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Medizin sollte kein Gewerbe sein!

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Begonnen von Navigator2, 18. März 2017, 10:24:22

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Navigator2

Medizin sollte kein Gewerbe sein!

Hallo.

Im Sinne unseres sozialstaatlichen Denkens, wonach ein jeder Mensch einen Anspruch auf gewisse Standards zu einem menschenwürdigen Leben hat, passt es nicht, dass Medizin ein Gewerbe ist.

Es wiederspricht ganz einfach dem medizinischen Ethos, den Patienten als einen "ökonomischen Faktoren" zu sehen, denn wozu führt das letztendlich?

Meiner Ansicht nach führt das dazu, dass dem Patienten nicht mehr die bestmögliche medizinische Versorgung zuteil wird, sondern die Versorgung, die für den Arzt oder für die Klinik die profitabelste ist, und das finde ich unerträglich.

Ich finde es unerträglich, dass man Patienten nach einer größeren OP schon nach wenigen Tagen "raus wirft", obwohl die Operationsnarben noch gar nicht verheilt sind, und noch gewisse Risiken bestehen. Ich erinnere mich noch an Zeiten, an denen die Patienten von sich aus so langsam das Bedürfnis nach Entlassung hegten, und man gesagt bekam: "Nun bleiben sie noch mal drei, vier Tage hier, wo wir den Erfolg der Operation beobachten, und wenn bis dahin keine Komplikationen eingetreten sind, können wir sie guten Gewissens entlassen.

Hier scheint sich mit der Einführung der "Fallpauschalen", ein radikales Umdenken stattgefunden zu haben... und man ist nun bestrebt, die Patienten so schnell wie irgend möglich an die frische Luft zu setzen.

Während früher die Klinik nach Tagen bezahlt wurde, hat man also die Entlassung der Patienten verzögert bis zum geht nicht mehr - was auch nicht im interesse des Patienten war, aber immer noch besser als die Doktrie des schnellen entlassens, ist jetzt die Doktrie des schnellen Entlassens angesagt :-(

Wohin führt es denn, wenn der Patient als Wirtschaftsgut und nicht mehr als Patient gesehen wird, dem eine nach Maßgabe und Berücksichtigung aller Faktoren, eine möglichst optimale Therapie angeboten wird.

Und deshalb, weil es hier um den Patienten geht, und weil eine optimale medizinische Versorgung ein Menschenrecht ist, welche nicht mehr gewährleistet ist, wenn andere Dinge als das Wohl des Patienten im Mittelpunkt steht, hat meines Erachtens Ökonmie keinen Platz in unserem Gesundheitssystem.

Meiner Ansicht nach sollte man (wie in England?) die Medizin verstaatleichen und auf  steuerfinanzierter Basis abrechnen. Damit kann man sich diesen ganzen Wust an Krankenkassen einsparen, in dem man die Krankenhäuser direkt mit den Geldmitteln und den benötigten Materialien versorgen.

Natürlich müssen auch hier "Checks und Balances" eingebaut werden, um Verschwendung und Mißbrauch vorzubeugen, jedoch ergibt das alles ein ganz anderes Bild, wenn das Wohl des Patienten im Mittelpunkt steht, und nicht mehr, ob eine Klinik auch "profitabel" ist.

Und lieber zahle ich über meine Steuern für einen Arzt, der auch mal für eine Stunde keinen Einsatz hat, weil gerade kein Patient da ist, als einen Arztbetrieb, bei denen Patienten mit Schmerzen in der Notaufnahme für 3 oder 5 Stunden warten müssen (ja - als Ex-Taxifahrer weiß ich, dass es so etwas gibt, dass ich Patienten morgens in der Notaufnahme mit Schmerzen eingeliefert hab, und den Patienten nachmittags mit schmerzen wieder abgeholt hab, ohne dass der einen Arzt zu Gesicht bekommen hat). Ich finde das Skandalös, und so etwas kann uns allen passieren... na ja, vielleicht die Leute mit dem ganz dicken Scheckbuch und der goldenen LuxusMedBonuskarte vielleicht weniger....

Wie seht ihr das?

Peiresc

Hallo Navigator,

das ist IMHO ein hochkomplexes Thema.
Zitat von: Navigator2 am 18. März 2017, 10:24:22
Wohin führt es denn, wenn der Patient als Wirtschaftsgut und nicht mehr als Patient gesehen wird, dem eine nach Maßgabe und Berücksichtigung aller Faktoren, eine möglichst optimale Therapie angeboten wird.
In dem "nicht mehr" steckt ein bisschen was von Romantik, von rückwärtsgewandter Utopie. Ich glaube nicht, dass es früher besser gewesen ist.

