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Die Genderdebatte

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Begonnen von Scipio 2.0, 07. Juli 2022, 12:59:49

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Gefährliche Bohnen

Man sehe und staune! Eine zivilisierte Debatte zwischen einer transfrauenden (Deirdre McClosky) und einer genderkritischen Philosophin (Kathleen Stock):


McClosky ist hier intellektuell allerdings eher enttäuschend (dabei ist sie nicht mal transaktivistische Hardlinerin). Viele Strohmänner, Whataboutismen, Non-Sequiturs, hinkende Vergleiche und Konstruktivismus. 
Muss man nicht unbedingt gesehen haben (keine wirklich neuen Erkenntnisse) aber ich tu es mal trotzdem hier rein, weil es ein bisschen ein Spiegel unseres Fadens hier in der Nussschale ist (und weil ich Kathleen Stock gut leiden kann und ich finde, dass sie ihre Argumente immer sehr nüchtern und sachlich rüberbringt).
"Ich muss an dieser Stelle gestehen: Ich mag Karpfen gar nicht." - Groucho
RIP

HAL9000

Zitat von: eLender am 07. März 2023, 00:16:44Kommt halt immer drauf an, wer und wie man "Gender" definiert...
Nach meinem Eindruck (kann mich aber auch täuschen) bezog sich der Begriff Gendermedizin anfangs
alleine auf die geschlechtsspezifische Medizin, bevor er von den Schwurblernm gekapert wurde.
Aber "Querdenker" war ursprünglich ja auch positiv besetzt.

zimtspinne

Zitat von: eLender am 06. März 2023, 23:34:24
Zitat von: HAL9000 am 06. März 2023, 00:38:37Was irgendwelche Institute definieren, ist mir relativ wumpe. Ich beziehe mich da rein auf die von mir zitierten (Fach-)Zeitschriften zum Thema (biologisch)geschlechtsspezifische Medizin.
Das ist halt nicht das ganze Bild. Natürlich wird da auch "seriös" (aka unideologisch) geforscht, aber nicht konsequent. Wenn sih schon ganze Institute mir Ruf so definieren, dann ist das mehr als nur ein Randphänomen. Ich bleibe auch bei meiner Aussage, dass so eine "Neuorientierung" dem Selbsterhalt dient. Ich kenne das aus eigener Anschauung aus einem anderen Bereich.

Zitat von: RPGNo1 am 06. März 2023, 08:10:40Ist dir aufgefallen
Ist mir erst mal nicht aufgefallen, aber das "Wortspiel" wundert mich nicht. Auch das kenne ich ich aus anderen Bereichen. Man will betonen, dass man Begriffe neu deutet ("Gender" oder auch "Kultur").

Zitat von: RPGNo1 am 06. März 2023, 08:10:40Was auch immer Frau Professor da an der Uni Innsbruck erforscht, es hat mäßig viel mit geschlechtsspezifischer/geschlechtergerechter/Gendermedizin auf naturwissenschaftlicher Basis zu tun.
In dem Interview hört sichg das aber erst mal nach klassischer Gendermedizin an, also der geschlechtsspezifischen Betrachtung medizinischer Belange. Erst wenn man Gender (Geschlechtsidentität) mit Sex (biologisches Geschlecht, auch Intersex) gleichsetzt, wirds schwurbelig. Das wird da scheinbar munter durcheinandergewirbelt.


ich quote mal alles, da sich das jetzt auf alles bezieht.

Diese Verwurschtelung (im doppelten Sinn, verwirbeln und verwursten) ist doch ein verbindendes Element und Leitsymptom aller Pseudo-Wissenschaft.
Das Kapern und Umdeuten von Begriffen ebenfalls.

Ich weiß nicht, ob der Begriff Gendermedizin (egal in welcher Schreibform) zuvor schon etabliert war in evidenzbasierter Medizin und Bedeutung.

Liest man 20 Jahre alte Fachartikel (oder älter), werden dort bereits Geschlechterunterschiede mindestens erwähnt und oft bereits herausgearbeitet (so ist das bei meinem Thema Depressionen gang und gäbe und es geht/ging sogar schon vor Jahren soweit, dass es spezielle Studien mit Einschlusskriterium weibliches Geschlecht gab.)

