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Nie mehr Harry Potter, Herr Dawkins?

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Begonnen von sweeper, 05. Juni 2014, 16:26:37

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Belbo

+1, @ajki toller Beitrag.

Vielleicht sind es ja auch diese kindlichen, Weihnachtsmann- und Osterhasenenttäuschungen die helfen zwischen Realität und Fiktion zu unterscheiden und nicht jedem alles zu glauben. Verzichten wollte ich auf diese Errinnerungen allerdings auch nicht.

sweeper

Zitat von: Belbo am 07. Juni 2014, 08:55:20
+1, @ajki toller Beitrag.

Ja - vielen Dank!
Dawkins sagte auf Twitter, er sei fehlzitiert worden; er habe lediglich eine Frage aufwerfen wollen.
Das wiederum bringt mich ins Grübeln über seine Fähigkeit zum Framing.
Immerhin beherbergt sein kulturelles Umfeld nicht nur eine Fülle von Sagen und Märchen, sondern hat großartige Fantasy-Autoren hervorgebracht, u.a. auch JRR Tolkien oder C.S.Lewis - Lehrstuhlinhaber in Oxford und Cambridge, die sich auch wissenschaftlich und in Essays intensiv mit der Rolle und Funktion von Faerie Stories und Mythen beschäftigt haben.

Das Dawkins-Statement hat in England eine öffentliche Debatte befeuert, in die sich auch Scharlatane Experten der Entwicklungspsychologie einmischen ^^  :

http://m.bbc.com/news/blogs-magazine-monitor-27715735

Dieser Kommentar gefällt mir besonders gut:
ZitatDr David Kirby, a researcher on science and public life from Manchester University, points out that Dawkins himself is able to distinguish between fiction and reality, despite being told stories as a child.

"Other children have the same reasoning capacity as the young Richard Dawkins," says Kirby. They can enjoy and be entertained by fiction without experiencing difficulties in differentiating stories from the material world.

http://www.davidakirby.com/
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Terry Pratchett

Superkalifragilistisch

Zitat von: 71hAhmed am 06. Juni 2014, 19:30:45
Zitat von: Superkalifragilistisch am 06. Juni 2014, 18:00:22
ZitatDieses "normale" Stadium der kindlichen Entwicklung wird nach und nach durch realistischere Bilder der Realität ersetzt. Dazu muss man nichts "tun", wie Dawkins offenbar meint.
Das ist frei nach Norbert Elias, wonach das Individuum dieselbe zivilisatorische Entwicklung durchmacht wie die Menschheit als ganzes. Und damit genau die Pseudowissenschaft von der ich sprach. Das kann man nicht guten gewissens als Wissenschaft bezeichnen.
Du solltest vielleicht mehr zwischen Phänomen und Deutung unterscheiden. Eine sachlich richtige Beobachtung/Beschreibung wird nicht dadurch entwertet, daß der Erklärungsansatz den zur Zeit geltenden wissenschaftlichen Kriterien nicht entspricht.
Ich habe aus Versehen die falsche Stelle zitiert. Meine Antwort bezog sich auf das Zitat des links zur Uni Duisburg
ZitatMagisches Denken
Im Vorschulalter ist das kindliche Denken oft magisch: Gegebenheiten werden dem Wirken höherer Mächte zugeschrieben. Entgegen naturwissenschaftlichen Erklärungen erachten die "magisch denkenden" Kinder Phänomene als durch höhere Kräfte gesteuert.
Und hierbei handelt es sich nicht um ,,Phänomen" sondern ganz klar um ,,Deutung" in moralischen Tropen, wie sie, vom Christlichen Sündenbegriff abgeleitet, modernisiert bei Elias, Freud, der Psychoanalyse im Allgemeinen wieder auftauchen.

Die korrekte Bezeichnung für das anthropozentrische Denken, welches der Auswendiglernbeitrag aus Duisburg aufgreift, ist der Personale Kausalbegriff des Bewirkens (durch den Ur-Heber. Sowie in modernisierter Form des Bewirkens durch den substantivisch-sachlichen Kausalbegriff von der Ur-Sache), nicht das ,,magische Denken", denn dieses ist selbst wieder moralische Trope.

Zitat"Risikobegriff" ("Gefahrenquelle")
Genau hier ist danach zu suchen, ob man Dawkins recht geben kann oder nicht. Ist das Märchen für ihn ein gefährlicher folk-devil (Cohen)? Dann spinnt er selber ein Märchen: das vom Teufel, vom Bösen.

