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@Stimmviechs Thesen zur Sinnlosigkeit der Forensik

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Begonnen von sweeper, 16. Januar 2014, 13:41:06

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sweeper

Zitat von: stimmviech am 28. April 2014, 19:40:17
Ich bezweifele,daß die ADHSler sich in Haft gut behandeln lassen.
Du hast insofern Recht, dass es immer Mist ist, wenn man eine an sich korrigierbare Entwicklung erst in der chronifizierten Endstrecke behandelt. Aber gerade hier eröffnet die medikamentöse Therapie mal echte Optionen, Abstand zur eigenen Impulsivität und Fehlbewertungen zu bekommen. Leider wirkt das MPH nicht bei allen Betroffenen.
ZitatGenerell bezweifele ich ,daß welche Therapie auch immer wirksamer ist als ein Gespräch unter Freunden. Unter Zwang aber wird jede Therapie zur verlogenen Veranstaltung.
Da hast du völlig Recht - aber gibt es im Knast ein aufrichtiges Gespräch unter Freunden?
Ja - die Forensik krankt grundsätzlich daran, dass man unfreiwillig dort ist - wo doch das Erfolgsrezept einer Therapie das geglückte therapeutische Bündnis ist.
Manche erkennen ja im Laufe der Zeit, dass man ihnen in so einer Einrichtung nichts Böses will. Aber wer ein familiäres Setting erlitten hat, wo es viel Gewalt und Übergriffe gab, der tut sich schwer, überhaupt Vertrauen aufzubringen.
With magic, you start with a frog and end up with a prince.
With science, you start with a frog, get a PhD and are still left with the frog you started with...


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stimmviech

Das hängt natürlich von der Institution ab.In "meiner" Forensik in den 80ern war alles außer Kontrolle und die Situation sicher gefährlicher als im Normalknast. Im Zugangshaus traute sich das Personal während der Zerschlagung der Stationsmöbel über Stunden nicht auf Station. Auch auf anderen Stationen ging es robust zu,es gab Schußwaffen und Stichwaffen auf Station. Und selbst im offenen Haus ging es gewalttätig zu,was einem 12-jährigen Mädchen aus dem Nachbardorf das Leben kostete. Der Mörder war das Stationsopfer,wurde zu meiner Zeit (ich wurde 1 Jahr vor dem Mord 1990 dauerhaft beurlaubt) täglich verprügelt,sogar ansatzweise unter den Augen der Therapeuten.Das störte die aber nicht,da seinerzeitiges therapeutisches Dogma war,daß die Patienten sich untereinander "auseinandersetzen" sollten. Der Mörder hat dann seine Aggressionen in einem Sexualmord ausgelebt. Ich vermute eher,daß es in der bayrischen Forensik gesitteter zugeht.

stimmviech

Aber nürlich will man den Forensikinsassen "Böses". Man will sie drinbehalten oder im Rahmen von verlogenen Ritualen entlassen.

sweeper

Zitat von: stimmviech am 28. April 2014, 20:03:56
Aber nürlich will man den Forensikinsassen "Böses". Man will sie drinbehalten
Bist du sicher? - ich schätze das so ein, dass man froh ist über jeden, den man entlassen kann - Überbelegung scheint ja ein verbreitetes Problem zu sein.
Zitatoder im Rahmen von verlogenen Ritualen entlassen.
Das ist Definitionssache.
Das Abitur =  "Reife"- Prüfung ist nach dieser deiner Definition dann auch ein verlogenes Ritual.
Die meisten sollte man auch noch länger drin (in der Schule) behalten, finde ich ;)

Aber du hast es doch selbst schon auf den Punkt gebracht: die Alternative wäre ein rigoroser Strafvollzug mit allen Härten ohne Würdigung der persönlichen Umstände.
Das ist ein anderes Ritual und anders "verlogen", weil es das fehlgeleitete, psychisch angeschlagene arme Schwein dem eiskalt berechnenden Schwerstkriminellen gleichstellt.
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sweeper