Allgemein im Bereich psychische Störungen ist das schon ganz ganz lange Thema. Und wurde auch nicht nur am Rande erwähnt. Sondern war auch durchaus im Fokus.

Nie gab es dafür einen Überbegriff wie Gender-irgendwas. Kann mich zumindest nicht erinnen.

Scheint mir also ein neues Phänomen zu sein, das entweder in der EBM neu geschaffen wurde oder aber eben doch auf ideologischem Mist gewachsen ist.... gediehen und ins Kraut geschossen definitiv, da lehne ich mich unbedenklich ganz weit aus dem Fenster.

Das Henne-Ei-Problem, was nun zuerst da war, der Überbegriff oder einfach nur geschlechterspezifische Forschung -ungelabelt-, wird nicht mehr aufgelöst werden können. Von hier aus.

Dass die ideologische Strömung so tut als sei das ganz was neues und ihre glorreiche Idee und Errungenschaft, kommt noch dazu. Und ärgert mich am meisten.
Auch Joseph Kuhn kam ja schon öfter damit an - wenn es um Nützlichkeiten aus den gender studies ging. Man kann da schon drauf Wetten abschließen, dass unter den Top 2 der gebrachten Beispiele garantiert die "Gendermedizin" ist.

Die ist aber eben nicht neu und nicht Errungenschaft der gender studies.


https://uni.de/redaktion/studiengang-gender-medizin

Zitatsteckt die medizinische Berücksichtigung von Ungleichheiten bei Mann und Frau im Krankheitsfall seltsamerweise noch in den Kinderschuhen.


Das ist eben eine mindestens halbe Lüge, denn wie gesagt, es wird schon seit vielen Jahren -gerade bei den psychischen Erkrankungen- ziemlich strikt zwischen Männern und Frauen unterschieden und sogar Kinder, Heranwachsende, alte Menschen (also das Alter) wird einigermaßen einbezogen.

Auch bei Themen wie Prävention/Prophylaxe, Lebensstil, Umgang mit Symptomen, Krankheiten ect sind die Geschlechterunterschiede schon ganz ganz lange Thema.

Sonst wüsste man gar nicht, was ja dort auch erwähnt wird, wie unterschiedliche die beiden Geschlechter darin ticken. Das kann man nur über einen längeren Zeitraum durch unterschiedliche Forschungsarbeit herausgefunden haben.

Auch Kabarettisten berufen sich übrigens gelegentlich auf Studien... schon lustig das alles. Wenns nicht so grotesk und verblödend wäre.
Frage mich beim Lesen schon: Wollen die mich hier verarschen?

BTW:

Sämtliche Artikel, in die ich mal etwas reingelesen habe (auf der Suche nach Gendermedizin aktuell und auf Ausbildung bezogen) war jedes Mal die Berliner Charité  genannt. Jedes verdammte Mal, egal ob Ärzteblatt-Artikel oder sonstige (medizinisch orientierten) Quellen.

Das ist das gleiche Phänomen wie der Voß/Mahr-Effekt.

Reality is transphobic.

HAL9000

Zitat von: zimtspinne am 07. März 2023, 16:36:16... Die ist aber eben nicht neu und nicht Errungenschaft der gender studies...
Ich denke, da sind sich du, RPGNo1 und ich einig.

zimtspinne

Zitat von: HAL9000 am 07. März 2023, 17:09:02
Zitat von: zimtspinne am 07. März 2023, 16:36:16... Die ist aber eben nicht neu und nicht Errungenschaft der gender studies...
Ich denke, da sind sich du, RPGNo1 und ich einig.

jetzt nur nicht übermütig werden  ;D


Hurra!

https://www.muenchen-klinik.de/unternehmen/forschung-studien-lehre/gendermedizin/#c71952

Ein Wohlgefallen auslösender Einführungstext einer Münchner Klinik.

Ob das daran liegt, dass alle in den Downloads-Fußnoten aufgeführten Profs männlich sind!?  ::)

Die rechtsseitigen Downloads/Quellen riechen schon wieder verdächtig nach Berliner Pionierin und den Vorworttext (mit Geschlechtsidentät, sensibel... oh dieses Wort kann ich echt nicht mehr lesen) ignoriere ich auch mal wohlwollend, stammt ja alles von der rechts unten aufgeführten Hildegard Seidl und eine Gleichstellungsbeauftragte muss nun mal so texten.

