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MECFS ist keine erfundene Krankheit

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Begonnen von NeuroMD, 04. Dezember 2023, 22:59:23

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NeuroMD

Der Artikel zu Krankheitserfindungen https://www.psiram.com/de/index.php/Krankheitserfindung
beschreibt das chronische Erschöpfungssyndrom CFS oder auch MECFS als möglicherweise nicht eigenständige Krankheit. Die WHO erkannte bereits 1969 ME/CFS als neuroimmunologische Erkrankung, die hat einen eigenen ICD-Code G93.3. Als Mediziner sind mir klare Diagnosekriterien bekannt zur Abgrenzung von anderen Erkrankungen und Symptomen (Kanadischen Konsenskriterien (CCC) und die Internationalen Konsenskriterien (ICC). Nähere Infos findet man auch auf der Seite der Fachgesellschaft Deutsche Gesellschaft für ME/CFS unter www.mecfs.de.
Neben den internationalen medizinischen Leitlinien zu ME/CFS gibt es jetzt seit 2022 auch eine deutsche S3 Leitlinie mit klarer Anerkennung (Kapitel in der S3 Leitlinie Müdigkeit).

eLender

Das liegt möglicherweise daran, das der Artikel in einer Zeit angelegt wurde, als das noch nicht ganz klar diagnostizierbar war (ist aber nur eine Vermutung). Das ist ein Übersichtsartikel, aber leider fehlen da Belege. Ich habe spontan etwas aus der Zeit gefunden, als man das desease mongering thematisiert hat. Da steht ein Satz, der aber ggf. heute noch gültig ist:

ZitatDas Perfide daran: Es gibt viele der Leiden tatsächlich. Aber sie treten längst nicht so gravierend oder verbreitet auf wie von interessierten Kreisen behauptet. Oft ist die Diagnose zwar nicht völliger Nonsens, aber eben doch zu großen Teilen ein Geschäftsmodell.
https://www.sueddeutsche.de/leben/geldmacherei-mit-patienten-die-krankheitserfinder-1.1120684

Da fällt mir spontan die "Neuroborreliose" oder auch die "Multiple Persönlichkeit" (DIS) ein. Zu letzterer hatte ich neulich vernommen, dass die überaus selten sei, trotzdem sehr häufig diagnostiziert wird. Möglicherweise wird auch das CFS zu oft diagnostiziert.
Wollte ich nur mal gesagt haben!

Peiresc

Guten Abend,

Zitat von: NeuroMD am 04. Dezember 2023, 22:59:23Als Mediziner sind mir klare Diagnosekriterien bekannt zur Abgrenzung von anderen Erkrankungen und Symptomen

Was sind denn die Abgrenzungskriterien z. B. von der Fibromyalgie? Ich finde, Du solltest da noch ein bisschen ins Detail gehen. Das Bundesgesundheitsministerium meint (Text von 4/23):

ZitatDie Definition und Diagnose von ME/CFS ist aus verschiedenen Gründen schwierig. Dazu zählen die vielschichtige Symptomatik und das Fehlen eines etablierten Biomarkers. International werden verschiedene Kriterienkataloge zur Diagnose vorgeschlagen, die alle rein symptombasiert sind. Nach jüngeren Kriterienkatalogen zur Diagnose ist ME/CFS insbesondere durch das Leitsymptom der Symptomverschlimmerung nach Anstrengung (Post-exertional Malaise [PEM]) gekennzeichnet, hinzu kommen verschiedene Symptome wie eine schwere und anhaltende Fatigue, Schmerzen, Schlafstörungen und kognitive Störungen.  https://www.bundesgesundheitsministerium.de/fileadmin/Dateien/5_Publikationen/Gesundheit/Berichte/ME-CFS-aktueller-Kenntnisstand_Abschlussbericht_V1-0.pdf

Was davon ist operationalisiert und validiert?

