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Papst erhebt Hildegard von Bingen zur Kirchenlehrerin

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Begonnen von Bloedmann, 09. Oktober 2012, 13:03:51

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celsus

Zitat von: P.Stibbons am 11. Oktober 2012, 17:29:00
Derzeit boomen ja Mittelalter-Märkte, Mittelalter-Musik und Re-Enacting vergangener Epochen.
Das passt auch zur Vergangenheitssehnsucht und der Hoffnung, dort etwas zu finden, was in unserer hektischen, sich rasant entwickelnden Umgebung zu fehlen scheint.

Diese Verrücktheiten wie Homöopathie nach Körbler oder Bach-Blüten oder "Edelsteine" knüpfen an dieses bunte Treiben an.
So eine sinnliche Komponente - wie Hühnersuppe, heiße Milch mit Honig und Holunderbeersaft.

Mit der sinnlichen Komponente hast du sicher recht, das ist ein ganz natürliches Bedürfnis.
Das mit der Mittelalter-Manie habe ich bisher eher als Kunstform gesehen, wie Theater oder Zirkus.
Zumal das ja eine rein synthetische Show ist. Zeitreisende aus dem Mittelalter wären vermutlich leicht verstört wenn sie das sähen   :D

Aber dass dadurch auch Bedürfnisse geweckt werden, abseits von selber Brot backen oder Schalmei spielen ... durchaus möglich - aber mit dem Zusammenhang habe ich mich noch nicht beschäftigt weil er mir nicht offensichtlich erschien.
The best thing about science is that it works - even if you don't believe in it.

celsus

Hm ... noch mal deinen Post gelesen und gemerkt dass das wohl nur ein Beispiel für die Sehnsucht nach Vergangenem ist.
The best thing about science is that it works - even if you don't believe in it.

Dr. Ici Wenn

@Stibbons und celsus: Interessante Gedanken.

Je nach Werkzeug, mit dem man an dieses Phänomen rangeht, erscheint es in etwas anderem Licht.

Kann noch einen Punkt hinzufügen: Denkökonomie. Neues als besser zu erkennen, bedarf immer einer Durchdringung des Themas, und das erfordert Anstrengung.

celsus

Zitat von: Dr. Ici Wenn am 11. Oktober 2012, 17:44:57Neues als besser zu erkennen, bedarf immer einer Durchdringung des Themas, und das erfordert Anstrengung.

In der Tat, ein spannendes Thema, gerade wenn es um festsitzende Fehlinformationen und Irrglauben geht. Darüber schreibe ich gerade einen längeren Artikel. Was einmal drin ist im Gehirn, lässt sich nicht so leicht mit neuen Informationen überschreiben.
The best thing about science is that it works - even if you don't believe in it.

P.Stibbons

ZitatDas mit der Mittelalter-Manie habe ich bisher eher als Kunstform gesehen, wie Theater oder Zirkus.
Zumal das ja eine rein synthetische Show ist. Zeitreisende aus dem Mittelalter wären vermutlich leicht verstört wenn sie das sähen   :D

Das stimmt nicht ganz - für manche hat sich das zu einer richtigen Passion entwickelt - man nimmt sogar einiges an Entbehrungen in Kauf.

http://www.furor-normannicus.de/ger/info/gewanderung.html
http://www.furor-normannicus.de/ger/info/about.html

Ob im Setting von Mittelaltermärkten auch "Alte Medizin" vermarktet werden kann, die Frage stellt sich mir zum ersten Mal.
Hier gibts nettes Markttreiben - einige Elixiere sind auch dabei  ;)

Erinnert ein bisschen an Flower-Power in neuem Gewand...

Zitat
gerade wenn es um festsitzende Fehlinformationen und Irrglauben geht.

Das, was neurotransmittermäßig emotional angenehm grundiert ist, bleibt grundsätzlich besser haften:
der staubtrockene deduktiv-analytische Modus ist leider "uncool".