Und natürlich natürlich darf auch hier die Berliner Charite nicht fehlen. Wäre ja auch zu schön gewesen.

Immerhin hat man sich im Haupttext dann nicht wuschig machen lassen und sogar ein paar neue Begriffe angeboten, die mir gefallen.

geschlechterangepasste Versorgung
geschlechterdifferenzierte Auswertung
auch gegen weitreichende Genderkompetenzen bei den Ärztinnen und Ärzten hab ich nichts einzuwenden
Reality is transphobic.

eLender

Zitat von: HAL9000 am 07. März 2023, 13:44:38Aber "Querdenker" war ursprünglich ja auch positiv besetzt.
Passender Vergleich :-\

Zitat von: zimtspinne am 07. März 2023, 17:41:13Ein Wohlgefallen auslösender Einführungstext einer Münchner Klinik.
Hehe, das wollte ich auch gerade posten. Man findet es auch prominent bei der Suche (die aber ansonsten das ganze Elend verdeutlicht). Eigentlich ist das keine eigenständige Wissenschaft/Medizin, sondern nur eine Forschungsperspektive (wird auch so dargestellt). Und das, was da steht, ist so eindeutig das Gegenteil von dem, was die Gender Studies unter Geschlecht verstehen: ein rein soziales Konstrukt, das man beliebig umdeuten kann.

Die biologischen / psychologischen / medizinischen Unterschiede zwischen den Geschlechtern sind da, egal ob man es wahrhaben will oder nicht. Wenn man das ignoriert, dann fällt man zurück in die Steinzeit. Dabei verstehen sich die Geschlechtsideologen doch als die Speerspitze des Fortschritts. Sie sind es aber, die rückwärtsgewandt denken, was man in vielen anderen Bereichen auch sieht.
Wollte ich nur mal gesagt haben!

Juliette

Zitat von: zimtspinne am 07. März 2023, 16:36:16Liest man 20 Jahre alte Fachartikel (oder älter), werden dort bereits Geschlechterunterschiede mindestens erwähnt und oft bereits herausgearbeitet (so ist das bei meinem Thema Depressionen gang und gäbe und es geht/ging sogar schon vor Jahren soweit, dass es spezielle Studien mit Einschlusskriterium weibliches Geschlecht gab.)

Allgemein im Bereich psychische Störungen ist das schon ganz ganz lange Thema. Und wurde auch nicht nur am Rande erwähnt. Sondern war auch durchaus im Fokus.

Nie gab es dafür einen Überbegriff wie Gender-irgendwas. Kann mich zumindest nicht erinnen.

"Gender Medizin" aus Sicht der Männer gab es schon sehr lange, gerade in der Psychiatrie, da hast Du recht, das ist wirklich nichts Aktuelles:

ZitatMan erkannte in der Hysterie nur einen weiteren Beleg für die Neigung der Frau zu Wankelmütigkeit und Unglaubwürdigkeit: "Die Hysterie ist eine organische Krisis der organischen Verlogenheit des Weibes", schrieb der Philosoph Otto Weininger noch im Jahr 1903....
"Die ganze Erziehung der Frau muss daher auf die Männer Bezug nehmen. Ihnen gefallen und nützlich sein, (. . .) das sind zu allen Zeiten die Pflichten der Frau", glaubte bereits Rousseau zu wissen....
Mit einem Wandel der Geschlechterverhältnisse - nach 1900 wurden beispielsweise trotz erbitterten Widerstands immer mehr Frauen an den Universitäten zugelassen - verschwanden die hysterischen Patientinnen aus den Krankenhäusern Europas. Auch das Phänomen der ekstatischen Jungfrauen verflüchtigte sich - auf so wunderliche Weise, wie es gekommen war.

aus: https://www.sueddeutsche.de/kultur/hysterische-frauen-im-19-jahrhundert-wahnsinn-war-weiblich-1.1230420-0



eLender

Zitat von: Gefährliche Bohnen am 07. März 2023, 00:23:29Eine zivilisierte Debatte zwischen einer transfrauenden (Deirdre McClosky) und einer genderkritischen Philosophin (Kathleen Stock):