Besonders interessant finde ich ja die ,,Symptomverschlimmerung nach Anstrengung". Ich äußere mal eine ketzerische Überlegung zur Vorgeschichte. Die ehrwürdige Fibromyalgie hat auch eine S3-Leitlinie, aber die war in gewisser Weise enttäuschend. Außer ein paar unspektakulären Antidepressiva, die ,,versucht werden können" oder ähnlich, bietet sie noch körperliches Training zur Behandlung an. Mit solchen Empfehlungen ist das so eine Sache. Die einen machen es sowieso, und die anderen machen es sowieso nicht. Hier scheinen sich die letzteren beim Kampf um die Aufnahme in den Symptomkatalog durchgesetzt zu haben. Ist weniger belästigend und verschiebt den Fokus wieder zum Behandler.

NeuroMD

Hallo, danke für die Gedanken dazu.
Der Verweis auf fehlende Biomarker des BMG erscheint mir ein wenig realitätsfern. Wenn ich an meine letzte Arbeitswoche denke, da hatten ca. 75% der Patienten Erkrankungen ohne Biomarker oder radiologischen Nachweis (Parkinson, verschiedene Formen von Kopfschmerzen wie Clusterkopfschmerz, Spannungskopfschmerz usw., Depression, verschiedene Formen neuropathischer Schmerzen, einige Formen von Demenz...).
Die Diagnosekriterien habe ich oben genannt, entscheidend in der Abgrenzung zu beispielsweise Fibromyalgie oder Tumorfatigue ist das Kernsymptom PEM (auf deutsch "Verschlechterung nach Belastung"), dass ich bei keiner anderen Erkrankung messen kann. Weder per in Studien üblichen BelastungsEKG (Cpet) an zwei aufeinander folgenden Tagen noch per in der Praxis einfacher umsetzbarer wiederholter Handkraftmessung.
Paper dazu zb:
https://www.mdpi.com/1648-9144/59/3/571

Darüber, ob die Erkrankung zu häufig oder zu selten diagnostiziert wird, kann ich keine valide Auskunft geben, die Autoren des Artikels sicher auch nicht. Es bleibt letztlich nur der Vergleich der Inzidenzen im internationalen Vergleich und zu systematisch erfassten Studienpopulationen zu den vergebenen Diagnosen.
Laut kassenärztlicher Bundesvereinigung war der zugehörige ICD-Code G93. 3 in Deutschland 500.000 vergeben worden. Das lässt sich jedoch nur schwerlich ins Verhältnis zu frühreren Inzidenzerfassungen mit 0,1-0,8% setzen, da die Pandemie die Fallzallen deutlich in die Höhe getrieben hat.

Peiresc

Zitat von: NeuroMD am 05. Dezember 2023, 14:46:20Der Verweis auf fehlende Biomarker des BMG erscheint mir ein wenig realitätsfern. Wenn ich an meine letzte Arbeitswoche denke, da hatten ca. 75% der Patienten Erkrankungen ohne Biomarker oder radiologischen Nachweis (Parkinson, verschiedene Formen von Kopfschmerzen wie Clusterkopfschmerz, Spannungskopfschmerz usw., Depression, verschiedene Formen neuropathischer Schmerzen, einige Formen von Demenz...).

Aber das ist schon ein wenig eine verwinkelte Argumentation. Alle diese Erkrankungen haben gut validierte Außengrenzen und sind nicht umstritten.

Nehmen wir mal diesen Einleitungstext von der autorisierten Quelle https://www.mecfs.de/
ZitatME/CFS – Myalgische Enzephalomyelitis / Chronisches Fatigue-Syndrom
ME/CFS ist eine schwere neuroimmunologische Erkrankung, die oft zu einem hohen Grad der körperlichen Behinderung führt. ME/CFS-Erkrankte haben oft eine sehr niedrige Lebensqualität. Ein Viertel aller Patienten kann das Haus nicht mehr verlassen, viele sind bettlägerig und schätzungsweise über 60 Prozent arbeitsunfähig. In Deutschland sind (präpandemisch) etwa 250.000 Menschen betroffen, darunter 40.000 Kinder. Weltweit sind es ca. 17 Millionen.*
ME/CFS-Erkrankte leiden unter einer ausgeprägten Zustandsverschlechterung ihrer Symptome nach geringer körperlicher und geistiger Belastung (sogenannte Post-Exertional Malaise). Dazu gehören eine schwere Fatigue (krankhafte Erschöpfung), kognitive Störungen, ausgeprägte Schmerzen, eine Überempfindlichkeit auf Sinnesreize und eine Störung des Immunsystems sowie des autonomen Nervensystems.