Zitat von: stimmviech am 28. April 2014, 20:00:08
Das hängt natürlich von der Institution ab.In "meiner" Forensik in den 80ern war alles außer Kontrolle und die Situation sicher gefährlicher als im Normalknast. Im Zugangshaus traute sich das Personal während der Zerschlagung der Stationsmöbel über Stunden nicht auf Station. Auch auf anderen Stationen ging es robust zu,es gab Schußwaffen und Stichwaffen auf Station. Und selbst im offenen Haus ging es gewalttätig zu,was einem 12-jährigen Mädchen aus dem Nachbardorf das Leben kostete. Der Mörder war das Stationsopfer,wurde zu meiner Zeit (ich wurde 1 Jahr vor dem Mord 1990 dauerhaft beurlaubt) täglich verprügelt,sogar ansatzweise unter den Augen der Therapeuten.Das störte die aber nicht,da seinerzeitiges therapeutisches Dogma war,daß die Patienten sich untereinander "auseinandersetzen" sollten. Der Mörder hat dann seine Aggressionen in einem Sexualmord ausgelebt. Ich vermute eher,daß es in der bayrischen Forensik gesitteter zugeht.
OK. So kann ich deine Statements besser einordnen.
Es wäre sicher lohnenswert, hier die 80er/ 90er Jahre mit heutigen Gegebenheiten zu vergleichen - und natürlich auch die unterschiedlichen Bedingungen in BRD vs DDR.

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Zum Vergleich der 80er Jahre mit heute hatte ich schon was auf twitter geschrieben, ich kopiere das hier mal rein.
A) Kurze Analyse der Leitenden Ärztin der Forensik Eickelborn, erstellt aus ihrem Auftritt in der Doku " Restrisiko" und einem Vortrag bei den Magus Tagen 2013( youtube) und der Selbstdarstellung der Anstalt auf der Internetseite.
Auffällig: Rationalisierende Grundhaltung im Sinne der Virginia-Satir-Kategorien.
http://nlpportal.org/nlpedia/wiki/Satir-Kategorien
Die erlittenen Mißhandlungen der Patienten thematisiert sie meinem Eindruck nach ( Doku Restrisiko) nur dahingehend, daß diese nicht sonderlich relevant für die Delinquenzentwicklung seien, geht ansonsten-auch wieder mein Eindruck- gefühlskalt über die elenden Kindheiten der Untergebrachten hinweg.
In einem Nebensatz am Anfang ihres Magus-Vortrags zweifelt sie die Relevanz von Empathie für die Kriminalitätsbegehung an.
Psychiater der 68-er Generation dagegen hatten neben der berufsbedingt zwangsläufigen " Blamer"-Kategorie ( Satir) immer einen starken Beschwichtiger-Anteil, der der jetzigen Leiterin und vermutlich mehr Psychiatern der Jetztzeit fehlt.
Die auf der Webseite der Anstalt erwähnten Therapien BPS und IBT unterstreichen, daß es hier einen Wandel gegeben hat.
Beide Therapien bestehen aus Modulen, von denen nur noch ein Teil auf das Vorführen von " Gefühlsfähigkeit" abhebt, der Rest besteht aus " Lehreinheiten" über menschliches Verhalten.

Ich gehe davon aus, daß die meist sehr jungen Therapeuten, die direkt mit den Patienten arbeiten, immer noch sehr stark auf die ganz unten in Teil C) aufgeführten Gefühlskriterien abheben. Der clevere Patient wird aber darauf achten, den Eindruck eines seine " Störung" kognitiv Verstehenden( natürlich im Sinn der Therapeutenvorgabe) zusätzlich so zu kommunizieren, daß es bei der Leitung der Klinik ankommt. Im Direktgespräch mit der Leiterin dürfen Gefühle dann nur dosiert vorgebracht werden, alles andere wird eine Rationalisiererin verstören. Sie ist übrigens meiner Vermutung nach als karriereorientierte Person nie so rational, die Vorgehensweisen der Forensik generell zu hinterfragen, beispielsweise dahingehend, daß ein Lügner eine Erfüllung der Ungefährlichkeitskriterien schauspielern kann. Und natürlich auch dagingehend, daß ein kognitives Verständnis seiner Störung einen Sexualstraftäter noch lange nicht vom Triebdruck befreit, genausowenig wie der Urschrei der 80er...