Habe mal angefangen, mir das anzusehen (bin aber bei der Transfrau hängen geblieben, schwer zuzuhören ??? ). Was aber sehr gut ist, ist das Eingangsstatement von Stock (ca, 7 min). Sie nennt die problematischen Positionen der Aktivisten (die nicht gleich mit den tatsächlich Betroffenen sind), und das sehr prägnant. Genau darum diskutieren wir hier die ganze Zeit. Sollte man sich immer mal wieder klar machen, bevor man hier was reinrotzt (Echokammer und so). Man kann ja sagen, dass das alles unproblematisch ist, aber damit ist die Debatte nicht beendet.

Es sind die Konsequenzen, die aus so einer Anschauung ("Geschlecht=Geschlechtsidentität") entstehen, die das Problem klar machen. Abgesehen davon geht es natürlich auch um die grundsätzlichen Fragen, was wir etwa über die Wirklichkeit sagen können und ob die (Natur-)Wissenschaften uns nur anlügen (wie man es immer wieder von den Ideologen hört). Ja, ich nenne das Ideologie, wenn man solche Dinge nicht diskutieren will, weil es gegen die nicht weiter belegte eigene Anschauung geht.
Wollte ich nur mal gesagt haben!

Peiresc

Zitat von: Juliette am 07. März 2023, 19:23:35"Gender Medizin" aus Sicht der Männer gab es schon sehr lange, gerade in der Psychiatrie, da hast Du recht, das ist wirklich nichts Aktuelles:
ZitatMan erkannte in der Hysterie nur einen weiteren Beleg für die Neigung der Frau zu Wankelmütigkeit und Unglaubwürdigkeit: "Die Hysterie ist eine organische Krisis der organischen Verlogenheit des Weibes", schrieb der Philosoph Otto Weininger noch im Jahr 1903....

Weininger hat einen extrem ausführlichen Artikel bei WP. Er hat mit 23 Jahren Selbstmord begangen und spielte (danach oder deswegen) mit seinen antisemitischen und misogynen Themenquark in der gesellschaftlichen Wahrnehmung eine gewisse Rolle, aber wohl eher nicht in der Medizin oder in der Philosophie.
Zitat von: WPFür geistesgestört hielt ihn die psychiatrische Fachwelt, für dubios die philosophische und für genial die literarische. Weiningers Ruf verbreitete sich durch ganz Europa.

Die Hysterie hat eine komplexe Begriffsgeschichte und einen durchaus ungesicherten nosologischen Status, der mit der Entwicklung der Psychiatrie allgemein zusammenhängt. Man kann sie nicht komplett unter Misogynie abhaken, denke ich; männliche Psychiatriepatienten sind insgesamt nicht besser gefahren. Und ich finde es schon komisch, dass zwar solche Fringe-Gestalten wie Weininger, aber weder Charcot noch Freud erwähnt werden.

Und Weininger war auch der Prophet des Nonbinären:
Zitat von: WPWeininger knüpfte an eine lange Tradition an, in der Androgynie als Natur des Menschen beschrieben wurde

Nochmal aus SZ:
ZitatAuch das Phänomen der ekstatischen Jungfrauen verflüchtigte sich

Nein, falsch.
ZitatSeit dem 1. März 1984 begann die Muttergottes der Pfarrgemeinde von Medjugorje jeden Donnerstag wöchentliche Botschaften zu geben, die dann der restlichen Welt weitergegeben werden. Da einige der Wünsche des Herren erfüllt worden waren -- wie Sie es selbst sagte  -- wurden die Botschaften ab dem 25. Januar 1987 auf einmal monatlich, und zwar jeden 25. des Monats, reduziert. Dies findet bis heute statt. Mirjana Dragicevic-Soldo, Ivanka Ivankovic-Elez und Jakov Colo hatten tägliche Erscheinungen bis 1982, 1985, bzw. 1998. Seit dann erscheint ihnen die Muttergottes einmal im Jahr und gibt eine Botschaft.
https://www.medjugorje.ws/de/messages/

Medjugorje hat inzwischen geschätzt 1 Mio Pilger jährlich.