P.Stibbons

Hab noch ein bisschen zur "Hildegard-Medizin" gesammelt - unser Wiki-Artikel ist ja spartanisch gegen das, was Wikipedia angehäuft hat...

http://de.wikipedia.org/wiki/Hildegard-Medizin#Historische_Grundlage

http://aamh.az/index.files/22.htm

ZitatFrom the end of the eighth century, we have the "Lorscher Arzneibuch", which has most probably been written in 795 in the monastery of Lorsch, a little town in the South West of Germany. It reflects medical practice of its time by giving 560 prescriptions in five volumes. The manuscript is preserved in the National Library of Bamberg in Northern Bavaria and was carefully edited in the late 1980s. It represents the first German compendium of pharmacy [1]

Around 830 we find a building plan for a monastery known as "St. Galler Klosterplan" because the document was found in a library in St. Gallen, Switzerland. Therefrom we know how a typical monastery was imagined. It was used from the ninth century as a model for monastery complexes to be built. It shows, what has been thought to be necessarily part of monks' life and it is interesting to note that the map contains the plan of a hospital including a herb garden. We find there a "mansio medici ipsius" as the physicians house, a "cubiculum valde infirmorum" for critically ill patients and a primitive pharmacy, the "armarium pigmentorum". Besides this building there are 16 beds where certain medicinal plants are described to be cultivated. Among those we find Lilium, Salvia, Ruta, Gladiola, Rosa, Rosmarinus, and Foeniculum.

A third medieval document of significant importance for the history of pharmacy is written in the form of a poem called 'Hortulus', authored by Walahfried Strabo (838-849), abbot at the island of Reichenau in the Lake of Constance, Southern Germany. Strabo described in 24 chapters medicinal plants from the viewpoints pf pharmacognosy and pharmacology. His recommendations agree with those of St. Gallen – the items mentioned in his poem include well known essential oil containing drugs like sage, rose, fennel, or mint along with others like poppy, lily, reddish or wormwood [2].

Those three documents represent almost all the documented knowledge from the German Middle ages before the year 1100. Then we find the outstanding work of Hildegard of Bingen which should be highlighted in this presentation...

...In retrospect, the medicine proposed by Hildegard of Bingen has to be regarded as state of the art in the 12th century...

... "Hildegard-Medicine" in the 21st century represents a typical example of current Complementary and Alternative Medicine. The methods most often rely on historical attempts which are able to impress the general public . In this particular case the proposed vicinity to Christian revelation adds some more credibility in the eyes of laymen not familiar with modern concepts of nutrition and phytotherapy. Other characteristics applicable to 21st century Hildegard therapy include the fact that it relies on the empirical findings of a single person and that it fulfils the desire of patients to get any spiritual aids in fighting disease...

Und:

http://www.berliner-zeitung.de/archiv/das--was-heute-als-heilkunde-der-aebtissin-hildegard-verkauft-wird--hat-nur-noch-wenig-mit-der-grossen-prophetin-des-hochmittelalters-zu-tun--wie-koennt-ihr-heilmittel-geben--ohne-eure-tugend-dazu-zu-tun--,10810590,9454970.html
Zitat
...Scholastica Steinle trägt den gleichen schwarzen Habit, der schon Hildegard kleidete. Die Ordensfrau, die im Festkomitee für das Jubiläumsjahr saß, nennt als ein wichtiges Ziel der Geburtstagsaktivitäten:

"Es geht darum, Hildegard aus dieser diffusen Randexistenz zu befreien, die irgendwo angesiedelt ist zwischen Kräuterhexe und Wahrsagerin."

Nicht blind zu glauben, sondern die Schriften Hildegards selbst lesen, rät Schwester Scholastica, und sie fügt hinzu: "Man muß sich darauf besinnen, daß sie zuallererst Benediktinerin war." In der großen Mainzer Ausstellung zum 900. Geburtstag der Heiligen begegnet man der "Hildegard-Medizinerin" nicht.
Dafür begegnet man einer starken Frau und Theologin, einer christlichen Komponistin und Schriftstellerin, die in ihrem Buch Scivias ("Wisse die Wege") schreibt: "So schaue denn, o Mensch, in dich hinein, Gott hat dir den besten Schatz gegeben, einen lebendigen Schatz, deinen Verstand." Und der wirkt, richtig angewandt, auch heute noch Wunder.

zwingenberger

@ Stibbons:

ZitatDerzeit boomen ja Mittelalter-Märkte, Mittelalter-Musik und Re-Enacting vergangener Epochen.
Das passt auch zur Vergangenheitssehnsucht und der Hoffnung, dort etwas zu finden, was in unserer hektischen, sich rasant entwickelnden Umgebung zu fehlen scheint.


Ja, dazu habe ich mal einen netten Kommentar gelesen. Darin wurde alles aufgezählt, was an mittelalterlichen Lebensverhältnissen zumindest unbequem war. Und dann folgte der schöne Satz:

"Und wenn Euch das alles noch nicht reicht, dann stellt Euch einfach vor, wie sie gestunken haben!"

