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Epochales Scheitern

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Begonnen von Typee, 27. August 2015, 08:32:22

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Typee

Wahrscheinlich braucht man ein paar Jahrzehnte Abstand, um das offen zu sagen, was man von Beginn an ahnte:

http://www.welt.de/debatte/kommentare/article145676031/Was-von-Le-Corbusier-bleibt-ist-epochales-Scheitern.html?wtmc=google.editorspick?wtmc%3Dgoogle.editorspick&google_editors_picks=true

Wer es sich leisten konnte, war stets auf der Flucht vor solchen Quartieren. Früher hinaus ins Grüne, heute zurück in die gewachsenen Innenstädte. Das hatte Gründe.
The universe is under NO obligation to make sense to us
(Neil deGrasse Tyson)

RächerDerVerderbten

Der Flur...jeder Regisseur würde den mit Kusshand für die Darstellung des letzten Ganges eines zum Tode Verurteilten nehmen (Neonröhren kommen da auch immer gut).
If the only thing keeping a person decent is the expectation of divine reward, brother, that person is a piece of shit. Rusty Cohle

pelacani

Zitat1957 nahm Le Corbusier am irrwitzigen Hauptstadtwettbewerb Berlin teil, den Senat und Bundesregierung ausgeschrieben hatten. Fast die gesamte Bebauung zwischen Alexanderplatz und Potsdamer Platz, die den Krieg überlebt hatte, wurde zum Abriss freigegeben, erhalten bleiben sollten nur einzelne historische Bauwerke.
Interessante Angelegenheit. Senat und Bundesregierung haben Ost-Berlin zum Abriss freigegeben. Nun war das ja eine Zeit, in der selbst die SED zumindest offiziell noch lange nicht kapiert hatte, dass es mit der deutschen Einheit vorerst vorbei gewesen ist, aber trotzdem scheint mir der Vorgang ein wenig ungewöhnlich zu sein. Was war das damals für ein Wettbewerb, und wie war er politisch verortet?

sumo

es gibt ja in Berlin mehrere dieser "Wohnmaschinen", unter anderem gab es in Ost-Berlin das inzwischen abgerissene Mehlschwalbenhaus an der Mollstraße/Hans-Beimler-Straße (alias Otto-Braun-Straße). Eine Freundin wohnte dort drin, ich habe sie mehrmals besucht. Abgesehen davon, daß die Wohnungen alle nahezu gleich waren, Warmwasser aus Wand und Zentralheizung hatten, kam ich mir dort wie in einer Kaserne vor. Lange, entweder neonhell beleuchtete oder dunkle, Flure, Türen beiderseits. Die Anonymität in diesem Haus war haarsträubend, meine Freundin kannte nicht einmal ihre direkten Nachbarn, im fahrstuhl grüßte man sich meist nicht, das Ganze hatte was klaustrophobisches.

Omikronn

Sehr interessantes Thema, das errinert mich an das Pruitt-Igoe Projekt welches ein architektonisches Erbe von Le Corbusier war:
http://scienceblogs.de/frischer-wind/2010/06/07/pruittigoe-und-der-tag-an-dem-die-moderne-starb/

Dieses scheiterte quasi spektakulär.

Spannend finde ich wie das Leben der Menschen durch die Umgebung beeinflusst wird. Ich denke sowas wie Pruitt-Igoe passiert überall wenn die entsprechenden negativen Rahmenbedingungen vorhanden sind. Bei Le Corbusier denke ich, dass er ein weiterer Fall davon ist, dass ein eigentlich sehr Begabter Mensch sich überschätzt und durch seine Begabung in einem Feld seine erfolgreiche Denkweise auf alles andere überträgt, dabei aber nicht merkt dass er sozusagen falsch abgebogen ist. Vielleicht liege ich falsch und der Vergleich hinkt aber mich errinert dies irgendwie an das extremere Beispiel des Luc Montagnier, der einerseits einen Nobelpreis hat, aber trotzdem berechtigter Wiki-Kandidat ist.