Leider wird hier nicht auf Belege verwiesen (mit Beleg meine ich empirische Studien, nicht Pressemitteilungen). Wer bettlägerig ist, ohne dass ein fassbarer organischer Befund vorliegt, wird wohl in der Praxis bisher zumeist als schwer depressiv ohne psychotische Symptome (F32.2) diagnostiziert worden sein.

Mehr Details erfährt man hier:
https://www.mecfs.de/daten-fakten/
Dort ist z. B. zur Lebensqualität zu lesen:
ZitatDer Graph veranschaulicht die niedrigen Werte des ,,Health-related quality of life (HRQOL)" nach Hvidberg et al. 2015.
Hvidbergs Methodik:
ZitatAll members of the Danish ME/CFS Patient Association in 2013 (n=319) were asked to fill out a questionnaire [...] From these, 105 ME/CFS patients were identified and gave valid responses.
Sie fühlen sich schlecht. Aber es ist dann wohl, wie soll ich sagen, etwas unklar, ob diese selbstselektionierte Stichprobe für die Grundgesamtheit der 17 Mio. Erkrankten repräsentativ ist und, nicht ganz unwichtig, wie die Validität geprüft wurde (oder auch nur, was damit gemeint ist: nur der Ausschluss offensichtlich unsinniger Antworten?).

Oder die ,,burden of disease":
ZitatIn Deutschland beziffern diese sich auf 158.000 verlorene Lebensjahre durch ME/CFS (Umrechnung der Werte aus den USA auf die deutsche Prävalenz).
Ich finde schon, dass es von diskret zweifelhafter Legitimität ist, in der Grafik eine Exaktheit zu simulieren.
Aber schauen wir uns die Quelle an, Dimmock et al. 2017 DOI: 10.15761/JMT.1000102:
Zitatthe primary causes of death among ME/CFS patients are cancer, heart disease and suicide.
https://www.oatext.com/Estimating-the-disease-burden-of-MECFS-in-the-United-States-and-its-relation-to-research-funding.php
Wiebitte? Hieß es nicht in den Kriterien
ZitatAusschluss anderer physischer oder psychischer Erkrankungen
https://mecfs-freiburg.de/pages/diagnosekriterien.html
? Wie verträgt sich das Ausschlusskriterium mit dieser Epidemiologie (die selbst keine empirische Erhebung, sondern eine narrative review-ähnliche** Hochrechnung aus eher kleinen Studien ist)?

Zur interessanten Abgrenzung zu CFS/Fibromyalgie meint mecfs.de:
ZitatDas Leitsymptom von ME/CFS ist die sog. Post-Exertional Malaise – eine Verschlechterung der gesamten Symptomatik nach Aktivität, auch oft ,,Crash" genannt. Sie kann schon nach kleinen Aktivitäten wie Zähneputzen, Frühstücken oder Einkaufen auftreten. Oft geht die Post-Exertional Malaise mit einem rapiden Abfall des verbliebenen Leistungsniveaus einher. Die Post-Exertional Malaise kann jeweils tage- oder wochenlang anhalten oder zu einer langfristigen Zustandsverschlechterung führen.
https://www.mecfs.de/faq-haeufig-gestellte-fragen/#diagnose_und_therapie
Also wer nach einmaligem Zähneputzen so erschöpft ist, dass er wochenlang im Bett bleiben muss, sollte als ,,ME/CFS" diagnostiziert werden? Müssen die Erkrankten dann nicht konsequenterweise mit Magensonde/PEG ernährt werden?

Ich habe auch noch eine Frage zur Terminologie. ,,Myalgie" heißt übersetzt ,,Muskelschmerz", und Enzephalomyelitis bedeutet ,,Entzündung des Gehirns und des Rückenmarks". Eine Entzündung des Gehirns und des Rückenmarks ist klinisch charakterisiert durch neurologische Symptome (Lähmungen, Hirnnervenstörungen, Augenbewegungsstörungen, epileptische Anfälle; psychopathologisch: Bewusstseinstrübung, Verwirrtheit, ev. Halluzinationen). Je nachdem, welche Ätiologie dahintersteht und welches Hirnareal betroffen ist, muss auch mit einer Letalität gerechnet werden. Bildgebend sind MRT-Veränderungen – quasi obligatorisch – zu erwarten. Schließlich müssen im Liquor charakteristische Zeichen zu finden sein (Zellzahl- und Eiweißvermehrung, intrathekale Antikörperproduktion). Muskelschmerzen dagegen würde man eher nicht erwarten.