;D

Bloedmann

Dummerweise gibt's noch kein Geruchs-TV beim History Channel. ;D
Es gibt so viele Dinge im Leben, die wichtiger sind als Geld... aber sie kosten so viel! Groucho Marx

Antitainment

Dann will ich mal meine wilde These zu alt=gut abgeben:

Der aktuelle Fortschritt und die aktuellen Erkenntnisse bewegen sich auf einem sehr hohen Niveau und sind für Laien und Otto-Normal-Verbraucher selbst für ein oberflächliches Basiswissen nur mit einem gesattelten Wissen zu erfassen. (siehe Denkökonomie vom Doc)
D.h. man muss schon mit Dingen wie Erkenntnistheorie, Wissenschaftstheorie, Funktionsweisen von Studien/Studiendesign etc. in Grundzügen vertraut sein, was wiederum mit Arbeit verbunden ist und vielleicht auch mit der Portion Glück an der richtigen Stelle mit der Suche zu beginnen. (Wer vielleicht zuerst bei den esoterischen/alternativen Erklärungsversuchen einsteigt, kann sich im Extremfall so stark verrennen, dass es schwer wird wieder den Ausgang zu finden)

Da sind "Shortcuts" oder simple Erklärungen wie "Das hat die Oma schon so gemacht"/"altes Wissen" leicht zu begreifen und vielen Menschen reicht die anekdotische Evidenz vollständig als Legitimation aus. (Siehe HP, Klosterwissen usw.)

Wobei ich vermute, dass dies heutzutage für eine zunehmende Anzahl an Personen nicht mehr ausreicht und daher pseudowissenschaftliche Erklärungen nachgereicht werden müssen, um eine wissenschaftliche/moderne äußere Fassade zu imitieren, bzw. in einem technologisch sehr fortschrittlichen Zeitalter zumindest eine selbstverliehene wissenschaftliche Legitimation vorzuspiegeln.
Das erinnert mich immer ein wenig an Kinder die im Kaufladen spielen. Sie haben beobachtet wie Erwachsene sich in einem Kaufladen verhalten und imitieren dieses Verhalten, wobei komplexere Vorgänge die außerhalb des Spiels unabdingbar sind, vollständig außen vorbleiben, bzw. nicht von Belang sind. Wichtig ist die Fassade und weniger der Inhalt, was bei Kindern selbstverständlich ist.
Ebenso imitieren Proponenten des Irrationalen mal plump und mal etwas raffinierter den wissenschaftlichen Ablauf.

Ende des küchenpsychologischen Ausflugs  ;D
Zahlen, Statistiken ... das ist alles total Sarrazin! Ihr müsst richtig fühlen! FÜHLEN! Darum geht es.

zwingenberger

Zitat von: Antitainment am 12. Oktober 2012, 10:44:55
Dann will ich mal meine wilde These zu alt=gut abgeben:
...


Wobei ich vermute, dass dies heutzutage für eine zunehmende Anzahl an Personen nicht mehr ausreicht und daher pseudowissenschaftliche Erklärungen nachgereicht werden müssen, um eine wissenschaftliche/moderne äußere Fassade zu imitieren, bzw. in einem technologisch sehr fortschrittlichen Zeitalter zumindest eine selbstverliehene wissenschaftliche Legitimation vorzuspiegeln.
Das erinnert mich immer ein wenig an Kinder die im Kaufladen spielen. Sie haben beobachtet wie Erwachsene sich in einem Kaufladen verhalten und imitieren dieses Verhalten, wobei komplexere Vorgänge die außerhalb des Spiels unabdingbar sind, vollständig außen vorbleiben, bzw. nicht von Belang sind. Wichtig ist die Fassade und weniger der Inhalt, was bei Kindern selbstverständlich ist.
Ebenso imitieren Proponenten des Irrationalen mal plump und mal etwas raffinierter den wissenschaftlichen Ablauf.

Ende des küchenpsychologischen Ausflugs  ;D

Klingt doch gar nicht schlecht. Dafür gibt es sogar Namen:

Richard Feynman nannte das Cargo Cult - Wissenschaft. Und Ben Goldacre hat den Begriff "Wissenschaftsparodie" geprägt.

Ich nenn's inzwischen "den Walach machen".