Etwa wie Killerspiele oder Spitzer: Weltweiter Untergang des Abendlands durch das Smartphone  ;D
"Umgekehrt mußte die Psychoanalyse manchen enttäuschten Adepten eines vulgarisierten, auf eine ökonomisch-soziale Theorie reduzierten Marxismus als Bereicherung erscheinen."

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sweeper

@Superkali:
Bevor du selbst bestimmte Zitate in deinen persönlichen Deutungsrahmen überführst bzw sie auf diesen deinen Deutungsrahmen wie auf ein Prokrustesbett spannst, lies doch mal bei WP über Piagets Stadien kognitiver Entwicklung nach:

http://de.m.wikipedia.org/wiki/Jean_Piaget

Ich verstehe nicht, warum du hier partout "christliche Einflüsse" oder gar Moralvorstellungen hineinlesen willst. Solange du das nicht schlüssig begründest, sondern nur irgendwelche vordergründigen Ähnlichkeiten locker assoziierst, kann ich das nicht ernst nehmen.



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Terry Pratchett

Superkalifragilistisch

ZitatStadien kognitiver Entwicklung nach
Immer wenn es um ,,Stadien" geht dann handelt es sich um kostümierten Bullshit, der seine Herkunft (»Ich verstehe nicht, warum du hier partout "christliche Einflüsse" oder gar Moralvorstellungen hineinlesen willst.«) verleugnen möchte. Das sind Schemata, die stur und unhinterfragt auswendig gelernt werden und dann als Begründung irgendeine Zuständigkeit der ,,Entwicklungspsychologie" für die Beantwortung einer Frage gesellschaftlicher Relevanz herhalten müssen. Die taugen ja auch sehr gut zur medialen Wissensvermittlung durch ,,Experten". Sie vereinfachen komplizierte Sachverhalte auf eine medien-verwurstbare Portion.


Solche Erklär-Schablonen geben Leichtgläubigen das Gefühl von verlässlicher und einfacher Einsicht in komplizierte Fragen. Die hinterfragen dann auch nicht, warum sich viele dieser ,,Stadien"-Modelle zur gleichen Fragestellung gegenseitig widersprechen. Das Modell, das man auswendig gelernt hat, ist dann halt einfach das richtige.

Davon ausdrücklich auszunehmen sind größtenteils Listen über typische Merkmale von quack.


ZitatSolange du das nicht schlüssig begründest
Was soll ich denn an dieser Stelle mehr tun, als auf Elias zu verweisen? Elias' zweiteiliges Standardwerk ist eine Referenz für den Topos des Zivilisationsprozeßes und menschlicher Entwicklungsstufen. Deine einzige Argumentationslinie ist der Vorwurf, die anderen hätten ,,die Entwicklungspsychologie nicht verstanden". Und die Einsicht, daß es sich dabei um moralische Tropen handelt, die kann ich Dir nicht abringen. An der Stelle, wo das ,,it's not a religion" kommt, ist die Diskussion um Religion für gewöhnlich vorbei. Deshalb steige ich hier jetzt auch aus.

Viele Grüße
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sweeper

@Superkali:
ZitatImmer wenn es um ,,Stadien" geht dann handelt es sich um kostümierten Bullshit
Ach so. Dann gehst du davon aus, dass Säuglinge als kleine Erwachsene auf die Welt kommen?
Natürlich ist der Terminus "Stadien" missverständlich, zumindest, wenn man sich zwanghaft darauf kapriziert, dass dies klar abgegrenzte Zustände seien.

Aber so wie Säuglinge ab einem bestimmten Zeitpunkt mit den Augen fixieren, ihre Kopfhaltung kontrollieren, sich drehen, robben, krabbeln, sich aufrichten, genau so gibt es Stadien der kognitiven Entwicklung.

Dawkins Hauptfehler besteht darin, dass er anscheinend davon ausgeht, ohne äußere Einflußnahme würde ein Kind kein magisch-animistisch-egozentristisches Denken entwickeln.
Dabei ist es ein typisches Phänomen der kognitiven Entwicklung - das kann man auch völlig wertfrei konstruktivistisch beschreiben.