Le Corbusier konnte m.M. nach schöne Möbel entwerfen, (Siehe den LC2-Sessel von 1929) aber keine Gebäude und schon gar nicht Quartiere oder gar Stadtteile. Aus meiner Sicht passen seine Gebäudeentwürfe allesamt nicht zu den Lebensgewohnheiten der Menschen.  Über Geschmack lässt sich sicherlich streiten aber für mich ist diese Art von architektur schlicht seelenlos und absolut unästhetisch.  Brutalismus finde ich demanch auch den passenden Begriff für diesen Stil.
Don't try to argue with idiots, first they tear you down to their level, then they beat you with their experience.

sumo

nun hat man mit dem Wohnungsbauprogramm der verblichenen DDR ein Programm auf die Beine gestellt, welches in erster Linie die grassierende Wohnungsnot zu beenden gedachte. Grundsätzlich ist das ja okay, aber auch dort haperte es -zumindest in späteren Zeiten- an einer adäquaten Umsetzung.
Es ist ja nicht so, daß "...die Plattenbauwohnung an sich..." keinen Komfort oder keinerlei Wohnqualität bieten würde, aber die Verdichtung ist ein Problem, welches man entweder ausgeblendet hat oder es den Planern schlicht egal war.
Man hat in Berlin riesige Neubaugebiete errichtet, und ich habe meine Kindheit in einem der älteren Gebiete dieser Art verbracht. Das war angenehm, man mußte nicht heizen, es gab viele Gleichaltrige usw. Dazu hat man eine leidlich funktionierende Infrastruktur hinzugebaut, aber erst längere Zeit nach dem Einzug. Das läßt sich ertragen....
Die in späteren Jahren errichteten Neubaugebiete allerdings hatten bereits schlechtere Grundrisse bei den Wohnungen UND auch bei der Anlage der Wohnblöcke, da wurde dichter nebeneinander gebaut. (In Zwickau wurde in einem bestehenden Wohngebiet zwischen zwei bestehende alte Blöcke ein neuer Block gesetzt, ebenso in Berlin).
Erhellend war, daß nach der Wende in der DDR viele Plattenbaubewohner recht schnell ihre Wohnungen verließen. Die kleinteilig in die Innenstädte gesetzten Lückenbebauungen wurden nicht so schnell verlassen, obwohl die Art der Wohnungen ähnlich war.
In Berlin hat man in einigen Gebieten die hohen Wohnblöcke zurückgebaut, also mehrere Etagen abgenommen, man hat sehr kleine Wohnungen zusammengelegt zu größeren Einheiten, und diese Gebiete sind dann wieder beliebter.

Vielleicht ist doch etwas an dem Spruch, den ich irgendwo mal las:
Man will nicht in kleinen Wohnungen in großen Häusern leben, sondern in großen Wohnungen in kleinen Häusern.

Typee

Zitat von: Omikronn am 28. August 2015, 13:29:43
Sehr interessantes Thema, das errinert mich an das Pruitt-Igoe Projekt welches ein architektonisches Erbe von Le Corbusier war:
http://scienceblogs.de/frischer-wind/2010/06/07/pruittigoe-und-der-tag-an-dem-die-moderne-starb/

Dieses scheiterte quasi spektakulär.

Spannend finde ich wie das Leben der Menschen durch die Umgebung beeinflusst wird. Ich denke sowas wie Pruitt-Igoe passiert überall wenn die entsprechenden negativen Rahmenbedingungen vorhanden sind. Bei Le Corbusier denke ich, dass er ein weiterer Fall davon ist, dass ein eigentlich sehr Begabter Mensch sich überschätzt und durch seine Begabung in einem Feld seine erfolgreiche Denkweise auf alles andere überträgt, dabei aber nicht merkt dass er sozusagen falsch abgebogen ist. Vielleicht liege ich falsch und der Vergleich hinkt aber mich errinert dies irgendwie an das extremere Beispiel des Luc Montagnier, der einerseits einen Nobelpreis hat, aber trotzdem berechtigter Wiki-Kandidat ist.

