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@Stimmviechs Thesen zur Sinnlosigkeit der Forensik

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Begonnen von sweeper, 16. Januar 2014, 13:41:06

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Typee

Zitat von: stimmviech am 02. Mai 2014, 15:06:45
Im aus dem 19.Jahrhundert stammenden Schuldstrafrecht (?) mit seinem Postulat der Willensfreiheit. An die ich nicht glaube. Für mich ist letztlich jeder "schuldunfähig". Da aber zur "Selbsterziehung" einer Gemeinschaft Strafen nötig sind,würde ich den Begriff ganz rauslassen,sozusagen jeden für schuldfähig erklären.


Erstens: Das Modell einer Erziehbarkeit ohne auch nur die Möglichkeit einer Willensfreiheit verstehe ich offen gesagt nicht. Wie erzieht man einen Automaten?

Zweitens: Wenn wir generell eine ausnahmslose vollständige Schuldfähigkeit annehmen - meinst Du fingieren, weil Du Dir darin selbst nicht ganz sicher bist? - dann landen eben alle als vollverantwortliche Täter im gewöhnlichen Knast. Und dort stellt sich die Frage, wer da eigentlich noch erziehen soll und wie. Oder soll die "Erziehung", die Du meinst, gar nicht durch die Sanktion, sondern alleine durch die Norm, also durch Verbot und Strafdrohung, erfolgen? Da kann ich Dir etwas verraten: das funktioniert nicht. Entweder es gibt befolgte Normen, oder es gibt Knäste.

Drittens: Natürlich kann man so tun, als sei mehr oder weniger jeder Rechtsbrecher ein voll verantwortlicher Täter, auch wenn's nur eine Fiktion ist. Es gibt auch Länder, in denen man da wesentlich weniger Federlesens macht als in Deutschland. Dann muss man aber auch bereit sein, zwei Dinge dafür zu akzeptieren: so ähnlich wie in den USA etwa 2 % der männlichen Population unter Bedingungen der Käfighaltung unter Verschluss zu nehmen; und die dortigen Rückfallquoten. Das wäre kein guter Tausch.
The universe is under NO obligation to make sense to us
(Neil deGrasse Tyson)

pelacani

Zitat von: sweeper am 02. Mai 2014, 13:01:06
Zitat von: stimmviech am 02. Mai 2014, 12:44:20
@sweeper: Zitat aus dem Pfäfflin-Gutachten: Er war durchgängig konzentriert, formal und inhaltlich wirkte er im Denken im
Wesentlichen geordnet, allerdings auch etwas konkretistisch.
Genau solch unklaren subjektiven Bewertungen finden sich in den heutigen Diagnosen wie auch in denen vor 30, 50 100 Jahren.
...
Nun ist der von dir zitierte Satz keine Diagnose, sondern eine Beschreibung.
Das ist nicht ganz exakt. Diese "Beschreibung" ist ein psychopathologischer Befund. Die Systematik solcher Befunde geht auf Jaspers, Allgemeine Psychopathologie, 1. Aufl. 1913, zurück; noch heute aufgelegt und z. B. über amazon zu haben. Das scheint bei den 300 Büchern Psychiatrie nicht dabei gewesen zu sein.

Das Problem solcher Befunde ist es, dass die jeweils verwendeten Begriffe bereits eine bestimmte Diagnose nahelegen. Beispielsweise lässt der Begriff der "Affektstarre" den Kundigen sogleich an eine Schizophrenie denken, und im Nachhinein wird nicht mehr klar, ob der Untersuchende zuerst gedacht hat: "ah, schizophren", und danach seinen Befund gestaltet hat.
Die Kunst in der Befunderhebung besteht darin, Fachtermini weitgehend zu meiden. Von ihnen wird der Befund uniformiert, die Individualität des Berichts wird verwischt, und für den Leser wird er schlechter nachvollziehbar.

sweeper

@Pelacani:
Das ist korrekt, was du schreibst.
Ich wollte den Begriff "psychopathologischer Befund" aber aus gutem Grund vermeiden, weil er dem Laien etwas suggeriert, was eben - wie du gut ausführst - vermieden werden soll:
nämlich eine bestimmte Pathologie von vorn herein zu unterstellen.

Ein neutraler Ausdruck wäre da passender.
Aber du thematisierst damit indirekt etwas, das mir am Herzen liegt.
Dr.Hesse, Forensische Klinik Moringen, hat in der Podiumsdiskussion mit Prof.H.E. Müller angemahnt, dass die Gutachtentexte plausibel sein müssen. Das bedeutet: die gestellten Diagnosen bzw die zu ihnen führenden Befunde und Psychodynamiken müssen stringent sein.

