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Putschversuch in der Türkei

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Begonnen von Scipio, 16. Juli 2016, 10:36:43

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Bloedmann

Hakt mein Ironiesensor oder Deiner? :P
Es gibt so viele Dinge im Leben, die wichtiger sind als Geld... aber sie kosten so viel! Groucho Marx

Sauropode

Dass man nach dem Putschversuch derart schnell ausgemacht haben will, wer im Justizapparat mit involviert ist, impliziert irgendwie, dass schon vorher bekannt war, wer unter den Richtern unerwünscht ist. Es mag eine VT sein. Komisch ist es aber trotzdem.

Bloedmann

Die Sache stinkt eigentlich dermaßen bis zum Himmel, daß einem die Ironie da schon im Halse stecken bleibt. Und die Betroffenen die da dank der [ironie]überragend schnellen Ermittlungsergebnisse[/ironie] massenweise hinter Gitter gewandert sind, können angesichts der drohenden Todesstrafe am allerwenigsten drüber lachen.

Diesen Amateur-Putsch würde ich dem Erdogan nicht in die Schuhe schieben, aber allzuviel nachhaltiges Entsetzen seinerseits kann ich auch nicht erkennen.
Es gibt so viele Dinge im Leben, die wichtiger sind als Geld... aber sie kosten so viel! Groucho Marx

MrSpock

Zumal die Richter alle ohne ein geregeltes Verfahren abgesetzt wurden. Das ist doch der eigentliche Skandal. Erdogan nutzt die Situation schamlos aus, um seine Macht zu stärken und die Kritiker zu beseitigen bzw. Mundtot zu machen - und zwar weit abseits von allen Regeln der Demokratie. Der EU fällt nichts anderes ein, als den Putschversuch als undemokratisch zu verurteilen und gleichzeitig tatenlos zuzusehen, wie Erdogan undemokratisch seine Macht weiter ausbaut.

Na ja, ich bin gespannt, wie das mühsam erarbeitete Flüchtlingsabkommen und die Beitrittsgespräche zur EU weiter verlaufen. Auch über die Zugehörigkeit zur Nato wird neu diskutiert werden müssen, zumal Erdogan offen darüber nachdenkt, die Todesstrafe wieder einzuführen. Mal sehen, wie lange wir uns noch mit dem Ring in der Nase durch die Arena ziehen lassen.
Von allen Seelen, die mir begegnet sind auf meinen Reisen, war seine die menschlichste. (In Memoriam Groucho)

Zitat aus Star Trek II.

Typee

Zitat von: Sauropode am 18. Juli 2016, 07:28:53
Dass man nach dem Putschversuch derart schnell ausgemacht haben will, wer im Justizapparat mit involviert ist, impliziert irgendwie, dass schon vorher bekannt war, wer unter den Richtern unerwünscht ist. Es mag eine VT sein. Komisch ist es aber trotzdem.

Reine Spekulation, aber ich tippe mal: schwarze Listen gibt es schon länger, und das war jetzt die Gelegenheit, gründlich aufzuräumen. Dass der Staatsstreich inszeniert gewesen sei, denke ich weniger; aber ich halte es für gut möglich, dass er dem Sicherheitsapparat seit längerer Zeit als geplant bekannt war und, als es soweit war, sabotiert wurde.

The universe is under NO obligation to make sense to us
(Neil deGrasse Tyson)

Bloedmann

Es gibt so viele Dinge im Leben, die wichtiger sind als Geld... aber sie kosten so viel! Groucho Marx

lanzelot

Tatsächlich wirkt es so, als die Erdogan-Administration gut vorbereitet ist
Und dergeleichen wohl schon länger in Vorbereitung war
Nun bietet sich die Gelegenheit alle Kritiker und Unliebsamen auf einen Rutsch zu beseitigen
Journalisten, Richter, Staatsanwälte, Befürworter des Laizismus im allgemeinen....

Und der Allah-ist-Mächtig-Mob tobt, lyncht und jubelt, das wird auch bei uns noch lustig 
Wir sollten nicht vergessen, das Erdogan in weiten Teilen der Bevölkerung Zustimmung findet

Die sollte man mal mit den Pegida-Clowns zusammen bringen und schauen wer der bessere Wutbürger ist
Die Gewinner bekommen ein kleines Grundstück auf den Golan-Höhen, müssen sie aber selbst verteidigen (weiß gerade nicht mehr, von wem der Joke ist)

Scipio

Eine wie ich finde etwas seltsame Sicht auf den Putschversuch in der Türkei vertritt Rayk Anders: https://www.youtube.com/watch?v=kMhNNJb21pI

Bei ihm klinkt das so, als wäre das Militär ausschließlich um das Wohl des Staates besorgt. Reichlich naiv seine Sichtweise.