Schwuppdiwupp

"Wenn der Taler im Kasten klingt, die Seele in den Himmel springt".

Oder so ähnlich ...
Ach, was weiß denn ich ...

eLender

Zitat von: Gefährliche Bohnen am 07. März 2023, 00:23:29hinkende Vergleiche und Konstruktivismus. 
Oh je, besser kann man sich nicht selbst zerlegen. "Man kann ja auch Rechtsanwalt werden, warum kann man nicht Frau werden?" Ich will auch Prof sein, das müsst ihr nun mal akzeptieren. Und das soll auch rechtlich so durchgesetzt werden. Es zählt halt nur, wie man sich selbst definiert. Das ist der platte Konstruktivismus, der vll. in einer Scheinwelt funktioniert, aber leider nicht in der Realität. Deshalb darf es die Realität ja auch nicht geben, alles nur eine Erfindung. Das sind immer die gleichen "Argumentationen", die aber nur "wahr" wären, wenn der Konstruktivismus "wahr" wäre. Aber es gibt ja nur kontruierte Wahrheiten (in einer konstruierten Realität). Wem das plausibel erscheint, der kann auch die Gravitation abschaffen.

Ein sehenswertes Gespräch, auch wenn die "XY-Frau" (sagt sie selbst) ein wenig gruselig schwer verständlich rüberkommt. Zeigt die Absurdität der Transaktivisten (die sich auf so eine Vorstellung berufen) und die gute Argumentation von Stock, die sich auf Belege / Evidenzen beruft. Die gibt es aber nur in einer Welt, die unabhängig von uns existiert. Man hat die Wahl.
Wollte ich nur mal gesagt haben!

Juliette

Mit Weininger bin hier wohl ich einer nicht zitierfähigen Quelle aufgesessen.

Zitat von: Peiresc am 07. März 2023, 20:53:28Und ich finde es schon komisch, dass zwar solche Fringe-Gestalten wie Weininger, aber weder Charcot noch Freud erwähnt werden.

Freud wird in dem Artikel sehr wohl zitiert, Charcots erotofotografische Studien werden ohne Namensnennung oder Nennung der Ovarienpresse beschrieben.
Siehe auch: https://de.wikipedia.org/wiki/Hysterie#19./20._Jahrhundert:_Charcot,_Freud_und_Breuer

ZitatNoch ein anderes Phänomen greift im 19. Jahrhundert um sich, von dem fast ausschließlich das weibliche Geschlecht betroffen war. Unter großem Interesse der Öffentlichkeit wurden seit den 1870er Jahren tausende Hysterikerinnen in die neu entstandenen Nervenheilanstalten und Krankenhäuser Europas eingewiesen. Hysterie wurde zur Frauenkrankheit schlechthin.

Ich glaube nicht, dass jemand behaupten würde, die ,,ekstatischen Jungfrauen" wären ganz verschwunden. Aber es sind eben nicht mehr tausende. Von den Millionen Fliegen Leuten, die nach Medjugorje rennen habe ich sowieso nicht geschrieben.

Grundsätzlich verstehe ich die Argumentation nicht, dass ,,bereits" vor 20 Jahren in medizinischen Fachartikeln Geschlechterunterschiede zumindest erwähnt wurden. Der menschengemachte Klimawandel wird bereits seit etwa 50 Jahren erwähnt – und wie weit sind wir gekommen? Dass Frauen schlechter bezahlt werden, wird seit noch viel längerer Zeit erwähnt. Und?

Ich verstehe auch das Argument nicht, dass Frauen und Männer zwar genetisch unterschiedlich sind, es in der Medizin aber so gut wie gar nicht darauf ankommen soll, sondern auf tausend andere Dinge (Alter, Gewicht etc.).

ZitatChristiane Tiefenbacher vom Wissenschaftlichen Beirat der Deutschen Herzstiftung weist auf eine besondere Tragik hin: "Viele Herzinfarkt-Todesfälle bei Frauen ließen sich vermeiden, würden die Herzinfarkt-Symptome richtig gedeutet – und so wertvolle Zeit gewonnen."