Das Problem (auch aus kinderpsychiatrischer Sicht) sind die Menschen, die diese Phase irgendwie nicht wirklich ablegen (sich in Eskapismus und ständige Tagträume flüchten) oder die später aus Gründen, die zu klären wären, in eine magisch-esoterisch-VTgeneigte Sichtweise zurückfallen.
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pelacani

Zitat von: ajki am 07. Juni 2014, 08:26:35
... Herr Dawkins problematisiert das Ganze (wie viele andere auch) vermutlich deshalb, weil er ganz andere Problembereiche im Auge hat. Er fragt sich (wie viele andere auch), woher der Drang menschlicher Populationen stammt, an diversen Irrationalitäten (in Dawkins Fall: Gottesglaube samt institutionalisierte Religionen) stramm festzuhalten *trotz* erfolgten (vielfältigen) Beweises ihrer Unsinnigkeit
...
Er schüttet aber das Kind mit dem Bade aus, wenn er glaubt, man könne (einfach) Symbolfilterungen einsetzen, um bestimmte unerwünschte psychische Anker zu lösen.
...

Sehe ich ganz genauso. Das 9. Kapitel des Gotteswahns (,,Kindheit, Kindesmisshandlung und wie man der Religion entkommt") ist doch schlechterdings unlesbar. Darüber zu verhandeln ist mit Sicherheit nicht seine Kernkompetenz. Man erlebt es ja öfter, dass Leute, die in bestimmten Bereichen einen bestimmten Durchblick erlangt haben, und die damit öffentlich wahrgenommen werden, nun glauben, sie hätten auch die Weisheit auf allen anderen Wissensgebieten anderen voraus. Im Kleinen kann man das schon bei Schauspielern in Talkshows erleben. 

Groucho

Zitatwoher der Drang menschlicher Populationen stammt, an diversen Irrationalitäten (in Dawkins Fall: Gottesglaube samt institutionalisierte Religionen) stramm festzuhalten *trotz* erfolgten (vielfältigen) Beweises ihrer Unsinnigkeit
...

Jörg Wipplinger hat eine gute Anmerkung dazu:

http://www.diewahrheit.at/video/warum-niemand-seine-meinung-andert

ZitatWas ist das absolut Wichtigste für einen Menschen? Die Wirklichkeit korrekt einzuschätzen? Sicher nicht, sonst gäbe es weder Religionen noch Alternativmedizin. Überlebenswichtig war und ist es, in eine Gemeinschaft eingebettet zu sein. Isolation ist tödlich, oder auf intellektuell: Wer gesellschaftlich isoliert ist, neigt dazu Vorfahre von niemandem zu werden. Um in eine Gemeinschaft zu passen, muss ich ähnliche Werte vertreten und die Welt mit ähnlichen Augen sehen. Auch wenn dieser Blick auf die Welt in direktem Widerspruch zur Vernunft steht. Bei Religionen ist es sogar wesentlich, dass der Blick auf die Welt ein möglichst irrationaler ist. Das stärkt die Gemeinschaft, wie hier schon mal erklärt. Natürlich gilt das nicht nur für Religionen, jeder von uns ist mit seinen Überzeugungen gesellschaftlich eingebettet. Und niemand ändert seine Meinung, wenn er damit seine Gruppenzugehörigkeit gefährdet.

sweeper

Ich mag ja sehr Tolkiens Essay "On Fairy Stories" - allein die Einleitung finde ich gigantisch:

http://brainstorm-services.com/wcu-2004/fairystories-tolkien.pdf


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pelacani

Ich überschreite mal jetzt meine Kernkompetenz  :police:, aber natürlich gibt es sone und solche Märchen. Letzlich richtet sich der literarische Wert einer Geschichte in keiner Weise danach, ob nun Feen / Oger / Riesen / Zwerge auftreten; das gilt auch für Geschichten, die für Kinder geschrieben sind. Es kann sich um anrührende, wertevermittelnde Stories wie auch um reaktionäre Utopien handeln, das ist doch ganz unabhängig von der Staffage.

sweeper

@Pelacani:
Stimmt. Vor allem ist es eine Illusion, man könne Kinder davon abhalten, sich eine bestimmte Lektüre zu suchen :)
Ich habe den Tolkien-Essay eingestellt, weil er eindrucksvoll veranschaulicht, welch weites historisches Terrain Dawkins quasi mit einer einzigen unreflektierten Bemerkung streift.

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Terry Pratchett

ajki

Zitat von: sweeper am 07. Juni 2014, 11:36:54
... welch weites [..] Terrain Dawkins quasi mit einer einzigen unreflektierten Bemerkung streift.