ZitatMeiner Ansicht nach sollte man (wie in England?) die Medizin verstaatleichen
Nachbars Kartoffeln sind alleweil die größten. Andererseits glaubt jedes Land von sich, es habe das beste Gesundheitswesen der Welt (von den USA, der Schweiz, Deutschland und England weiß ich das definitiv, von den übrigen Ländern nehme ich es an.)

Die rudimentären Vergleiche zwischen dem NHS und Deutschland, die ich kenne, sehen nicht günstig aus. Und man kann nicht einfach zwei Zahlen nehmen und vergleichen, das wird immer schief gehen. Noch abgesehen von einfachen Fehlern. Hier z. B., mein erster Google-Treffer:
ZitatAuf alle Ärzte bezogen kommen in England 2,8 Ärzte auf 1000 Einwohner. In Deutschland liegt diese Zahl immerhin bei 0,8 Prozent.
https://www.ess-europe.de/krankenversicherung-england/

Das kommt mir schon einmal reichlich unwahrscheinlich vor, und, siehste,
Zitat[...] ist die Anzahl berufstätiger Ärzte [in Deutschland] je 100.000 Einwohner von 442 im Jahr 2013 auf 451 im vergangenen Jahr angestiegen. 1991 lag sie bei 304.
https://www.aerzteblatt.de/nachrichten/63497/AOK-Institut-Arztdichte-ist-in-Deutschland-angestiegen

Mit einem Wort: es wird keine einfachen Antworten geben.

Groucho

Zitat von: Navigator2 am 18. März 2017, 10:24:22
Wie seht ihr das?

Kann ja nur für mich sprechen. Ganz ehrlich, Du würdest nicht mit dem Englischen Gesundheitssystem tauschen wollen, das Du da präferierst.

https://www.ess-europe.de/krankenversicherung-england/

Bei allem Verständnis für Dein Anliegen - aber man wird niemals und unter keinem System um den ökonomischen Faktor herumkommen, sprich, es wird immer eine Budgetierung geben müssen, ob nun staatlich oder im jetzigen deutschen Erstattungssystem.

Fallpauschalen: Ideal mag das auch nicht sein, aber ich erinnere mich an die Zeit davor. Ich möchte da nicht zurück. Meine wenigen KH-Aufenthalte waren immer der Art, dass ich da so schnell wie möglich wieder raus wollte. Ob eine Narbe nun im KH heilt oder Zuhause ist ja nun egal, letzteres deutlich angenehmer, als Nächte mit schnarchenden Zimmergenossen zu verbringen und bei Morgendämmerung aus dem Schlaf gerissen zu werden.

Ein Thema, worüber man endlos schreiben könnte, nur eines ist mir gewiss: Verstaatlichung hat noch nie zu einer Effizienzsteigerung geführt, meist im Gegenteil.

Sauropode

Zitatdeutlich angenehmer, als Nächte mit schnarchenden Zimmergenossen zu verbringen und bei Morgendämmerung aus dem Schlaf gerissen zu werden.

Ohja! Und es verringert die Gefahr, sich einen MRSA einzufangen.

Groucho

Zitat von: Sauropode am 18. März 2017, 11:51:24
Zitatdeutlich angenehmer, als Nächte mit schnarchenden Zimmergenossen zu verbringen und bei Morgendämmerung aus dem Schlaf gerissen zu werden.

Ohja! Und es verringert die Gefahr, sich einen MRSA einzufangen.

Noch ergänzend: Kein vernünftiges KH wird jemanden entlassen, wo die Gefahr eines akuten Rückfalles besteht, die stehen da in der Verantwortung, auch mit Fallpauschale. Zum Anderen haben sich die Ansichten bez. Reha deutlich geändert, es ist auch im Sinne des Patienten, schnellstmöglich wieder in die Mobilitätsphase zu kommen (wenigstens bei OPs).

lanzelot

Zitat von: Navigator2 am 18. März 2017, 10:24:22

Meiner Ansicht nach sollte man (wie in England?) die Medizin verstaatleichen und auf  steuerfinanzierter Basis abrechnen.
Ich hoffe das ist nur ein freud'scher Versprecher.

Ob wir DAS beste Gesundheitssystem ist schwer zu fassen. Aber eines der teuersten gewiss.
Zitatsozialstaatlichen Denkens
Genau das schiebt ein System über den Abgrund.