Der Körper sendet vor einem Infarkt oft Warnsignale aus. Neben geschlechterunspezifischen Anzeichen wie Schmerzen im Brustkorb, deuten bei Frauen vor allem Symptome wie Atemnot, ausstrahlende Schmerzen in der Brust, Ziehen im rechten Arm, anhaltende Müdigkeit, Übelkeit und Erbrechen sowie Schmerzen im Oberbauch auf einen Herzinfarkt hin.

Doch gerade ältere Frauen nehmen die Symptome oft diffus wahr. So empfinden sie statt eines starken Schmerzes im Brustkorb eher ein Druck- oder Engegefühl in der Brust, begleitet von Oberbauchbeschwerden, Übelkeit, Erbrechen, Schweißausbruch, Rückenschmerzen, Kurzatmigkeit und Müdigkeit.

Kardiologin Tiefenbacher weiß: "Übelkeit oder Erbrechen werden von den betroffenen Frauen nicht selten fälschlicherweise als harmlose Magenverstimmung gedeutet."

Aus: https://www.focus.de/gesundheit/ratgeber/herz/herzinfarkt-expertin-warnt-frauen-halten-symptome-fuer-harmlose-magenverstimmung_id_10422140.html

Oder:
ZitatDer Herzinfarkt gilt als typische Männerkrankheit. Deshalb erkennen Frauen, aber auch ihre behandelnden Ärzte, die Gefahr häufig deutlich später.

Aus: https://www.herzstiftung.de/infos-zu-herzerkrankungen/herzinfarkt/anzeichen

Ganz interessant auch das hier:

https://www.businessinsider.de/wissenschaft/gesundheit/grosse-studie-zeigt-ist-der-chirurg-ein-mann-sterben-patientinnen-oefter-a/

ZitatEine Studie zeigt, dass Frauen, die von männlichen Chirurgen operiert werden, häufiger Komplikationen erleiden und sogar sterben als jene, die sich denselben Eingriffen durch Chirurginnen unterziehen. Die im Dezember in der Fachzeitschrift ,,JAMA Surgery" veröffentlichten Ergebnisse beruhen auf den Analysen von mehr als 1,3 Millionen Patienten.
Die Ergebnisse lassen vermuten, dass geschlechtsspezifische Faktoren eine relevante Rolle beim Erfolg von Operationen spielen. ,,Wir haben in unserer Arbeit gezeigt, dass einige Patientinnen nicht ausreichend behandelt werden und andere durch das Raster fallen. Das kann schädliche oder sogar tödliche Konsequenzen haben", erklärte die Mitautorin Dr. Angela Jerath von der University of Toronto gegenüber dem ,,Guardian,,.

Sogar männliche Patienten hatten ein höheres Sterberisiko, wenn sie von männlichen Chirurgen behandelt wurden, fanden die Forscher heraus. Für die Studie untersuchten die Forscher Patienten aus Ontario, Kanada, die sich zwischen 2007 und 2009 einem von 21 häufig durchgeführten Eingriffen unterzogen hatten – wie einer Hüftoperation, einer Gallenblasenentfernung oder einer Herz-Bypass-Operation. Etwa die Hälfte der Patienten wurde dabei jeweils von einem Chirurgen des anderen Geschlechts behandelt.

Die Forscher fanden heraus, dass weibliche Patienten, die von einem männlichen Chirurgen behandelt wurden, ein um 32 Prozentpunkte höheres Sterberisiko, ein um 16 Prozentpunkte höheres Risiko für Komplikationen und ein um elf Prozentpunkte höheres Risiko für eine erneute Einweisung ins Krankenhaus aufwiesen als Patienten, die eine Chirurgin aufgesucht hatten. Auch männliche Patienten litten unter dem Eingriff eines männlichen Arztes: Bei ihnen war die Sterbewahrscheinlichkeit um 13 Prozentpunkte höher, wenn ein Mann operierte. ,,Chirurginnen machen irgendwas richtig – wir müssen herausfinden, was es ist, und es angehen", sagte Jerath gegenüber der Tageszeitung ,,USA TODAY,,.