Nun ist es ja so, dass die Gutachten mündlich erstattet werden und wir daher vermutlich nur eine verkürzte Form in den schriftlichen Versionen bei Strate haben.
Es ist ein Novum, dass Gutachtentexte einer breiten ungeschulten Öffentlichkeit vorliegen.
Vielleicht ist es ein gesunder Impuls, künftig auf ausführlichere und plausible Begründungen zu achten.

Hier die stichwortartige Passage meiner Mitschrift;
Zitat
Was kann man über Gutachter sagen?
Zu wenig klinische Erfahrung!
Keine Vorstellung davon, was Psychotherapie leisten kann

Kein psychodynamisches Verständnis ->die Tat als Symptom der Psychopathologie
Keine differenzialdiagnostische Erläuterung und Gewichtung im Gutachten
ohne Gewähr auf Vollständigkeit
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Terry Pratchett

pelacani

Zitat von: sweeper am 02. Mai 2014, 17:41:58
Vielleicht ist es ein gesunder Impuls, künftig auf ausführlichere und plausible Begründungen zu achten.

Hier die stichwortartige Passage meiner Mitschrift;
Zitat
Was kann man über Gutachter sagen?
Zu wenig klinische Erfahrung!
Keine Vorstellung davon, was Psychotherapie leisten kann

Kein psychodynamisches Verständnis ->die Tat als Symptom der Psychopathologie
Keine differenzialdiagnostische Erläuterung und Gewichtung im Gutachten
ohne Gewähr auf Vollständigkeit
Ich finde das, ehrlich gesagt, schon ein bisschen anmaßend. Post hoc ist Klugheit eimerweise zu haben. Die Gutachten waren nicht darauf angelegt, in die Annalen der Geschichte einzugehen, sondern die Antwort auf eine Frage des Gerichts vorzubereiten. Forist Tyko hat ja darauf hingewiesen, dass er den Gutachter einem hochnotpeinlichen Verhör unterzogen hätte. Mich hat ein bisschen verwundert, dass er dem Zeugen Westenrieder kein Versäumnis vorgeworfen hat.

sweeper

Nein, das bezog sich nicht auf die Mollath-Gutachten (zu denen hat Dr. Hesse nichts gesagt wie auch zur Causa Mollath so gut wie nichts).
Es ging grundsätzlich um die gutachterliche Praxis - wie das vonstatten geht und welche Schwierigkeiten dabei auftauchen können.
Ein sehr engagierter Vortrag von einem empathischen Psychiater der "neuen Generation" .
Müller wirkte doch recht farblos gegen ihn ;)

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stimmviech

Die Strafe als aversive Konditionierung wirkt doch unabhängig vom "freien Willen" beim Tatentscheid. In den USA ist bezüglich der Extremtäter die Rückfallqote 0. Denn solche Leute kommen nie mehr frei mit über 100 Jahren Haft. Statistisch kaum ein Unterschied zu uns,aber für den Normalmenschen befriedigender. Die Deutschen fühlten sich auch wohler- sie trauen sich wegen der nationalsozialistischen Schuld aber nicht,Härte zu wollen.Soviel zum "freien Willen".  :grins2:

sweeper

Zitat von: stimmviech am 02. Mai 2014, 19:05:00
Die Strafe als aversive Konditionierung wirkt doch unabhängig vom "freien Willen" beim Tatentscheid.
Aber doch nur in manchen Konstellationen.
Siehe unter "Negative Generalprävention":

http://www.krimlex.de/artikel.php?BUCHSTABE=&KL_ID=74

Da kann vielleicht Freiherr von und zu Mesmer mit aktuellen Daten weiterhelfen?
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Terry Pratchett

sweeper

Die Sicherungsverwahrung soll ja dem Ziel einer Prävention und Schutz der Bevölkerung dienen.