Zitatja - als Ex-Taxifahrer weiß ich, dass es so etwas gibt, dass ich Patienten morgens in der Notaufnahme mit Schmerzen eingeliefert hab, und den Patienten nachmittags mit schmerzen wieder abgeholt hab, ohne dass der einen Arzt zu Gesicht bekommen hat...
Es wiederspricht ganz einfach dem medizinischen Ethos, den Patienten als einen "ökonomischen Faktoren" zu sehen, denn wozu führt das letztendlich?
Das sind jetzt schon wieder so Anekdoten. Die besagen und beweisen gar nichts.
Was genau hat dem Deinem Fahrgast gefehlt? Ist er von allein gegangen?
War es einer der Patienten die 3 Wochen mit Schmerzen im Handgelenk herumlaufen und weil ihnen die Termine beim Hausarzt nicht passen, in die Notaufnahme geht?
Wenn in der Notaufnahme viel los ist müssen die Ärzte entscheiden über Prioritäten.
Kann mir nicht vorstellen, dass ein Arzt, ohne ihn anzuschauen und einzuschätzen, nach Hause schickt.

Ansonsten einige pauschale und verallgemeinernde Behauptungen. Etwas weniger Pathos täte gut. Der medizinische Alltag sind anders aus.
Es wird gewiss Einzelfälle und Fehlentscheidungen geben, aber die gab es früher auch.
Aber für den Arzt steht immer der Patient im Mittelpunkt, keiner wird nach Hause geschickt wenn es nicht vertretbar ist, bzw keine adäquate Weiterversorgung stattfindet solange dies angezeigt ist.

Gesundheit kostet Geld und bei allem was geleistet und finanziert werden muss entsteht ein Gewerbe. Auch wenn dies der Staat betreibt.
Und ja, die Kosten explodieren noch mehr und die Effizienz sinkt.
Ich garantiere Dir, die Steuern die Du dann zahlen müsstest, würden die meisten auch nicht mehr zahlen wollen und auch da wieder meckern.

Perfekt ist es im Moment nicht. Und was die Krankenkassen treiben lässt einem ab und an die Haare zu Berge stehen.
Kein Gesundheitssystem kann das Rundum-Sorglos Paket stellen, wie es der ein oder andere Sozialromantiker gern möchte.
Aber ich würde in kaum einem anderen Land der Welt leben und krank werden wollen. Wobei ich genau genommen gar nicht krank werden will. :grins2: Nirgendwo.
Hierzulande  jammern einige auf sehr hohem Niveau.


Peiresc

Zitat von: lanzelot am 18. März 2017, 12:25:40
Aber ich würde in kaum einem anderen Land der Welt leben und krank werden wollen. Wobei ich genau genommen gar nicht krank werden will. :grins2: Nirgendwo.
Hierzulande  jammern einige auf sehr hohem Niveau.
+1

Groucho

Zitat von: Peiresc am 18. März 2017, 12:31:45
Zitat von: lanzelot am 18. März 2017, 12:25:40
Aber ich würde in kaum einem anderen Land der Welt leben und krank werden wollen. Wobei ich genau genommen gar nicht krank werden will. :grins2: Nirgendwo.
Hierzulande  jammern einige auf sehr hohem Niveau.
+1

Naja, ich würde "lieber" noch in der Schweiz in ein KH gehen, da sind auch deutsche Ärzte (tendentiell weniger übermüdet) und das Essen ist meist deutlich besser  8)

Typee

Zitat von: Groucho am 18. März 2017, 11:44:43
Zitat von: Navigator2 am 18. März 2017, 10:24:22
Wie seht ihr das?

Kann ja nur für mich sprechen. Ganz ehrlich, Du würdest nicht mit dem Englischen Gesundheitssystem tauschen wollen, das Du da präferierst.


Ich auch nicht. Verfolge mal in der dortigen Presse, wie das System ächzt. Und das ist erst der Prä-Brexit-Status. Hardliner unter den Tories haben schon unverhohlen angedeutet, wo sie die Staatsknete einzusparen gedenken, wenn die offenen Rechnungen aus dem britischen Alleingang beglichen werden müssen.
The universe is under NO obligation to make sense to us
(Neil deGrasse Tyson)

Rincewind

Das Gewerbe Medizin könnte meiner Meinung nach aber schon die ein oder andere Überarbeitung erfahren, vor allem was die Regelungen und Erlaubnisse bei Heilpraktikern&Co angeht.