Peiresc

Zitat von: Juliette am 08. März 2023, 10:39:09Freud wird in dem Artikel sehr wohl zitiert
Er wird erwähnt, soweit ist das richtig, aber er wird krass unterbelichtet. Charcot hat die Hysterie nicht erfunden, aber er hat sie untauglich - organisch - fehlkonzeptualisiert und damit einen ungünstigen Einfluss ausgeübt. Freud hat sicher die üblen Seiten Charcots übernommen; sein Modell der Psyche war hydraulisch. Falls das interessiert, Frederick Crews ist dazu sehr ausführlich und lehrreich (Kapitel 10 und 11 von Freud: The Making of an Illusion, 2017). Therapie interessierte Charcot gar nicht, sondern Klassifizierung, Zur-Schau-Stellung. Er lokalisierte die "hysterogene Zone" auf die Ovarien. 

Woran ich mich stoße, ist diese Auffassung, SZ, von Dir herausgegriffen:
ZitatNoch ein anderes Phänomen greift im 19. Jahrhundert um sich, von dem fast ausschließlich das weibliche Geschlecht betroffen war. Unter großem Interesse der Öffentlichkeit wurden seit den 1870er Jahren tausende Hysterikerinnen in die neu entstandenen Nervenheilanstalten und Krankenhäuser Europas eingewiesen. Hysterie wurde zur Frauenkrankheit schlechthin.

Das klingt ein wenig so, als hätten die Psychiater sozusagen mittels einer neuerfundenen Diagnose Treibjagden veranstaltet, um unschuldige Frauen einzufangen und zu bestrafen. Als Beleg dafür würde man wenigstens den Hinweis auf Statistiken zu Diagnosen in Irrenanstalten oder eine Auswertung zeitgenössischer Quellen erwarten, aber die Argumentation des Artikels ist eher frei assoziierend. Ich sage nicht, dass das völlig falsch ist, aber das ist dann ein etwas weiteres Feld als nur die stigmatisierte Nonne Anna Katharina Emmerick (wenn man darauf abfährt, dann sollte man auch die Therapien von Franz Anton Mesmer oder die Lourdes-Heilungen nicht hinten runter fallen lassen).

Mein Versuch, mich zur Geschichte der Hysterie zu belesen, war bisher nicht sonderlich erfolgreich. Die aktuelle feministische Literatur dazu bietet keine systematische Quellenauswertung, sondern eher die Illustrierung heutiger Ansichten mit historischen Beispielen (noch einmal: das muss nicht falsch sein, aber ein Nachweis der Richtigkeit ist es auch nicht). Konflikte hat es immer gegeben, und mit einer Blütenlese besonders gruseliger Auffassungen (z. B. Weininger) ist es dann nicht getan.

Zitat von: Juliette am 08. März 2023, 10:39:09Ganz interessant auch das hier:
Zitatdass Frauen, die von männlichen Chirurgen operiert werden, häufiger Komplikationen erleiden und sogar sterben als jene, die sich denselben Eingriffen durch Chirurginnen unterziehen. [...] Sogar männliche Patienten hatten ein höheres Sterberisiko, wenn sie von männlichen Chirurgen behandelt wurden
(Hervorhebung durch mich)

Die Studie deckt zunächst einen Fakt auf (im Fall, dass ihre Ergebnisse reproduziert werden können). Zu einer Ursachenklärung können ihre Daten nicht beitragen, dazu bräuchte man andere Designs. Unterstellen wir, dass sie valide ist, und spekulieren wir mal mit: Wenn bei männlichen Chirurgen weibliche und männliche Patienten ein höheres Sterberisiko haben, dann deutet das eben nicht auf einen misogynen Bias hin, sondern könnte eher mit der allgemein höheren Bereitschaft von Männern zu Risk-Taking-Behavior zusammenhängen. Wieso sogar?

Zitat von: Juliette am 08. März 2023, 10:39:09Der menschengemachte Klimawandel wird bereits seit etwa 50 Jahren erwähnt – und wie weit sind wir gekommen?
Ich würde nicht so viele Items in einem einzelnen Post berühren. Vor 50 Jahren befürchtete man den baldigen Kältetod der Erde. Immerhin hat sich ja wenigstens das Ozonloch aus der öffentlichen Wahrnehmung verabschiedet, wenn es nicht sogar kleiner geworden ist.