Zur Illustration des Unterschieds zu den 80ern: die seinerzeitige Direktorin der Anstalt war extrem emotional, Satir-Kategorie-technisch vielleicht noch am ehesten als Mischung zwischen Blamer und ein wenig Distractor zu beschreiben. Sie wollte Emotionen sehen, dann schrie sie " das finden wir ja großartig, wie Sie Sich hier eingelebt haben"( sie sprach von sich nur im Plural majestatis) , die Stimmung konnte aber auch schnell ins Aggressiv-Negative umschlagen. Gerüchteweise weinten die Sekretärinnen beim Diktat.

stimmviech

Zur DDR: über die dortige Forensik weiß ich nichts. Instinktiv vermute ich: es gab keine Extraanstalten,vermutlich handelte es sich bei den Patienten um klassisch schizophrene und "paranoid schizophrene" politisch Widerständler. Die "Persönlichkeitsgestörten" sind sicher alle im Knast gelandet. In den USA ist das übrigens genauso,die Forensik spielt da eine untergeordnete Rolle. An Hern Söring,der in Deutschland zig Chancen für weitere Tatbegehungen bekommen hätte,sieht man sehr gut den Vorteil eines klassischen hart-repressiven Vollzugssystems.

sweeper

Um aus der Fülle der Aspekte mal einen rauszugreifen:
es erscheint mir sinnvoll, zu diskutieren, ob Straftäter mit schweren Persönlichkeitsstörungen (um die scheint es dir ja zu gehen) in der Forensik bzw überhaupt erfolgreich behandelt werden können. Da gehen die Meinungen auch unter Fachleuten weit auseinander.
Darüber hinaus setzt Therapiefähigkeit voraus, dass jemand sich überhaupt verbal differenziert ausdrücken und sich selbst ausreichend reflektieren kann bzw hier lern-oder nachreifungsfähig ist.

Das Thema Ungefährlichkeitskriterien bzw Prognosegutachten finde ich besonders prekär:
damit wird den Gutachtern von der Gesellschaft generell eine Verantwortung auferlegt, die sie bei realistischer Betrachtung so nicht leisten können. Das einzige, was man vermutlich einigermaßen messen kann, ist, ob einer seine Impulsivität in den Griff gekriegt hat.
Den Bereich Gefühle finde ich in einem solchen Setting schon deshalb problematisch, weil die mit den elenden Kindheiten gelernt haben, ihre Gefühle aus Selbstschutz abzuspalten = zu dissoziieren.
Wenn man da therapeutisch rangehen wollte, bräuchte es geeignete Traumatherapeuten. :(
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sweeper

Hier mal eine Dissertation, die sich mit Wiedereingliederung nach Maßregel und ambulanter Nachsorge beschäftigt - natürlich geht es auch um Gefährlichkeitsprognosen und Rückfälle.

Muss ich selbst auch erst in Ruhe lesen.


http://duepublico.uni-duisburg-essen.de/servlets/DerivateServlet/Derivate-28123/Diss_Schmidt_Quernheim.pdf


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stimmviech

Ohne das jetzt alles gelesen zu haben: http://www.sgipt.org/lit/pabst/nedopil5.htm Zitat:  In allen Studien, in denen auch jene mit ungünstigem Risikoprofil die Möglichkeit hatten rückfällig zu werden, lag deren Rückfallrate nie über 50 % (Rusche, 2003;  Steadman, 1973; Thornberry & Jacoby, 1979; Dahle, 2004; Nedopil u. Stadtland, 2005). Die Rückfälle mit Gewalttaten lagen in allen Studien, auch in jener aus der Arbeitsgruppe des Autors, bei Probanden, die eine ungünstige Prognose erhalten halten, unter 20%.
Über 80% dieser Probanden wären als ,,falsch positive" in Einrich-[<276] tungen verblieben.
Die Prognosen sind also sinnfrei, daran ändert auch die Fleißarbeit der Doktorandin nichts. Und letztlich sagt sie ja, daß vieles noch unklar ist...
Das Lügen der Insassen ist also nicht deshalb nur selten in unangenehmen Rückfällen zu erleben, weil die Therapie/Prognose so toll ist, sondern weil statistisch auch von den " Gefährlichen" nicht sehr viele rückfällig werden, mit auffälligen Morden eben vernachlässigbar wenige.
Mich stört, wenn ein Staat verlogen ist( Dogma, eine sinnvolle Prognose sei möglich) und damit in einem wichtigen gesellschaftlichen Bereich, dem heute fast immer auch therapeutischen Strafvollzug, zum Lügen verführt. Den vordergründig grausamen US-Knast finde ich da ehrlicher und sympathischer. 