Es ist ja nicht nur Herr Dawkins, den es hier zu kurzschlüssigen (wie neulich anderswo verhandelt: "populistischen") Scheinlösungen drängt. Die Kinderbücher-Diskussionen und ähnlich gelagerte Werthaltungen sind ja mittlerweile Legion und kommen mit Gewissheit alle paar Jahre wieder - nur kurz erinnert sei an verschiedene Adaptions- und Interpretationsleistungen der letzten paar Jahre: da war die Lindgren-Retusche mit dem "Takatuka-Land" (Neger), die Preussler-Retusche (breitflächig, Tochter-getriggert mit Zustimmung durch Autor, Neger und "unüblich" gewordene Worte) oder das berühmte "De-Gendering" einer jungen Ministerin und gewordenen jungen Mutter im Amt, die redaktionell umwandelte zu "das Gott" (kommt zwar nicht Dawkins entgegen, bewegt sich aber zumindest mal auf dem auch von ihm inkrimierten Feld). Im Zusammenhang mit diesen Diskussionen auf literarischem Feld habe ich anderswo in einem gänzlich unwürdigen Bereich eine Haltung formuliert, die vielleicht auch hier und hierzu von gewissem Belang ist. Leider ewig lang, aber das ist ja mal wieder typisch... ;-)

Hotzenplotz unchained

Neulich habe ich mal anläßlich einer "Begegnung [mit] der 3. Art" didaktisch hinterpfotzig evaluiert, was eigentlich von der seinerzeit mit großem Eifer durchgeführten frühkindlichen Indoktrination "hängengeblieben" ist - natürlich begrenzt auf das rein empirisch rauskitzelbare Faktenwissen, wie etwa grober Titel, grober Inhalt oder hängengebliebene Highlights und dergleichen Erinnerungszeug. Auf dieses an sich ziemlich abseitige Vorhaben wurde ich gebracht durch reichlich verstörende Nachrichten aus dem Privatbereich einer amtenden Ministerin, die ich gerne bitte danke am liebsten nie hätte zur Kenntnis nehmen wollen und einer immer mal wieder (und so auch derzeit) aufflammenden Diskussion zur "anpassenden" Edition von speziell und spezifisch "Kinderbüchern" an die jeweils zeitaktuellen Sprachgebräuche einer (hier: dieser) Gesellschaft.

Verfolgt man grob die Inhalte der Argumente der "befürwortenden" Partei, dann kann man unter anderem und ohne Anspruch auf Vollständigkeit folgende Gründe für die Adaptionen finden (ohne Gewichtung):


  • [Gebrauchsargument] Speziell "Kinderbücher" seien "Gebrauchsliteratur" und schon von daher angewiesen auf Verständlichkeit und Angepasstheit an die jeweilige Gegenwart ihrer Nutzung.

  • [Translationsargument] Ähnlich der sich zwangsläufig im Laufe von Jahrzehnten immer wieder neu ergebenden Notwendigkeit von Neuübersetzungen von fremdsprachigen Texten solle man auch "Klassiker" unter den "Kinderbüchern" von Zeit zu Zeit neu "übersetzen";
    (Nebenargument:) man könne (speziell) "Kinderbücher" nicht als abgeschlossene Werke betrachten, weil sie immer wieder ein neues Publikum (in "anderer" Sprache) bekommen

  • [Editionspraxisargument] Die lektorale Edition von Texten (allen! Texten) sei eine vollkommen übliche verlegerische Aufgabe, die grundsätzlich immer stattfindet und sich selbstverständlich auch auf Neuauflagen (auch in ferner Zukunft) erstreckt;
    (Nebenargument:) es ist eine zeitpunktabhängige und individuell begrenzte (verfehlte) Illusion eines Lesers/Käufers anzunehmen, Texte würden über die Auflagen hinweg beim "Urtext" verbleiben - also ist es von Haus aus unsinnig darauf zu bestehen, ausgerechnet Alttexte von "Kinderbüchern" bei Neuauflagen nicht dem regulären redaktionellen Editionsprozess zu unterziehen