RPGNo1

ZitatSchon mal von ,,Antifeminismus" gehört? In letzter Zeit gab es um dieses Wort einige Aufregung, weil eine politische Stiftung – die Amadeu-Antonio-Stiftung, die auch durch staatliche Gelder unterstützt wird – eine ,,Meldestelle Antifeminismus" ins Netz gestellt hat. Bei dieser Meldestelle kann man jeden Vorfall anzeigen, den man in einem sehr weit gefassten Sinne als diskriminierend empfindet – und zwar, wie betont wird, als Frau, Queer- oder Transperson.
[...]
Ob das Hedwig Dohm gefallen hätte? Die Berliner Frauenrechtlerin hat nämlich das Patent auf das Wort ,,Antifeminist". Vor fast genau 120 Jahren hat sie das Wort salonfähig gemacht, in ihrer Schrift ,,Die Antifeministen. Ein Buch der Verteidigung". Darin versucht sie differenzierte Charakterbeschreibung der Männer, die sich der Emanzipation von Frauen entgegenstellen.
[...]
Gleichzeitig macht die Welt dort draußen zunehmend mit großer Eindeutigkeit klar, dass der Streit um Sprachsternchen ein reines Wohlstandsproblem sind. Wer in Berlins Ankunftszentrum schaut, der sieht, es sind überwiegend die Frauen, die mit ihren Kindern aus der Ukraine vor dem Krieg geflohen sind. Es sind meist die Männer, die geblieben sind, um zu kämpfen. In diesem Krieg wird die Geschlechterfrage wieder ziemlich eindeutig. Die Demonstrationen im Iran haben gezeigt, dass auch dort Frauen selbstbestimmt leben wollen, ihre Sittsamkeit nicht mehr von Moralwächtern verordnet bekommen möchten, sondern selbst die Entscheidung treffen wollen, ob sie mit oder ohne Kopftuch leben. Das männliche Mullah-Regime knüppelte die Proteste nieder, foltert und mordet bis heute. Und in Afghanistan ist inzwischen den Mädchen und jungen Frauen jeder Zugang zur Bildung wieder verwehrt.

https://www.morgenpost.de/kultur/article237821463/hedwig-dohm-neuer-antifeminismus-weltfrauentag.html

Peiresc

Zitat von: Peiresc am 09. März 2023, 10:03:55Konflikte hat es immer gegeben

Noch ein, zwei Vignetten dazu, um zu erläutern, was gemeint ist. Da gab es z. B. den Gynäkologen Isaac Baker Brown (1811–1873):
Zitat1865 wurde er Präsident der Medical Society. Im folgenden Jahre publizierte er das Werk: »On the curability of certain forms of insanity, epilepsy, catalepsy and hysteria in females« (Lond.), in welchem er als ein in einzelnen Fällen zur Heilung geeignetes Mittel die Clitoridectomie empfahl. Nachdem er diese Operation in einer großen Zahl von Fällen ausgeführt, wurde 1867, in der Obstetrical Society, eine Anklage gegen ihn wegen unwürdigen Verhaltens erhoben, die nach langer und stürmischer Diskussion (Lancet, 1867, I, S. 366; Med. Times and Gaz., 1867, I, S. 427; Brit. Med. Journ., 1867, I, S. 395) seine Ausschließung aus der Gesellschaft zur Folge hatte.

Pagel: Biographisches Lexikon hervorragender Ärzte des neunzehnten Jahrhunderts. Berlin, Wien 1901, Sp. 254-256.

Für Freud hatten selbständig denkende Frauen in krankhafter Weise ihre biologische Bestimmung verfehlt, und er bedauerte bei Berta Pappenheim, dass die Psychoanalyse nicht erfolgreich bei der Verhütung dieses Unheils gewesen ist. Eine seiner Patientinnen, Nina R., wurde zu dem berühmten Gynäkologen Alfred Hegar zur chirurgischen Kastration geschickt. Breuer protestierte gegen diesen gynäkologischen Skandal – Freud blieb stumm. Rudolf Chrobak (1843-1910), ein weiterer dieser gynäkologischen Messerwerfer, war einer der wichtigsten Zuweiser für den jungen Freud, und das funktionierte auch in der umgekehrten Richtung. Freud nannte ihn später ,,den vielleicht bedeutendsten aller Wiener Ärzte". (Crews, Kap. 15).