sweeper

Deine persönliche Meinung/Vorliebe für das US-System ist demnach mehr privater und autobiographischer Natur - egal, was die Daten sagen - oder?
Das mit der Verlogenheit habe ich noch nicht verstanden.
Ist es nicht eher so, dass derzeit ein gesellschaftlicher Trend zu mehr Sicherheitsbedürfnis besteht und man sich diese falsche Sicherheit von Expertenmeinungen erhofft?

Genau an dieser Stelle hat m.E. das psychodynamisch differenzierte Pfäfflin-Gutachten für Verwirrung gesorgt:
wie kann jemand, der die Befindlichkeit des G.Mollath so empathisch zu schildern weiß, dann doch zu dem Schluss kommen, eine ungünstige Prognose abgeben zu müssen? - Und welche Verantwortung trägt das Gericht in dieser Sache?
Pfäfflin hat sich auf zwei Punkte gestützt:
1. der Patient zeigt keinerlei kritische Distanz zu seinen eigenen Deutungen
2. er verweigert jede therapeutische Zusammenarbeit.

Ergo: Man weiß nicht, was in ihm vorgeht und kann daher nichts Entlastendes oder prognostisch Günstiges anführen. Aus ärztlicher Sicht ist der Zustand also unverändert. Ende der Durchsage.
Das Gericht hätte hier nun dennoch differenziert abwägen können: steht das alles noch im Verhältnis zur Anlasstat? - Es hat darauf verzichtet - war vermutlich nicht risikofreudig.

Hätte nun nach deiner Lesart G. Mollath in den normalen Knast gehört, und wenn ja: wie lange?
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glatzkopf

Hallo,

Zitatob einer seine Impulsivität in den Griff gekriegt hat
und was ist bei einer "Diagnose" "mangelnde Impulskontrolle"?

sweeper

Zitat von: glatzkopf am 29. April 2014, 16:26:39
Hallo,

Zitatob einer seine Impulsivität in den Griff gekriegt hat
und was ist bei einer "Diagnose" "mangelnde Impulskontrolle"?
Die gibt es isoliert ja so nicht. Da muss man nach den Ursachen schauen.
Z.B. müsste man u.a. auch an eine ADHS denken - da stehen die Chancen gut mit Medikation und Verhaltenstherapie.
Bei einem hirnorganischen Psychosyndrom sieht das schon schlechter aus..
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F. A. Mesmer

Zitat von: stimmviech am 28. April 2014, 16:43:49
Da s ist alles so absurd, daß ich Unglaube bei mittelschichtig sozialisierten Leuten verstehe. Die einzigen, die mich bisher verstanden haben, waren "' Halbkriminelle"( mit denen verkehre ich meistens) und " richtige " Kriminelle, auch aus anderen Ländern mit anderen Vollzugsdogmen.
deswegen kann ich das wohl gut nachvollziehen, was du so schreibst.

ganz banal:
aus soziologischer /sozialpsychologischer perspektive gibt es hinweise, dass es situationen gibt (kognitive dissonanz), in denen leute angelogen werden wollen. etwa, wenn sie die wahrheit nicht mögen. selbstbetrug, lebenslügen usw. sind da auch drin.

ich denke mir, da knastpersonal schnell mal auch schon mal in der freizeit allergisch auf "offene türen" reagiert, betteln die innerlich geradezu nach positiven erlebnissen auf arbeit, die sind naturgemäss rar. also wird das von denen die eben geübt sind schwächen zu nutzen, auch genutzt.

ich empfehle zum betrachterabhängigen "belogen werden wollen" diese doku.