  • [Präformationsargument] "Kinderbücher" für den (früh-) kindlichen Bereich in Haushalt, Kindergärten und Grundschulen seien grundsätzlich durch ihre unkritische Rezeption insofern besonders gefährdend, als sie durch die in ihnen enthaltenen Sprachmuster präformierenden und -struktierenden Charakter im Rahmen des Sprach- und Textverständniserwerbs haben (können) [sollen] - von daher sei hier ein besonderer Augenmerk auf eventuelle, der "damaligen" Zeit ihres Erstellungsprozesses geschuldete und darin verhaftete Sprachmuster zu legen und eventuell gegebene Miß- und Unverständlichkeiten zu korrigieren (ohne die Erzählung zu verfälschen)

Wer ein paar Diskussionen der letzten Wochen (oder ähnliche früher) mitverfolgt hat, sieht auf einen Blick, dass die "wilden" verschwörungsbefürwortenden oder -verneinenden Diskussionsansätze, die anderswo immer reflexartig zu belebenden Mord- und Brand-Streitereien führen, hier völlig fehlen. Ich persönlich würde auch grundsätzlich empfehlen, bei diesem Thema auf "political [in]correctness", "gendering", "Zensur", "NewSpeak", "Sprachfaschismus", "OpferInnen-gemäße Realitätsverleugnung" und was es da an Schanzbegriffen mehr gibt zu verzichten (wobei ich niemanden abhalten möchte, sich auf diesen oder anderen extremistischen Feldern lächerlich zu machen und auch selber reflexartig bei solchen Diskussionen in solche Felder leider schon abgewichen bin).

Mein eigenes (gewisses, leichtes) Unbehagen an der Textpanscherei möchte ich einleiten mit einem Rückbezug auf einen phänomenal mißlungenen Spruch eines Feuilletonisten (aus der sz), der neben einigem anderen folgenden Merksatz zum Besten gab: "Preussler ist nicht Goethe!" - ächzendes Stöhnen im Publikum, Vorhang, kein Applaus. Was der gute Mann mit der verkürzenden Schlagzeile meinte war das "Niveaugefälle" - Namen im bildungsbürgerlichen dogmatischen Klassikerkanon seien schützenswerter als Namen aus der Kinderbüchermacherei. Das ist in zweierlei Hinsicht brutal falsch: Erstens hat der Autor eines Kinderbuches, zumal eines "Klassikers" auf diesem Feld, eine Reichweite, von der JEDER andere Autor nur träumen kann - was jemand wie der genannte Preussler weltweit und immer wieder neu an Lesern und "Hörern" hat, ist ganz schlicht und simpel für keinen anderen Autortyp in einer bestimmten Epoche zu erreichen - noch nicht mal annähernd. Zweitens ist ausgerechnet Herr Goethe der genau falsche Vergleich gewesen - denn der hatte aufgrund seiner langen und segensreichen Schaffensperiode noch Zeit genug, sein eigenes Werk bis zurück in die Anfänge selber zu redigieren und man tut dem Mann ausweislich seiner eigener Bekenntnisse nicht unrecht, wenn man diese Eigenredaktion schönfärberische Zeitaktualisierungen nennt.

An dieser Stelle ist praktisch eine Sache mithin schon klar: Wenn es der Werkautor "selbst" ist, der auch zeitlich lang zurückliegend veröffentlichte Werke ändert, dann hat "man" das zu aktzeptieren. Denn "sein" Geschreibsel bleibt eben "sein" Leben lang (+ 70plus Jahre nach Ableben) "sein" Geschreibsel und wenn "er" es verbrennt, ändert oder ergänzt ist es eben "sein" Recht (wenn er es nicht irgendwann mal abgetreten hat). Angesichts der verlegerischen Praxis bzw. dem üblichen Zusammenspiel zwischen Autor, Verleger, Lektorat, nachfahrenden Rechtehaltern und ggf. Übersetzer(n) und der in diesem Zusammenspiel gängigen editiven Prozesse müssen wohl oder übel dann auch die oben genannten Argumente [Translation] und [Editionspraxis] wenn nicht hingenommen, dann aber doch zumindest als valide akzeptiert werden. Wenn der Käufer/(Vor-)Leser trotzdem auf dem "Negerkind Jim Knopf" besteht, dann wird ersie wohl am Suchgang durch entsprechene Antiquariate oder eBay u. vglb. nicht vorbeikommen. Rein sachlich/faktisch gesehen sind in dieser Hinsicht die Einwirkungsmöglichkeiten des (un)geneigten Publikums erschöpft.

