gleich aussehen. Man kann mit ein wenig Theologie auch lallende und tanzende Massen erzeugen, die sich willig abmelken lassen. Wie immer weise ich auch darauf hin, dass nicht nur Freikirchen solche Probleme haben.
Ich bitte zu berücksichtigen, dass es extrem schwer ist, vor einem so kritischen Publikum die Mechanismen der eigenen Sekte zu beschreiben. Ich war lange genug Atheist, um zu begreifen wie lächerlich vieles klingen muss.