Ist es denkbar, dass die ,,ME/CFS"-Adepten mit der furchtgebietenden Namensgebung den Bogen überspannen?

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* 17 Mio: Thomas Dick (1774-1857), Geistlicher und Astronom, ermittelt die Zahl der Bewohner des Sonnensystems: ,,the Solar System contained 21,894,974,404,480 (21+ trillion) inhabitants" (8 Trillionen davon hat er übrigens auf den Saturnringen untergebracht). Wie ist er auf diese Exaktheit gekommen? Genial einfach: er hat sie berechnet, indem er die Bevölkerungsdichte Englands auf die Oberfläche der Planeten des Sonnensystems projiziert hat.
** review-ähnlich: Meta-Analyse kann man dazu nicht sagen, denn der Prozess der Identifizierung der berücksichtigten Studien wird nicht beschrieben.


Peiresc

Zitat von: NeuroMD am 05. Dezember 2023, 14:46:20Die Diagnosekriterien habe ich oben genannt, entscheidend in der Abgrenzung zu beispielsweise Fibromyalgie oder Tumorfatigue ist das Kernsymptom PEM (auf deutsch "Verschlechterung nach Belastung"), dass ich bei keiner anderen Erkrankung messen kann.

Woher weißt du das? Deine Quelle gibt genau das nicht her, denn sie hat gegen Gesunde geprüft:
ZitatWe specifically recruited people who were generally healthy but chronically sedentary to serve as the control group and sought to age- and gender-match controls to subjects in the ME/CFS group.
https://www.mdpi.com/1648-9144/59/3/571

Das ist nicht die relevante Kontrollgruppe, wenn man nach der Spezifität des Symptoms fragt. Noch ganz davon abgesehen, dass hier eine gewisse selbsterfüllende Prophezeiung unausweichlich ist. Sie zu vermeiden, dürfte die Verum-Gruppe nichts von ihrer Erkrankung wissen, was schwer zu realisieren sein wird.


eLender

Wenn man auf WP schaut, bekommt man auch einen Eindruck über die Validität der Diagnose. Ich weiß, da wird auch nur z.T. selektiv auf andere Quelle zurückgegriffen, aber bei so einem Thema sind meist Proponenten bemüht, das als valide darzustellen. Es scheint aber nicht so, als hätten die Oberwasser:

ZitatTrotz ungeklärter Ursachen und Entstehungsmechanismen ist das Syndrom international als eigenständiges Krankheitsbild anerkannt.[1][2] Die Forschung konnte jedoch in der Summe bisher keine belastbaren Ergebnisse erbringen, die für die Existenz des CFS als eigenständiges Krankheitsbild oder für ein einheitliches Entstehungsmodell sprechen.[3] Es gibt keinen diagnostischen Test, der das Vorliegen von ME/CFS nachweisen könnte.[4]
https://de.wikipedia.org/wiki/Chronisches_Ersch%C3%B6pfungssyndrom

Das steht schon in der Einleitung so (und das ist der umkämpfteste Platz), ein deutlicher Hinweis! Man findet da noch mehrere Stellen, wo es klar wird, dass das eine sehr umstrittene Prognose ist. Ich habe nur kurz auf die Diskussionsseite geschaut, da geht die Post ab :fechtel:
Wollte ich nur mal gesagt haben!