(Nur im Nebenbei: im deutschsprachigen Raum gibt es übrigens einige verschiedene bekannte Beispiele für die *wirksame* Nachfrage nach "Ur-Fassungen", die dann wiederum zu speziellen verlegerischen Aktivitäten führt - das eventuell "geläufigste" Beispiel dürfte wohl die Nachfrage nach der "Luther-Bibel" im Vergleich zur jeweiligen ökumenischen, bibliographisch, lexikalisch, sprachkontextual zeitaktuell hochgepflegten Bibel-Ausgabe sein; dazu noch die Nebenbemerkung, dass die "Luther-Bibel" natürlich! auch wieder ein reines "Konstrukt" ist - neben den "Originaldrucken" von den verschiedenen anno dunnemals für baffzig Millionen aufwärts pro Stück [die dann natürlich im temperierten Safe gebunkert werden und die NIE jemand liest] geht es den "Bibliomanen" nämlich dabei meist um die "modernste" Fassung, die noch "am meisten" der Originalfassung angenähert ist und damit um zum Beispiel diejenigen Ausgaben von rund 1810-30 - die selbstverständlich auch schon tausendfach editiert sind)

Mit Rückbezug auf den Feuilletonisten-Fauxpas kann auf jeden Fall das [Gebrauchsargument] als ungültig verworfen werden. Mit Ausnahme extrem randseitiger literarischer Formen ("Tagebuch"- und "Brief"-Literatur ohne Veröffentlichungsabsichten durch Autor) hat das [Gebrauchsargument] letztlich keinen spezifizier- oder abgrenzbaren Gegenstand, weil selbstverständlich auch artifiziellste Veröffentlichungen immer (auch) Marktobjekte sind. Das Argument schützt kein einziges Werk und hindert keine einzige Edition.

Es verbleibt das einzig "heikle" Argument [Präformation], das auch real alle Aufregerei überhaupt erst verursacht. Dabei scheint mir wichtig und interessant, dass es sich dabei um ein völlig "Literatur-fernes" Argument handelt und eindeutig eine perspektivrelative Haltung voraussetzt, um irgendeine "Gültigkeit" zu beanspruchen. Denn es setzt eine Art "psychologische Modellannahme" voraus (deren "moderne" Ursprünge leicht erkennbar sind), die darauf abstellt, dass frühkindlich rezipierte Erfahrungstatbestände (und seien es auch nur wie hier im Zusammenhang einzelne "Wörter"!) auch unvermeidliche! mittel- und langfristig! wirksame! habituelle! Strukturformierungen! verursachen! (die einzelnen nervigen Ausrufezeichen/Unterstreichungen hier sollen in diesem auf radikale Kürze runtergebrochenen Halbsatz deutlich machen, dass jedes einzelne der  markierten Wörter in der "Hypothese" unverzichtbar ist, um der Annahme den notwendigen Anspruch zu verleihen).

Ich will mich an dieser Stelle gar nicht erst darüber auslassen, warum eine enorme Anzahl an Menschen an solche Modelle "glaubt" und ob dergleichen sinnvoll ist oder nicht. Es reicht hier vollkommen aus darauf hinzuweisen, dass solche Modelle auch in anderen Diskussionen regelmäßig aufkommen (z.B. "Schul-Massenmorde" -> Ballerspiele oder "weil die Täter Marylin-Manson- oder Gorgoroth-Fans" sind) und dann in der Regel abgewiesen werden müssen. Von vielen Fachleuten wird bei solchen Diskussionen immer wieder und wieder darauf hingewiesen, dass die Ursache für solche eindimensionalen kausalen Verknüpfungen wesentlich eher in der förmlichen "Sucht" menschlicher Gehirne zu suchen ist, zu allen Phänomenen unbedingt "einfache" Erklärungsmuster zu suchen und notfalls zu konstruieren. Das kann alles hier im Zusammenhang aber völlig unentschieden offen bleiben, denn eins steht völlig zweifelsfrei fest: Es gibt absolut keine belastbare Datenlage, geschweige denn prüfbare Methode, um von einzelnen Wörtern in einem frühkindlich rezipierten Text auf eine verwirklichte habituelle Struktur Jahrzehnte später zu kommen.
Behauptet man so einen Zusammenhang, dann sei das gerne der jeweiligen einzelnen Stimme zugestanden, aber "belegen" - und damit allgemeinverbindlich ausgestalten - kann der Behauptende seine Modellannahme auf gar keinen Fall. Wie man es auch dreht und wendet: Es führt kein direkter Weg von "Bullerbü" zum "Rassisten". Dieses Argument liefert einem Behauptenden keine Handlungsvollmacht irgendeinem Text gegenüber.