Le Corbusier konnte m.M. nach schöne Möbel entwerfen, (Siehe den LC2-Sessel von 1929) aber keine Gebäude und schon gar nicht Quartiere oder gar Stadtteile. Aus meiner Sicht passen seine Gebäudeentwürfe allesamt nicht zu den Lebensgewohnheiten der Menschen.  Über Geschmack lässt sich sicherlich streiten aber für mich ist diese Art von architektur schlicht seelenlos und absolut unästhetisch.  Brutalismus finde ich demanch auch den passenden Begriff für diesen Stil.

Mir schien das ein Thema für uns zu sein, weil es ein Beispiel für ein Top-Down-Denken ist, das von einer Idee ausgeht, die ihrerseits nie (selbst)kritisch überprüft wurde. Was für die Orthorektiker die Rohkost ist, war für Le Corbusier der Quader: das Gute per definitionem. Auf diese Art schon auch ein irrationales Überzeugungssystem.
The universe is under NO obligation to make sense to us
(Neil deGrasse Tyson)

Groucho

Zitat von: Typee am 28. August 2015, 16:54:02
Mir schien das ein Thema für uns zu sein, weil es ein Beispiel für ein Top-Down-Denken ist, das von einer Idee ausgeht, die ihrerseits nie (selbst)kritisch überprüft wurde. Was für die Orthorektiker die Rohkost ist, war für Le Corbusier der Quader: das Gute per definitionem. Auf diese Art schon auch ein irrationales Überzeugungssystem.

ZitatLe Corbusier hatte eigentlich nur 2,26 Meter Deckenhöhe vorgesehen, doch man zwang ihn, wenigstens den deutschen Sozialbaustandard von 2,50 Meter zu erfüllen.Das seltsame Maß für die in seinen Augen ideale Raumhöhe ergab sich aus seinem "Modulor" – noch so einer Kopfgeburt des Großmeisters. Der "Modulor" war ein von ihm aus den Maßen des menschlichen Körpers abgeleitetes Proportionsschema, das er zur Grundlage seiner Bauten machte. Deshalb sind die Mönchszellen seines berühmten Klosters La Tourette lediglich 2,26 Meter hoch und 1,83 Meter breit. Viele Gefängnisse bieten mehr Raum.


Er scheint den Menschen zwar als Form wahrgenommen zu haben, aber vergessen, dass der auch lebt und sich bewegt. Wenn man sich das liebreizende La Tourette anschaut,



möchte man eigentlich tatsächlich lieber in einem Knast leben.

Omikronn

Zitat von: Groucho am 28. August 2015, 17:06:42
möchte man eigentlich tatsächlich lieber in einem Knast leben.

+1. Von innen sieht es fast genauso aus wie das innere von Alcatraz, es fehlen nur noch die Gitter...

So zum Vergleich:

La Tourette:



Alcatraz:

Don't try to argue with idiots, first they tear you down to their level, then they beat you with their experience.

Typee

Zitat von: Omikronn am 28. August 2015, 17:53:04
Zitat von: Groucho am 28. August 2015, 17:06:42
möchte man eigentlich tatsächlich lieber in einem Knast leben.

+1. Von innen sieht es fast genauso aus wie das innere von Alcatraz, es fehlen nur noch die Gitter...