Metrobios

Zitat von: Scipio am 25. Juli 2016, 16:29:12
Eine wie ich finde etwas seltsame Sicht auf den Putschversuch in der Türkei vertritt Rayk Anders: https://www.youtube.com/watch?v=kMhNNJb21pI

Bei ihm klinkt das so, als wäre das Militär ausschließlich um das Wohl des Staates besorgt. Reichlich naiv seine Sichtweise.

Wenn die Theorie des säkulären Putsches stimmt (also wenn, entgegen Erdogans Behauptung, nicht die Gülen-Bewegung hinter dem Aufstand des Militärs steckt), dann wird das Militär wohl vor allem um das Wohl des Kemalismus besorgt sein.

Kemalismus bedeutet: Die Errichtung eines westlichen, laizistischen Staates in einer Region, die sehr stark vom Islam geprägt ist.
Kemalismus bedeutet: Regierung einer Ideologie über eine Bevölkerung, die diese Ideologie mehrheitlich ablehnt.
Kemalismus bedeutet: Ein weltliches Einparteienregime, das seine Gegner genauso gnadenlos verfolgt wie es eine islamistische Diktatur tun würde,
Kemalismus bedeutet: Errichtung eines türkischen Einheitsstaates, der Teile Kurdistans und Armeniens umfasst.
Kemalismus bedeutet: Gewaltsame Bekämpfung der kurdischen Unabhängigkeitsbewegung und Leugnung des Völkermords an den Armeniern (Mustafa Kemal Atatürk war General des Osmanischen Reiches).

Sehen wir den Tatsachen ins Augen: Das, war Erdogan jetzt tut, ist das, was das Militär im Falle eines erfolgreichen Putsches getan hätte - nur im Namen der entgegengesetzten Ideologie.

Scipio

Zitat von: Metrobios am 25. Juli 2016, 18:34:22
Sehen wir den Tatsachen ins Augen: Das, war Erdogan jetzt tut, ist das, was das Militär im Falle eines erfolgreichen Putsches getan hätte - nur im Namen der entgegengesetzten Ideologie.

Das befürchte ich auch aber es ist und bleibt Oberscheiße (Sorry für den vulgären Ausdruck). Was ich ebenfalls befürchte ist, dass das der Stabilität der Türkei und der Region nicht gerade gut tut, um es mal vorsichtig zu formulieren.

duester

Zitat von: Metrobios am 25. Juli 2016, 18:34:22
Sehen wir den Tatsachen ins Augen: Das, war Erdogan jetzt tut, ist das, was das Militär im Falle eines erfolgreichen Putsches getan hätte - nur im Namen der entgegengesetzten Ideologie.

Das erscheint mir sehr schwarz/weiß gedacht. Denn erstens wissen wir nicht, wie es nach einem erfolgreichen Militärputsch weitergegangen wäre: In Richtung Militärdiktatur oder in Richtung Rückkehr zum laizistischen, demokratische(ren) Staat, zu dem sich die Türkei bei Amtsantritt Erdogans und auch noch in den ersten Jahren seiner Präsidentschaft entwickelt hatte. Es ist auch möglich, dass militärische Führer bei Erdogan Radikalisierungstendenzen beobachtet haben, die in Frage stellen, ob er mit demokratischen Mitteln noch zu stoppen ist.

Zweitens ist Erdogans Abkehr von der Demokratie auch dann problematisch, wenn der Putsch den Grundstein für eine kemalistische Militärdiktatur legen sollte. Kaum jemand bestreitet, dass eine demokratisch gewählte Regierung das Recht und die Pflicht hat, die Demokratie gegen einen Umsturz zu schützen - eben in Form der Niederschlagung eines Putschversuchs durch loyales Militär und Polizei. Nur leitet sich daraus nicht diese überschiessende Instrumentalisierung des Putschversuches, die wir jetzt in der Türkei sehen, ab.

Und dass die Türken den Kemalismus mehrheitlich ablehnen, möchte ich in Frage stellen. Atatürk genießt in der Türkei fast kultische Verehrung (speziell in den schnell wachsenden Städten) und Erdogan ist zu Beginn seiner Präsidentschaft eigentlich mit dem Anspruch angetreten, der Religion mehr Geltung zu verschaffen, aber gleichzeitig die von Atatürk bestimmten Prinzipien der Staatsgründung zu wahren. Er wurde also mitnichten als Gegenentwurf zu Kemalismus gewählt. Diese vermeintliche Diskrepanz zwischen religiösem und säkularem Staat ist erst in den letzten Jahren auffällig geworden - im Rahmen der zunehmenden Paranoia und Megalomanie von Erdogan.

Metrobios

Zitat von: duester am 26. Juli 2016, 09:58:52
Zitat von: Metrobios am 25. Juli 2016, 18:34:22
Sehen wir den Tatsachen ins Augen: Das, war Erdogan jetzt tut, ist das, was das Militär im Falle eines erfolgreichen Putsches getan hätte - nur im Namen der entgegengesetzten Ideologie.