Groucho

Zitat von: Rincewind am 19. März 2017, 00:16:19
Das Gewerbe Medizin könnte meiner Meinung nach aber schon die ein oder andere Überarbeitung erfahren, vor allem was die Regelungen und Erlaubnisse bei Heilpraktikern&Co angeht.

Es ist ein laufender Prozess, der seinem Ideal nie genügen wird, zumal sich immer neue Methoden auftun. Für die Heilspraktiker würde Anfangs erstmal Dokumentationspflicht und Garantenstellung (und keine Stellung als Laie vor Gericht) genügen.

Peiresc

Zitat von: Rincewind am 19. März 2017, 00:16:19
Das Gewerbe Medizin könnte meiner Meinung nach aber schon die ein oder andere Überarbeitung erfahren
Selbstverständlich.

Zitatvor allem was die Regelungen und Erlaubnisse bei Heilpraktikern&Co angeht.
Das ist vergleichsweise einfach zu überblicken, aber das sind peanuts. Sie sind für die Finanzierbarkeit des Gesundheitswesens völlig nebensächlich. Die relevanten Beträge werden ganz woanders umgesetzt.

Joseph Kuhn

Bevor hier Mythen geboren werden, ein paar Anmerkungen:

Das Gesundheitswesen ist ein komplexes System, zu dem Ärzte, Krankenhäuser, Diatberaterinnen, Pharmafirmen, Apotheken, Hersteller von orthopädischen Schuhen und vieles mehr gehören. Manches davon ist Gewerbe, manches nicht.

Ärzte üben beispielsweise kein Gewerbe aus und die Ärzte verwehren sich selbst explizit dagegen, § 1 der Musterberufsordnung sagt: "Der ärztliche Beruf ist kein Gewerbe." Siehe dazu allgemeiner auch § 6 (1) der Gewerbeordnung. Bei Krankenhäusern kommt es u.a. auf die Trägerschaft an.

Dass es im Gesundheitswesen unabängig von der Frage, ob ein "Gewerbe" vorliegt, immer auch um Geld geht, ist eine andere Frage und solange Ressourcen über Geld gesteuert werden, nicht zu ändern. Das Gesundheitswesen ist einer der größten Wirtschaftszweige mit einem Ausgabenvolumen von mehr als 300 Mrd. Euro. Wer in diesem System nicht auf ökonomische Vernunft achtet, verschwendet Geld, das der Versorgung fehlt.

Dann hieß es oben, unser Gesundheitswesen sei eines der teuersten der Welt. Wenn man die armen Länder als Vergleich heranzieht, kann ich nur sagen, gottseidank. Wenn man die westlichen Industrieländer als Vergleich heranzieht, stimmt die Aussage nicht. Gemessen am Bruttoinlandsprodukt liegen sie mit einem Anteil von 10 bis 11 % alle nahe beieinander: http://ec.europa.eu/eurostat/statistics-explained/index.php/File:Current_healthcare_expenditure,_2012_YB15-de.png

Und zur Frage staatlich oder nicht: Der Staat soll Verantwortung für das Gesundheitswesen ernstnehmen, indem er den Rahmen für eine qualitativ gute Versorgung gewährleistet, alles selber machen soll er bitte nicht, dazu ist das Gesundheitswesen viel zu komplex und auch in den "Beveridge-Systemen" ist nicht das gesamte Gesundheitswesen staatlich, sondern meist nur die medizinische Versorgung i.e.S.


Groucho

Zitat von: Joseph Kuhn am 19. März 2017, 09:52:18
Dann hieß es oben, unser Gesundheitswesen sei eines der teuersten der Welt. Wenn man die armen Länder als Vergleich heranzieht, kann ich nur sagen, gottseidank.

Erinnert mich bisschen an Meldungen in den Medien, der Verbrauch von Medikament XY sei gestiegen. Natürlich stets mit alarmistischem Unterton und der selbstverständlichen Annahme, dass sowas ja nur schlecht sein könne. Kann es. Es könnte aber auch sein, dass besser diagnostiziert wurde und/oder eine schlichte Unterversorgung bestand.

Peiresc

Zitat von: Joseph Kuhn am 19. März 2017, 09:52:18Dann hieß es oben, unser Gesundheitswesen sei eines der teuersten der Welt. Wenn man die armen Länder als Vergleich heranzieht, kann ich nur sagen, gottseidank.
Das teuerste Gesundheitswesen der Welt gibt es in den USA; es ist gleichzeitig hocheffektiv und schwer dysfunktional. Je nachdem, was man in den Vordergrund stellen will - und das ist dann unausweichlich ideologisch determiniert.