NeuroMD

Die National Academy of Medicine hat im Jahr 2015 einen Report zu ME/CFS veröffentlicht, für den ca. 9000 Studien ausgewertet wurden. Das Fazit: ME/CFS ist eine definierte körperliche Erkrankung mit dem Leitsymptom PEM
https://nap.nationalacademies.org/read/19012/chapter/1

Diskussionen über die wenig gelungene Namensgebung gibt es mehr als genug und tragen an dieser Stelle nicht zum Thema bei (und ja es gibt neben entsprechenden Obduktionsbefunden unspezifische Veränderungen im Liquor). Dazugehörige neurologische Symptome findet man, aber nicht einheitlich und nicht bei allen (vorallem bei schwer Betroffenen) und ja einige meiner MECFS-Patienten müssen über Port oder PEG parenteral ernährt werden, das ist auch nichts neues.
Was man regelhaft in Testbatterien findet sind Störungen in Kognition und Gedächtnisleistung.
An dieser Stelle möchte ich auf die Nice-Leitlinie zu MECFS verweisen, die verschiedene Quellenbelege auflistet:
https://www.nice.org.uk/guidance/ng206

Auf Wikipedia geht seit Jahren die Post ab zu dem Thema wegen der starken Politisierung der Erkrankung, die durch die Pandemie und Querdenkerbewegung noch verstärkt wurde. Wikipedia ist diesbezüglich problematisch (siehe zb. auch Artikel zum Ukrainekrieg usw., dass dort nicht Fakten am durchsetzungsstärksten sind sondern die aktivste Community. Wikipedia bei einem derart politisierten Thema als Quelle heranzuziehen sollte man sich gut überlegen.



NeuroMD


Zitat von: Peiresc am 05. Dezember 2023, 15:05:06Wie verträgt sich das Ausschlusskriterium mit dieser Epidemiologie

Die Diagnosestellung der Erkrankung erfolgt zu einem Zeitpunkt X. Zu diesem werden Differentialdagnosen wie zb. Depression usw. ausgeschlossen. Zum Zeitpunkt y (statistisch X+ 15 Jahre=y) versterben die Patienten an den genannten Todesursachen (die statistisch früher auftreten als in der Durchschnittsbevölkerung). Ich kann da keine Diskrepanz erkennen.
Das selbe Muster erkennt man bei vielen chronischen Erkrankungen. Bestes Beispiel ist der rheumatische Formenkreis.

NeuroMD

Die Älteren unter uns wird diese Diskussion an die frühen Phasen von Aids aber auch MS erinnern. Etwas ist umstritten, weil eine wissenschaftliche Fragestellung politisiert und umstritten wird von den analogen Personenkreisen, nicht von den Leuten, die diese Personen behandeln.

Ich denke, meine Kritik an der Stelle des Artikels ist angekommen. Ich hoffe, der/die Autor/in nimmt dies zum Anlass, sich mit der aktuellen Wissensbasis zu beschäftigen.

Peiresc

Zitat von: NeuroMD am 06. Dezember 2023, 10:04:31Die Diagnosestellung der Erkrankung erfolgt zu einem Zeitpunkt X

Wir bleiben der Einfachheit mal bei den YLD (years lost due to death), als dem Parameter, der noch am leichtesten zu ermitteln sein sollte, d. h. für den die wenigsten unsicheren Zusatzannahmen nötig sind. Dafür wird die ,,2006 Jason study" herangezogen.

Sie wird so referiert:
ZitatJason analyzed a memorial list of 166 deceased individuals and reported that approximately 20% died of each of these three causes.
Auf diese Weise kann man vorzeitiges Ableben für jede Bevölkerungsgruppe diagnostizieren (es gibt andere Beispiele dafür, wie jemand die Friedhöfe für so was abgeklappert hat, aber ich weiß die Einzelheiten nicht mehr). In Tabelle 3 werden nur die YLD für Krebs, Suizid und Selbstmord herangezogen, nicht die für MECFS allgemein.

Diese Studie heißt im Literaturverzeichnis: ,,Jason, LA, Torres-Harding S, Njoku MG (2006) The Face of CFS in the U.S. The CFIDS Chronicle." Auffällig hier, dass die bibliografischen Angaben irgendwie unvollständig sind. Wenn es ein Buch ist, dann sollten Verlagsort und Verlag angegeben sein, und eine Zeitschrift mit Band und Seitennummern. D. h. es entsteht der Verdacht, es handle sich nicht um eine peer-reviewed Publikation.

Es scheint sich um dies hier zu handeln:
https://www.researchgate.net/profile/Leonard-Jason/publication/236995875_The_Face_of_CFS_in_the_US/links/00b7d51acf6823bccb000000/The-Face-of-CFS-in-the-US.pdf
In dem Text kommen die Worte ,,death", ,,memorial", ,,list" oder ,,YLD" nicht vor. Das Wort ,,cancer" kommt 2x vor; der Satz lautet:
ZitatIn fact, CFS is more common in this country than cervical cancer, AIDS or lung cancer.