Dr. Ici Wenn

Zitat von: Antitainment am 12. Oktober 2012, 10:44:55
Ende des küchenpsychologischen Ausflugs  ;D

Der war nicht schlecht  ;D
Und zwingenberger hat Cargo Cult schon erwähnt, mir fiel das auch sofort ein. Das "Verrennen" hast Du auch gut beschrieben. Da wieder rauszukommen bedarf der Einsicht in die eigene Fehlbarkeit, oder vielmehr die Einsicht, dass unser Denken grundsätzlich nach einfachen Lösungsmustern strebt ("Denkökonomie"). Komplexere Zusammenhänge sind damit aber kaum mehr hinreichend - im Sinne eines simplen, aber brauchbaren Modells - erfassbar. Komplexe Systeme können nicht einfach erklärt werden. Irgendwer hat das sogar mal mathematisch bewiesen, mir fällt der Name grad nicht ein.

P.Stibbons

ZitatKomplexere Zusammenhänge sind damit aber kaum mehr hinreichend - im Sinne eines simplen, aber brauchbaren Modells - erfassbar. Komplexe Systeme können nicht einfach erklärt werden.

Und daher sind komplexe Begründungen für den Endverbraucher uninteressant - aus seiner Sicht streiten sich die Fachleute über etwas, das ohnehin undurchschaubar ist.

Daher reicht es auch meist aus, wenn ein dummer Journalist oder ein Ritalin-, Impf-, etc -Kritiker schreibt:

"XY wird von Experten kontrovers diskutiert!"

(= "doubt is our product" -> so Joseph Kuhn in seinen Analysen der Tabaklobby-Strategie, die sich diesen Satz auf die Fahne geschrieben haben)

Auch wenn die Kontroverse konstruiert ist oder längst zugunsten harter wissenschaftlicher Fakten entschieden wurde, reicht dieser kleine Satz aus als Einladung oder Legitimation, im Zweifelsfall dem eigenen Bauchgefühl zu vertrauen.
Da haben dann beim Endverbraucher die "sinnlichen" Angebote der Pseudomedizin die besseren Chancen:

"Klostermedizin" kann ja nur etwas Gutes sein: altbewährt, heilsam, sogar "sicher" im Sinne von irgendwie traditionell religiös verortbar.

Antitainment

ZitatUnd daher sind komplexe Begründungen für den Endverbraucher uninteressant - aus seiner Sicht streiten sich die Fachleute über etwas, das ohnehin undurchschaubar ist.
ZitatAuch wenn die Kontroverse konstruiert ist oder längst zugunsten harter wissenschaftlicher Fakten entschieden wurde, reicht dieser kleine Satz aus als Einladung oder Legitimation, im Zweifelsfall dem eigenen Bauchgefühl zu vertrauen.

D.h. also, dass der wissenschaftliche Betrieb größere Defizite in Sachen Öffentlichkeitsarbeit vorweist und zumindest an dieser Stelle die "Alternativfraktion" deutlich die Nase vorn hat?
Oder ist dies unbhängig davon, da komplexe Systeme nicht einfach so erklärt werden können, als dass sie der Öffentlichkeit leicht oder zumindest leichter zugängig sind.
Zahlen, Statistiken ... das ist alles total Sarrazin! Ihr müsst richtig fühlen! FÜHLEN! Darum geht es.

P.Stibbons

Was ich beobachte (und das bezieht sich hauptsächlich auf die Ritalinkritik):

von bestimmten Lobbyisten (eben Ritalinkritiker, aber natürlich auch die "Alternativ"-Fraktion, siehe CF) werden gezielt alle medialen Kanäle genutzt, um ins Gespräch zu kommen. Mit teilweise aufwühlenden Allgemeinplätzen (z.B.:"unsere" Kinder - als ob "die Gesellschaft" ein Recht auf "ihre Kinder" hätte...) wird dabei appellativ und sehr plakativ Webung für "naturnahe Alternativen" im Gegensatz zu "mechanistisch-kalt-ausbeuterischen Machenschaften" gemacht.
Jedes rationale Argument ist also schon von vorn herein verdammt, in die zweite (böse) Kategorie einsortiert zu werden ("reduktionistisch", "biologistisch")

Die über visuelle Medien transportierte "Argumentationsweise" zielt direkt ins Unterbewusste und arbeitet eher mit Bildern und Inszenierungen - siehe etwa Hüther und Precht mit magischen Lichtwirkungen. (Deshalb auch diese Filme, "Thrive" etc.)
Es werden also ganz bewusst assoziativ-emotionale Inhalte angetriggert.

CF ist da sogar noch recht überschaubar, denn er benutzt das geschriebene Wort.

Dr. Ici Wenn

Klassische Manipulationstechniken halt. Und die haben per Web einen weiteren, großen Schauplatz bekommen. Darum gibt es Psiram.