Das erscheint mir sehr schwarz/weiß gedacht. Denn erstens wissen wir nicht, wie es nach einem erfolgreichen Militärputsch weitergegangen wäre: In Richtung Militärdiktatur oder in Richtung Rückkehr zum laizistischen, demokratische(ren) Staat, zu dem sich die Türkei bei Amtsantritt Erdogans und auch noch in den ersten Jahren seiner Präsidentschaft entwickelt hatte. Es ist auch möglich, dass militärische Führer bei Erdogan Radikalisierungstendenzen beobachtet haben, die in Frage stellen, ob er mit demokratischen Mitteln noch zu stoppen ist.

Beschäftige dich mit den Abläufen nach Militärputschen allgemein (ob in Frankreich 1799, in Frankreich 1851, in Chile 1973, in Argentinien 1976, in Ägypten 2013 ...). Beschäftige dich auch mit den verschiedenen Putschen des türkischen Militärs im letzten Jahrhundert (das beginnt noch vor dem ersten Weltkrieg). Egal welcher Ideologie die Militärs angehören, so gibt es Demokratie nach einem Putschversuch erstmal nicht.

1980 putschte das Militär in der Türkei gegen eine konservative Regierung (ähnlich der Erdogans). Nach Abschluss der Militärdiktatur wurde zwar eine laizistische, kemalistische Verfassung erlassen, vorher wurden aber 45.000 Menschen (!!!) verhaftet, wovon laut Amnesty fas 50 zu Tode gefoltert wurden; auch wurden ganz offiziel 18 Menschen zum Tode verurteilt. Linke wie rechte Parteien wurden verboten, sogar die CHP, die Partei Atatürks - und das obwohl der Militärdiktator General Evren angeblich ein großer Bewunderer Kemal Atatürks war. Ein anderer Ergebnis der Militärdiktatur der 80er Jahre war der Verbot der kurdischen Sprache. Man sieht also: Es wäre nach einem Militärputsch mit größter Sicherheit in Richtung Diktatur gegangen, auch wenn am Ende wahrscheinlich ein kemalistisches System gestanden hätte.

Ich glaube aber, genauso wie du, dass Erdogan nicht mehr mit demokratischen Mitteln zu stoppen ist (zumindest nicht in absehbarer Zeit). Und nach den Säuberungen von Justiz und Armee haben auch die ihre Kontrollfunktion gegenüber der Regierung verloren. Nur ein Volksaufstand wie in Ägypten gegen Mubarak kann noch helfen; aber die Straßen sind fest in der Hand Erdogans.

Zitat von: duester am 26. Juli 2016, 09:58:52Und dass die Türken den Kemalismus mehrheitlich ablehnen, möchte ich in Frage stellen. Atatürk genießt in der Türkei fast kultische Verehrung (speziell in den schnell wachsenden Städten) und Erdogan ist zu Beginn seiner Präsidentschaft eigentlich mit dem Anspruch angetreten, der Religion mehr Geltung zu verschaffen, aber gleichzeitig die von Atatürk bestimmten Prinzipien der Staatsgründung zu wahren. Er wurde also mitnichten als Gegenentwurf zu Kemalismus gewählt. Diese vermeintliche Diskrepanz zwischen religiösem und säkularem Staat ist erst in den letzten Jahren auffällig geworden - im Rahmen der zunehmenden Paranoia und Megalomanie von Erdogan.

Ich habe einmal folgende Analyse der türkischen Gesellschaft gelesen: Die städtische Bevölkerung, die westlich geprägt ist, fordert traditionell eine Angleichung der Türkei an den Westen (was auch Atatürk dann durchgeführt hat), während die ländliche Bevölkerung Anatoliens von der wirtschaftlichen Entwicklung abgehängt wurde und die politische Entwicklung sowieso nicht nachvollziehen kann. Atatürk herrschte über einen Einparteienstaat, bei der nur die kemalistische CHP antrat, während der Islam einer staatlichen Kontrolle unterlag; beim Aufbau eines türkischen Einheitsstaates standen die Kurden im Weg, die bis heute diskriminiert werden (denen man bis heute auch den eigenen Staat verwehrt). Es ist klar dass bei freien Wahlen die mehrheitlich islamische Bevölkerung sich von der CHP abwendet und islamisch-konservative Parteien wie die AKP wählt ("orientalische" Parteien also, die sich der "Verwestlichung" des Landes entgegenstellen).

Bloedmann

Es gibt so viele Dinge im Leben, die wichtiger sind als Geld... aber sie kosten so viel! Groucho Marx

lanzelot

Ich finde das gar nicht so abwegig
Würde passen: Inhalt =Qualität der Forderung
http://www.der-postillon.com/2016/07/guelle-guelen.html



Belbo

@metrobius

....die Ähnlichkeit mit dem Iran finde ich auffallend, eine Gesellschaft die in zwei Teile zerfällt die nichts miteinander zu tun haben.Ob es besser wäre so ein Staatsgebilde aufzutrennen?


Zumal Güllen ja wohl auch Islamist ist, und daher vielleicht nur so gut rüberkommt, weil er aktuell nicht an der Macht ist.