Weiter wird ,,March 2014" mit 916 Fällen zitiert. Hier sind die Angaben wie folgt:
ZitatVallings R, Summary report (P.7) on Dr. D. March's 2014 IACFS/ME conference pre-publication presentation, The natural course of Chronic Fatigue Syndrome: Evidence from a Multi-site Clinical Epidemiological Study.
Ein second-hand-Bericht über eine noch nicht publizierte Arbeit. Ich habe mich nicht bemüht, ihn aufzutreiben, weil ich davon ausgehe, dass er keinen Einblick in die Methodik der Erhebung gestatten wird.

Die 3. Quelle ist ,,McManimen (2016)". Auch diese Studie scheint nicht in einem peer-reviewed Journal publiziert worden zu sein.

Es bleibt suspekt, einen kausalen Zusammenhang zwischen "MECFS" und den "vorzeitigen Todesfällen" zu unterstellen. Die Quelle ist ein Send-more-money-Artikel, keine um objektive Darstellung bemühte Meta-Analyse.

Zitat von: NeuroMD am 06. Dezember 2023, 10:16:18Die Älteren unter uns wird diese Diskussion an die frühen Phasen von Aids aber auch MS erinnern.
Ich will jetzt nichts über mein Alter sagen
;D
Aber diese Assoziationen finde ich völlig fernliegend. Die MS ist seit Charcot als Krankheit anerkannt, und bei AIDS gab es allenfalls ein evangelikales Frohlocken, dass die Geißel Gottes über die Schwulen hereinbreche. Mir kommen da ganz andere Assoziationen, z. B. die chronische Neuroborreliose oder kürzlich das Havanna-Syndrom.

Zitat von: NeuroMD am 06. Dezember 2023, 10:16:18Etwas ist umstritten, weil eine wissenschaftliche Fragestellung politisiert und umstritten wird von den analogen Personenkreisen, nicht von den Leuten, die diese Personen behandeln.
Das ist ein Strickmuster, wie es häufig anzutreffen ist, z. B. bei den Gender/Trans-Aktivisten - wenn auf sachliche Einwände keine Antwort gefunden werden kann.

Post #7 schaue ich mir noch an.

Peiresc

Zitat von: NeuroMD am 06. Dezember 2023, 09:51:59Das Fazit: ME/CFS ist eine definierte körperliche Erkrankung mit dem Leitsymptom PEM
https://nap.nationalacademies.org/read/19012/chapter/1
Das ist kein Argument, sondern eine Deklaration. Gehen wir ein wenig ins Detail, was natürlich mühsam und zeitaufwändig ist. Ich halte mich deshalb an die Aussagen im Post.

Zitat von: NeuroMD am 06. Dezember 2023, 09:51:59Diskussionen über die wenig gelungene Namensgebung gibt es mehr als genug und tragen an dieser Stelle nicht zum Thema bei
Das finde ich gar nicht: sie tragen sehr wohl zum Thema bei. Ein bisschen erinnert mich das an die Unfehlbarkeit des Papstes. Wenn man sie Katholiken gegenüber erwähnt, dann wird sie verlegen heruntergespielt, aber verzichten, das wollen sie auch nicht.

Zitat von: NeuroMD am 06. Dezember 2023, 09:51:59und ja es gibt neben entsprechenden Obduktionsbefunden unspezifische Veränderungen im Liquor
Mit einem bloßen Zitat ist das hinreichend kommentiert. Unspezifische Veränderungen im Liquor gibt es auch z. B. bei Bandscheibendegeneration. Die hat jeder über 30.

Zitat von: NeuroMD am 06. Dezember 2023, 09:51:59Dazugehörige neurologische Symptome findet man, aber nicht einheitlich und nicht bei allen (vorallem bei schwer Betroffenen)
Entweder es handelt sich um eine greifbare neurologische Herdsymptomatik, dann muss die Diagnose verlassen werden, oder eben nicht. Ein Neurologe sollte, nein muss, in der Lage sein, das zu unterscheiden.