Was bleibt?

Ich glaube, dass diejenigen Diskussionsteilnehmer, die so etwas wie das [Präformationsargument] in Diskussionen über "Kinderbücher" vertreten, vor einem wirklich grundsätzlichen und ernsten Problem stehen (wenn sie ihre eigene Position "ernst" nehmen). Denn es ist doch letztlich mit der Redaktion einzelner "Wörter" in "Klassikern" nicht getan - für solche Leute kommt bestenfalls nur eine komplette "Nacherzählung" in Übereinstimmung mit ihren Weltsichten infrage und im Grunde eigentlich nur zeitaktuelle Lektüre, die ihren diversen Ansichten wenigstens einigermaßen entspricht.
Und wenn sie aus welchen Gründen auch immer darauf bestehen, dass ihre Kinder auch die "Klassiker" kennenlernen, dann brauchen sie speziell aufgelegte und auch als solche erkennbare Editionen, die unter "normaler" Perspektive rein gar nichts mehr mit dem "Urtext" zu tun haben dürfen (z.B. dürfte sozusagen "Die kleine Hexe" schon gar nicht mehr so heißen). In größerem Zusammenhang gesehen stehen Eltern mit einem derartigen Anspruch an sich und ihr Erziehungsgebahren vor enormen Anforderungen - denn immerhin müssten sie bis mindestens in die frühe Jugend hinein auch die curriculare Kindergarten- und Schullektüre entweder "verhindern" oder aber mit entsprechendem Aufwand erzählerisch ausdeutend mit dem Kind "nacharbeiten". Da bekommt der Begriff "propeller parenting" gleich eine Bedeutung, die jedem Einzelnen die schwere Aufgabe im vorhinein bewußt machen sollte. Ich will mich hier wirklich nicht über solche Leute und ihre Weltsichten lustigmachen oder ihre Ambitionen bewußt ins Lächerliche ziehen - in solchen Dingen kämpft jeder für sich allein und jeder muß eben zusehen wo er bleibt. Worauf ich hier hinweisen will ist nur, dass diese Argumentation hinsichtlich der editierenden Redaktion von "Kinderbuch-Klassikern" den Argumentierenden nicht das Gewünschte einbringt und solche Leute ganz andere Wege verfolgen müssen.

Nicht hindern kann der Käufer/(Vor-)Leser die von Autor, Lektorat und Rechtehaltern im fortlaufenden Produktions- und Auflagenprozess erfolgenden Änderungen/Adaptionen. Als Folge daraus muß man sich unter Umständen darum bemühen, auf den Speicher zu klettern und die eigenen Schwarten von vor fuffzich Jahren rauskramen und entstauben, wenn man seinem Enkel das damals heißgeliebte eigene Kinderbuch nahebringen möchte. Und dran denken: Es gibt keine Gewähr dafür, dass es dem Enkel, den Enkelelternteilen oder einem selbst auch noch gefällt, was man da mit großer Pose hervorkramt ;-)

Die "3. Art" hat übrigens den Evaluationstest mit hohen Punktwerten bestanden, ist mir ziemlich schnell auf die Schliche gekommen und hat mich im Zusammenhang ganz schön auf die Schippe genommen, das Luder, das damische.
every time you make a typo, the errorists win

Truhe

Mal schauen, wann aus denselben "Gründen" alle Musikaufzeichnungen neu eingespielt werden. Das bereits erfolgende Remastering nehme ich da mal aus, solange es erfolgte um ehemals vorhandene Limitierungen an Technik/Budget auszubügeln.

Encredechine

Zitat von: sweeper am 06. Juni 2014, 20:25:25
gibt es hier Foristen, die Dawkins zustimmen, und was hätte das für praktische Konsequenzen?

Oder falls keine Zustimmung besteht (immerhin unterstellt er hier mirnichts - dirnichts mal eben eine Kausalität, ausgehend von einer persönlichen Anekdote ^^ ), was könnte man ihm gut begründet entgegensetzen?

Vernünftige Eltern werden rechtzeitig einfließen lassen, dass eine Geschichte eben nur eine Geschichte ist und nichts mit der Realität zu tun haben muss. Ist das nicht selbstverständlich? Es darf halt auch nicht dauernd Fasching im Kopf der Eltern sein.

