Wir meinen gerade alle das gleiche mit anderen Worten. Zurück zum Thema - sind Freikirchen gefährlich?
Hier ein Erfahrungsbericht:
Als ich mit einer freikirchlichen Jugendgruppe in Kontakt kam war ich selber Atheist. Die Lebensweise in dieser Jugendgruppe war anders, etwas schräg, aber durchaus attraktiv - in den 70gern und 80gern war schräg auch eher ein Prädikat. Die zugehörige Freikirche (der gemäßigt konservativen Bauart) war zwar selbst aus einer Rebellion entstanden aber für unseren Geschmack überfällig reformationsbedürftig. Wir waren alternativ, intern kontrovers, brillant, stock konservativ, sozial hoch engagiert und naiv in einem und wollten die ganze Welt (wie damals allgemein üblich) überzeugen. Schon damals vielen mir die Spannungsfelder auf die in einer solchen Atmosphäre enstehen - fand ich nicht ungewöhnlich, ich kannte Spannungsfelder auch aus allen anderen Lebensbereichen.
Später haben wir angefangen regelmäßig Strafgefangene im Gefängnis zu besuchen - zusammen mit allem was wir in den Freikirchen und Kirchen zusammentreiben konnten - eine 80 Jährige Oma mit Kuchen, der Unternehmer, ein paar Handwerker, Hausfrauen, ein Polizist, das "Rockzopfmädchen" mit Gitarre, und nicht zu vergessen, die zwei russischen Opas die Fernsehen für Teufelszeug hielten und ansonsten nicht viel zu sagen hatten. Das war alles total unprofessionell - aber da saßen manchmal bis zu 100 Strafgefangene und das waren die einzigen Menschen, außer den Angehörigen, die sie besuchen wollten.
Und mal ganz ehrlich, unterhalte dich mal mit der Frau im Knast in Köln Ossendorf über das alle Männer, einschließlich des Vaters, "drübergerutscht" sind. Da ist ein gelebtes "Kein Sex vor der Ehe" immerhin ein glaubwürdiger Lebensentwurf. Was sagt man, wenn man in der Forensik vor dem Kindermörder sitzt? Halt die Ohren steif? Jesus liebt dich? Da bekommt das Wort "Gnade" eine Bedeutung und alle Weltbilder fliegen gepflegt durch den Arsch hinaus.
Auch wir waren in der ganzen Welt unterwegs als Missionare. Haben wir die Kultur zerstört - vielleicht. Diese Frage stellt man sich aber irgendwie nicht mehr wenn mal gesehen hat wie sich Menschen in einer Stammesfede, einschließlich der Christen, gegenseitig zerhacken oder der Wärter in der Mongolei den Schlüssel für die bewohnte Zelle nicht mehr findet.
Viele Strafgefangene sind in dieser Zeit in unsere Familien gezogen - da verschwimmen die Grenzen zwischen richtig und falsch. Einen Heroinabhängigen kannst du während dem Entzug entweder bewachen und entmündigen oder er geht drauf. Ich habe lange mit einem Jungen auf einem Zimmer gelebt. Missbraucht von seinem Vater, einem Prediger einer Freikirche - herumgereicht in einem kölner Ring zur sexuellen Bereicherung von Politikern und Richtern. Aus meiner heutigen Sicht war das total bescheuert, wir hätten diesem Jungen nie helfen können. "Freikirche" war hier die Ursache und nicht die Lösung. Das war bei weitem nicht der einzige Fehler - bei uns gab es alles: Arroganz, Helfersyndrom, Selbstüberschätzung, religiöser Wahn, Fehlentscheidungen ... einiges haben wir erkannt und gegengesteuert, anderes nicht. Aber wir waren auch Freund, Arbeitgeber, Lebensberater, Ehepartner für Menschen die keine Chance mehr hatten.
Auch nach außen wird man nicht mehr verstanden. Wir waren Sekte und Vorzeigeprojekt, wir wurden beschimpft, weil wir die Kriminellen ins Dorf gebracht haben und bekamen Bundesverdienstkreuze an die Stirn getackert. Für andere Freikirchen waren wir das Böse in Person oder eine Inspiration.
Es gab noch eine andere Entwicklung: Einer der beiden Leiter arbeitete demagogisch ohne dass es jemand bemerkte. Geschickt hat er kleine theologische Verschiebungen und Schwächen einzelner Mitarbeiter genutzt. Die Vorgänge sind bemerkenswert und einem Außenstehenden nur schwer zu erklären. Mir fiel das auf als Mitarbeiter plötzlich ihren Job hinschmissen und wegzogen. Da vielen dann Worte wie "Verräter". Ich frage mich bis heute warum es bei mir nicht "Klick" gemacht hat - ein Telefonanruf hätte genügt um die Gegenseite zu hören. Das redet man sich irgendwie schön. Selbst als ich selber in den Fokus geraten bin habe ich das Ausmaß nicht begriffen - hier wurde in merkwürdigen Gruppensitzungen Gehirnwäsche betrieben (die haben mich richtig durchgewichst). Hoch interessant war, dass die meisten Teilnehmer nicht einmal merkten was sie taten. Ein Jahr hat es gebraucht bis ich die Reißleine gezogen habe - da hängt viel dran (Beruf, Lebenswerk, Freunde, Weltbild ...). Fünf weitere Jahre hat es gebraucht bis alle anderen gemerkt haben was hier passiert.
Auch das muss man erwähnen: Es wurde dann sehr schnell reagiert - Gehirnwäsche ist nicht teil der christlichen Theologie.
Ich bin ein Opfer. Aber mir ist auch nicht entgangen, dass ich auch Täter bin. Auch ich war Freikirche und habe andere überfordert - wenn auch nicht in böser Absicht.
Ist Freikirche gefährlich? Haben wir das Richtige oder das Falsche getan? Ich kann es nicht sagen - wenn ich heute mit Freunden zusammensitze, sehe ich die Kinder von Menschen die ohne uns gescheitert wären und verbrannte Mitarbeiter - deren Mut und Einsatz keiner kennt. Sollten wir es je in einen Wikipedia-Artikel schaffen, was wird man über uns schreiben?