Schon Szasz (1990) hat das Gleichsetzen von seelischer und physischer Krankheit als irreführend bezeichnet.
http://verhalten.wordpress.com/2014/06/25/psychische-krankheiten-kritik-und-differenzierte-betrachtung/
Der Streit zwischen „Psychikern“ und „Organikern“ ist so alt wie die wissenschaftliche Psychiatrie selbst. Sie begann Mitte des 19. Jhd. (z. B. Heinroth, Ideler), die eine romantische Psychiatrie vertraten. Die Griesinger-These „Geisteskrankheiten sind Gehirnkrankheiten“ war demgegenüber ein Fortschritt. Ihren großen Erfolg feierte sie mit der Aufklärung der Progressiven Paralyse (prominenter Patient z. B. Nietzsche) als Manifestation der Syphilis. Im frühen 20. Jhd. wurde aber zunehmend klarer, dass der Optimismus, das Substrat „der“ Geisteskrankheiten aufdecken zu können, nicht so einfach einzulösen ist. Selbst Jaspers, einer der Begründer der klassischen deutschen Psychiatrie, hatte sich in seiner psychopathologischen Spätphase von der Vorstellung psychiatrischer Krankheitsentitäten verabschiedet.
Langfristig hat es immer Wellen gegeben, in denen mehr die eine, mehr die andere Vorstellung in der Psychiatrie die Vorhand hatte.
Niemals aber hat es später Phasen gegeben, in denen einer der prinzipiellen Ansätze Ausschließlichkeit hätte beanspruchen können. Auch in der klassischen deutschen Psychiatrie war anerkannt, dass nicht jede psychische Auffälligkeit eine Krankheit ist; die Systematik (das triadische System) beruhte geradezu auf dieser Erkenntnis. Für K. Schneider handelte es sich bei den abnormen Erlebnisreaktionen (später: Neurosen, heute: Anpassungsstörungen) und bei den Psychopathien (heute: Persönlichkeitsstörungen) um „abnorme Spielarten menschlichen Wesens“. Um diese kümmerten sich die Psychiater höchstens gezwungenermaßen. Psychoanalyse und Psychotherapie spielten deshalb nur eine höchst untergeordnete Rolle. Das „Gleichsetzen von seelischer und physischer Krankheit“ ist also ein Popanz; eine solche Psychiatrie hat es nie gegeben.
Wenn es eine Erkenntnis in der Psychiatrie gibt, die dem Laien a priori, mangels eigener Kenntnis und Erfahrung, verschlossen ist, dann ist es diese: die Symptomatik des Kernbereichs der Psychosen ist nicht aus dem Erleben des Kranken ableitbar. (Zu den Laien müssen hier die Sozialpsychologen und Behavioristen hinzugezählt werden, die es entweder nicht mit Kranken zu tun haben oder die die Psychiatrie nicht kennen). Der anklagende Verweis auf die „fehlenden Biomarker“ ist ein bloßes Geschwätz, er taugt nicht zur Definition oder zum Ausschluss von Krankheit.
Allerdings brachte das Fehlen eines Außenkriteriums für psychische Krankheiten es unausweichlich mit sich, dass die psychiatrische Diagnostik bis in die 80er Jahre stark schulenabhängig war, m. a. W. es gab nur eine geringe Interrater-Reliabilität. Unter der Vielzahl von Gründen, die zur Einführung des Kriterienkatalogs des DSM-III geführt haben, war dies ein wesentlicher. Die aktuelle Kritik am DSM 5 scheint mir zu einem Großteil Folklore zu sein.
Wie fragwürdig das Konzept der „psychischen Krankheit“ überhaupt ist, erkennt man beim Blick in die Vergangenheit. Nicht nur homosexuelles Verhalten…
Der Friedhof der abgelegten Krankheitskonzepte in der Psychiatrie ist nicht größer als derjenige in der somatischen Medizin. Nur wo es keine Entwicklung, keinen Fortschritt gibt, können alte Konzepte komplett tradiert werden.
Nach Virchow ist eine Krankheit durch folgende Merkmale gekennzeichnet: Es gibt eine spezifische Ursache, diese Ursache führt immer zu der Erkrankung und die Erkrankung wird schlimmer, wenn sie nicht behandelt wird.
Ich kann mir kaum vorstellen, dass Virchow je einen solchen Unsinn gesagt hat: natürlich gibt es Krankheiten mit guter Spontanprognose.