So zum Vergleich:


Der Herr im Bild ganz unten links, ist das der Abt?
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(Neil deGrasse Tyson)

Typee

Man lese sich einmal dieses Wortgeschepper durch: https://de.wikipedia.org/wiki/Sainte-Marie_de_la_Tourette

Mit solchem Gedöns mache ich aus jeder öffentlichen Latrine einen richtungweisenden Entwurf. Es mag ja sein, dass die bestürzende Kargheit gewissen mönchischen Lebensvorstellungen entspricht. Das war's dann aber auch schon.
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Typee

Und noch eins:

Vielleicht ist gerade das hier ein Schlüssel zum Verständnis der seltsam lebensfeindlich wirkenden Architektur von Le Corbusier:

ZitatDie lebenslange Faszination Le Corbusiers für Klöster und das Monastische ...
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Groucho

Zitat von: Typee am 28. August 2015, 19:13:59
Man lese sich einmal dieses Wortgeschepper durch: https://de.wikipedia.org/wiki/Sainte-Marie_de_la_Tourette

Mit solchem Gedöns mache ich aus jeder öffentlichen Latrine einen richtungweisenden Entwurf. Es mag ja sein, dass die bestürzende Kargheit gewissen mönchischen Lebensvorstellungen entspricht. Das war's dann aber auch schon.

Ja. Echt grandios:

ZitatLe Corbusier greift die Idee der Lichtmetaphorik des Abt Suger von St. Denis ,,per visibilia ad invisibilia" auf. Anstelle der in der gotischen Kathedrale vorhandenen diaphanen Füllwände entwickelt er das Prinzip des Ondulatoire, welches den vertikalen Lichtstreifen der vertikalen Fenstergliederung des gotischen Fensters, der unteren Wandzone entspricht. Bernhard von Clairvaux sieht nicht in dem Erlebnis des Lichts, sondern in der Reduktion auf das Existentielle - ,,per spiritualia ad invisibilia" - die wichtigste Voraussetzung für den Bau eines Klosters. Le Corbusier mit seiner Tendenz zum existentialistischen Minimalismus und zum Purismus greift diese Gedankenwelt auf und bereits in der ersten Skizze vom 4. Mai 1953 notiert er auf dieser zwei Gedanken zur Bauausführung ,,la promenade toit jardin" und ,,la rampe exterieur". Dieses Spätwerk Le Corbusiers ist geprägt durch die Vielfalt der Motive der Bewegung, eine reiche Bildsprache, sowie andererseits die Kargheit des Materials. Die Einsiedelei, der Drang alles auf das existentialistische Minimum zu reduzieren, vermittelt die Erfahrung des absolut Geistigen, der ,,fructus spiritualis". Das Purismusdenken Corbusiers beinhaltet schon im Frühwerk eine asketische Haltung in allen Bauten. Die Unité d'habitation in Marseille stellt nach dem Muster der Kartause eine Kombination von Gemeinschaftseinrichtungen und privater Wohnung dar. Was sich in Marseille ankündigte, was er in seinem kleinen Atelier und Cabanon in Cap Martin selbst erlebte, erfüllt sich im Klosterbau von La Tourette. Hier gelingt es Corbusier meisterhaft, seine Wahlverwandtschaft mit dem monastischen Leben in Raumvisionen zu fassen.

Wobei ich schon finde, dass er mit so Klosterbauten wenigstens keine Zeit hatte, Schlimmes für normale Menschen, die einfach angenehm wohnen möchten zu verbrechen, der Auftrag also eine gute Sache war.

Es ist ja ok, wenn so jemand seine Visionen etc. hat. Aber das Unschuldige ausbaden zu lassen geht gar nicht.


Sauropode

Nachahmer, oder wie soll man die bezeichnen, gab es leider genug, die damit Städte gestalten wollten.

sumo

kann man sich betrachten, in Halle-Neustadt.
Das ist für mich ein Beispiel völlig verfehlter Stadtplanung, trotz damaliger Wohnungsnot.

@Groucho, Dein Zitat erinnert mich an die Kritiker moderner Kunst:
http://www.amazon.de/Picasso-Scharlatan-Randbemerkungen-modernen-Kunst/dp/3784421024/ref=sr_1_1?s=books&ie=UTF8&qid=1440789606&sr=1-1&keywords=picasso+war+kein+scharlatan