Zitat von: NeuroMD am 06. Dezember 2023, 09:51:59und ja einige meiner MECFS-Patienten müssen über Port oder PEG parenteral ernährt werden, das ist auch nichts neues.
Auch bei z. B. dissoziierten Bewegungsstörungen/Gangstörungen gibt es üble, invalidisierende Verläufe, aber niemand stellt die Psychogenese infrage. Die Gratifikation lässt mit der Zeit nach, und sie können die Tendenz haben sich auszuweiten. Und ja, ich bezweifle, dass ein bloßes ,,MECFS" eine allein hinreichende Ursache für eine Port-Ernährung sein kann. Gelegentlich sieht man Über- und Fehlbehandlungen, die ihrerseits den Verlauf langfristig verschlimmern, auch bei ursprünglich funktionellen Störungen. Sie schaffen sozusagen ihr Substrat. Der Klassiker ist der intubierte und beatmete Intensivpatient, dessen ,,Status" funktioneller Anfälle durchbrochen werden musste.

Zitat von: NeuroMD am 06. Dezember 2023, 09:51:59Was man regelhaft in Testbatterien findet sind Störungen in Kognition und Gedächtnisleistung.
Auf die gleiche Weise hat man früher versucht, die Organogenese von chronischen Konzentrationsproblemen usw. z. B. beim HWS-Schleudertrauma nachzuweisen. Es ist aber keine sichere Unterscheidung zwischen reaktiven und organischen Hirnleistungsdefiziten allein anhand von psychologischen Tests möglich. Sie können allenfalls Hinweise geben und sind nur im Rahmen der klinischen Gesamtsituation verwertbar. Wenn es dazu vergleichende Untersuchungen gibt (erbitte ggf. Literaturhinweis), gab es z. B. Kontrollgruppen mit depressiven oder somatoformen Störungen?

Zitat von: NeuroMD am 06. Dezember 2023, 09:51:59Wikipedia ist diesbezüglich problematisch (siehe zb. auch Artikel zum Ukrainekrieg usw.
Eine wegen ihrer Globalität unbrauchbare Parallele. OT: Was genau ist eigentlich problematisch an dem Artikel? Falls Du eine Antwort darauf parat hast, platziere sie bitte in einem unserer Ukraine-Fäden, z.B. hier.
https://forum.psiram.com/index.php?topic=17890.0

eLender

Zitat von: NeuroMD am 06. Dezember 2023, 09:51:59Wikipedia ist diesbezüglich problematisch (siehe zb. auch Artikel zum Ukrainekrieg usw., dass dort nicht Fakten am durchsetzungsstärksten sind sondern die aktivste Community. Wikipedia bei einem derart politisierten Thema als Quelle heranzuziehen sollte man sich gut überlegen.
Ich könnte das jetzt genauer analysieren und zerlegen (da steckt viel von einer besonderen Denke hinter, die wir von anderen Diskussionen kennen). WP ist nun mal die wahrscheinlich erste Anlaufstelle, wenn sich jemand zu dem Thema informieren möchte. Und es gibt dort Grundsätze, die man auch einfordern kann. Das wird in der Tat nicht immer so genau beachtet, wenn es weniger strittige Themen sind. Aber das ist da nicht der Fall, man muss schon genau belegen, wenn man eine Aussage da drinnen haben will. WP ist auch keine (primäre) Quelle, man verweist auf Quellen bzw. Belege. Man sollte sich auch immer die Diskussionsseite ansehen, da wird meist geklärt, warum sich bspw. eine bestimmte Position nicht durchsetzt (es geht meist darum, dass manche überhaupt keine kritischen Stimmen / Positionen im Artikel haben wollen). Wie schon gesagt, wenn es so gute und valide Belege gibt, dass das ein eigenes, abgrenzbares Krankheitsbild ist, dann kann man das ja eindeutig belegen (natürlich nur mit zulässigen Belegen, etwa von Fachbehörden oder Fachgesellschaften). Wenn es bei Themen aber keine Mehrheitsmeinung über die Validität von Positionen gibt, dann muss man das eben als (mindestens) umstritten bezeichnen.