Superkalifragilistisch

Zitat von: sweeper am 07. Juni 2014, 10:40:09
Dawkins Hauptfehler besteht darin, dass er anscheinend davon ausgeht, ohne äußere Einflußnahme würde ein Kind kein magisch-animistisch-egozentristisches Denken entwickeln.
Dabei ist es ein typisches Phänomen der kognitiven Entwicklung - das kann man auch völlig wertfrei konstruktivistisch beschreiben.

Das Problem (auch aus kinderpsychiatrischer Sicht) sind die Menschen, die diese Phase irgendwie nicht wirklich ablegen (sich in Eskapismus und ständige Tagträume flüchten) oder die später aus Gründen, die zu klären wären, in eine magisch-esoterisch-VTgeneigte Sichtweise zurückfallen.
Hallo sweeper

1) Das ist der Punkt, an dem ich anderer Meinung bin. Der Animismus lässt sich eben gerade nicht aus dem Konstruktivismus verstehen. Zunächsteinmal: Ich halte ,,den Konstruktivismus" nicht an sich für Schwurbelei, ganz im Gegenteil. Der Konstruktivismus beschäftigt sich mit Wahrnehmungs- bzw. Handlungsschemata. Daß Narrative/Ideologien ,,sozial konstruiert werden" ist wahr - ebenso wie daß feministische Pseudogesellschaftskritiker/innen diesen Ausdruck so inflationär mit ihren Dämonisierungen vermischt haben, daß es schwer ist, es den Kritikern übel zu nehmen, wenn sie den ganzen Konstruktivismus und das Konzept der Viabilität in eine Ecke mit dem Solipsismus stellen. (Dabei sollten sie das mal lieber mit dem Placebobegriff tun, der tatsächlich in diesem Sinn völlig unbrauchbar geworden ist)

Der Animismus jedenfalls ist Angelegenheit der Ontologie bzw. Metaphysik (aktiv-personaler bzw. sachlich-verbaler Kausalbegriff; zu jeder ,Tat' wird ein ,Täter' hinzuerdichtet, der Pantheismus stellt sich die Natur als quasi-göttliches Subjekt vor). Der Kübernetiker würde wohl soetwas wie ,,first order cybernetics" schwurbeln. Ein Linguist würde ,,parole" sagen. Der Konstruktivismus aber, weil er sich mit Symbolen von formalen Sprachen bzw. Codes beschäftigt, nur ,,second order" sein - ein Linguist würde ,,langage" sagen.

2) Ich verstehe nicht, wie Du meine Rezeption von Deinen Beiträgen so zurückweisen kannst. Du machst doch mehr als deutlich, daß ,Animismus' für Dich ein Problem ist, das es durch einen ,Mangel', eine ,Privation' gekennzeichnet ist. Der Begriff ,magisches Denken' überführt das Problem bereits in einen solchen argumentativen Rahmen und ist exakt das, was der Prozeß der ,Zivilisation' und moralischen Verbesserung des Menschen austreiben sollen.

Wenn von Glasersfeld und meinetwegen auch der Herr Piaget nun ihren Konstruktivismus an der Richtschnur des moralisch-sittlichen Entwicklungpostulats ausrichten, so kommt das, wie ich meine, dem Konstruktivismus als etwas äusserliches hinzu - und zwar zu dessen eigenem Nachteil. Was passiert so gut wie jedes mal wenn wir Erkenntnistheorie mit Moral vermischen? Es führt dazu, daß das Suffix ,-therapie' nicht weit weg ist. Siehe die Therapien für ,,nicht-psychisch-kranke" von Maturana und Varela. Siehe die ganzen ,,systemischen" Therapien. Siehe die Psychoanalyse, die gleichzeitig Erkenntnistheorie und praktische Therapie sein möchte.

Beobachtungen, wann
Zitat
Säuglinge [...] anfangen mit den Augen fixieren, ihre Kopfhaltung kontrollieren, sich drehen, robben, krabbeln, sich aufrichten,
behaupte ich, ist - so wie die Traumdeutung - eine Methode des Hereinlesens in etwas, und zwar in solcher weise, wie sie der Konstruktivismus eigentlich kritisieren sollte.

Viele Grüße
"Umgekehrt mußte die Psychoanalyse manchen enttäuschten Adepten eines vulgarisierten, auf eine ökonomisch-soziale Theorie reduzierten Marxismus als Bereicherung erscheinen."

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