Zitat von: NeuroMD am 06. Dezember 2023, 10:16:18Etwas ist umstritten, weil eine wissenschaftliche Fragestellung politisiert und umstritten wird von den analogen Personenkreisen, nicht von den Leuten, die diese Personen behandeln.
So ein "Argument" hat auch einen eigenen Namen: Galileo-Gambit. Man kann auch andere Beispiel anführen, die genau das Gegenteil belegen würden. Daher ist es ein Scheinargument, das man ebenfalls aus bestimmten Diskussionen kennt. Sie sind Legion.
Wollte ich nur mal gesagt haben!

Peiresc

Ich habe mal nachgesehen, ob SBM was zum Thema hat. Ein bisschen (richtig tief eingetaucht sind sie nicht). Sie bezweifeln selbstverständlich nicht die Existenz von Patienten, die in das Schema passen, und auch nicht explizit die Existenz einer Krankheitsentität, die sich mit SEID beschreiben lässt. Aber sie sind zurückhaltend, was die Natur der Erkrankung angeht, und sehen gewisse Gefahren:

ZitatChronic Fatigue Syndrome/Systemic Exertion Intolerance Disease Speculcation
[...]
In the context of SBM, SEID is a gateway disease into the world of pseudo-medicine.
https://sciencebasedmedicine.org/chronic-fatigue-syndromesystemic-exertion-intolerance-disease-speculcation/

Mark Crislip hatte, nebenbei, die selbe Assoziation wie ich:
ZitatFor example, those with 'chronic Lyme disease' have the same phenotype as SEID patients [...] These patients have the misfortune of being sucked into the chronic Lyme vortex when they probably have SEID, whatever that is. And there are other pseudo-diseases that have been misidentified as the etiology of SEID.

Ansonsten gilt, wie immer: Defätismus, das Hobby des Skeptikers.

Peiresc

Ich habe noch eine grundsätzliche Bemerkung, was Definitionen und Kriterienlisten angeht. In der Praxis verwendet niemand solche diagnostischen Hilfsmittel, zumindest nicht wenn sie komplex sind. Allenfalls, wenn sie sich leicht memorieren lassen (z. B. beim Parkinson). Ich habe schon Stellungnahmen einer universitären Spezialambulanz für Post-Covid gesehen, die den einfachsten Regeln einer good clinical practice ins Gesicht geschlagen haben (exzessive Labordiagnostik, völlig vage Begründungen, aber nicht die simpelsten Fakten aus der Vorgeschichte des Patienten eruiert).

Die Geschichte der Fibromyalgie mag ein anderes Beispiel sein. Der Druck, ihre Kriterien zu operationalisieren, wurde deutlich gespürt. Schließlich schlug Frederick Wolfe (American College of Rheumatology) 1990 eine Kriterienliste vor, die die berühmte Tender-Point-Definition enthielt:
ZitatNachweis einer erhöhten Druckschmerzhaftigkeit mit sichtbarer Schmerzreaktion bei digitaler Palpation mit einem Druck von ca. 4kp/cm2 an mindestens 11 von 18 sogenannten "Tender Points" (typische Schmerzpunkte), welche an Kopf, Hals, an den Armen und Knien, am Gesäß und an den Oberschenkeln lokalisiert sind
Genauer geht's nicht, sollte man meinen ... aber den Praktiker befällt sogleich eine gewisse Skepsis, was ihre Trennschärfe und Aussagekraft angeht. Von dieser wurde schließlich auch Wolfe angesteckt, und 2003 erklärte er selbst seine Krankheitsdefinition für unbrauchbar. Natürlich, die Patienten gab es weiterhin, und die Tenderpoints wurden für fakultativ erklärt, die Krankheitsdefinition von aller operationalen Kontaminierung gereinigt und die Entität in ,,Chronic Widespread Pain" umbenannt. Diese Diagnose war dann genauso spezifisch, wie sie klingt, und sie hat sich nicht durchgesetzt.

Meine vorläufige Vermutung ist: Letztlich entzieht sich ein gewisser Anteil menschlichen Leides der Klassifizierbarkeit. In der Genese begegnen sich nature and nurture in einem kaum entwirrbaren Geflecht. Die Etiketten, die man ihm aufpappt, sind zeitbedingt und wandelbar, und sie können immer nur einen Ausschnitt der Realität erfassen.