Zu den Hintergründen und dem rechtlichen Hin-und Her hat Wikipedia:

http://de.m.wikipedia.org/wiki/Sicherungsverwahrung

Übrigens scheint die Sache mit den Fußfesseln nicht so ganz unproblematisch zu sein - siehe hier:

http://m.welt.de/article.do?id=vermischtes/article123440986/Schwerkriminelle-zerstoert-Fussfessel-und-legt-Feuer&cid=
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stimmviech

Sicherungsverwahrung und Forensik haben ja durch das Therapieprinzip Lücken,die vom Täter durch Lügen genutzt werden können. Im Vergleich zur US-Dauerhaft überzeugt mich das nicht.

sweeper

Mein Zwischenfazit:
Es gibt eine ungeklärte Ambivalenz in der Bevölkerung, etwa dergestalt:
Bei Sexualstraftätern und Kinderschändern soll Schröders Satz vom lebenslangen Wegsperren gelten (Gutachter sind verantwortlich, dass die auch ja nicht rauskommen und wehe, wenn doch und es passiert was)
Alle anderen sollen faire Chancen bekommen, und die Gutachter sind dafür da, dass keinem Unrecht geschieht - wehe wenn doch!

Diese Ambivalenz darf nicht als Projektion den Gutachtern aufgebürdet werden, nur weil sich die Gesellschaft hier um eine klare Position herumdrückt - oder eher mit deinen Worten:
die Gesellschaft setzt "gläubig" die Gutachter ein, um "zu lösen oder zu binden", also über Entlassung oder Verbleib zu entscheiden. In diesem Punkt stimmt das vielleicht mit der Ersatzreligion.

Nur fürchte ich, dass die Psychiater - also die nun mal primär zur Gruppe der Ärzte Gehörigen, denen der Strafvollzug und das Verwahren eigentlich mit der Berufsethik in die Quere kommt - außer vielleicht einigen wenigen und fiktiven Despoten, die dort ihr Machtproblem ausagieren, aber die gibt es in jeder Berufsgruppe - also dass diese Berufsgruppe jetzt als Buhmann herhalten soll für ein Problem, das die Gesellschaft als Ganzes über entsprechende Gesetzgebung nicht gebacken bekommt.
Entsprechend wird Stimmung in den Medien gemacht.

Von daher kann ich zwar verstehen, dass du mit der Forensik über Kreuz bist, weil sie diesen ungelösten Konflikt in deinen Augen fortschreibt.

Daraus aber ganz allgemein eine antipsychiatrische Haltung abzuleiten, finde ich problematisch.
In der Praxis gibt es nun mal sehr viele Menschen, die an den Anforderungen des Alltags scheitern und bspw depressiv dekompensieren, in Abhängigkeitserkrankungen rutschen (auf dem Weg der Selbstmedikation) oder altersdegenerative Erkrankungen entwickeln. Die benötigen nun mal fachkundige ärztliche Hilfe.


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F. A. Mesmer

Zitat von: sweeper am 02. Mai 2014, 19:35:48
Da kann vielleicht Freiherr von und zu Mesmer mit aktuellen Daten weiterhelfen?
nope, und ich wollte auch keine suchen  ;)
von härteren strafen halte ich garnichts, gerade auch mit dem Stichwort kognitive Dissonanz.
der effekt von härteren Strafen sind härtere Verbrecher, die härtere Verbrechen verüben, denn sie haben ja schon bezahlt, bzw. wenn schon für immer in den Knast, dann soll es sich auch gelohnt haben...
historisch gab es mehrfach vergleichbare Ansätze, waren allesamt unbefriedigend.

der eigentliche punkt scheint mir der zu sein:
Zitat von: stimmviech am 03. Mai 2014, 08:40:07
Sicherungsverwahrung und Forensik haben ja durch das Therapieprinzip Lücken,die vom Täter durch Lügen genutzt werden können. Im Vergleich zur US-Dauerhaft überzeugt mich das nicht.
die Forderung nach Ehrlichkeit ist ja nun öfters bei stimmviech angeklungen, er mag nämlich keine Lügen. Das ist völlig in Ordnung, allerdings würde ich unterstellen, dass stimmviech nicht nur Lüge/Täuschung und ähnliches nicht mag, sondern damit auch nur mäßig auskommt, selbiges zwar in Notsituationen exzellent beherrscht, das aber nicht ohne Folgen für seine Integrität bleibt und außerordentlich energieintensiv ist, deswegen auch die Beichtstrategie hier und anderswo.

Ich ziehe es vor, mich einer Ferndiagnose zu enthalten, ist ohnehin offensichtlich und hat was Tragisches.

Ganz allgemein: sogar Affen lügen, bei Krokodielen sieht es auch fast so aus, als ob sie zumindest zu einer bestimmten Lüge/Täuschung in der Lage wären.
Totale Lösungen für welche Probleme auch immer, sind leider im Kern totalitär und, zumindest aus nicht-totalitärer Warte, problematisch und unbefriedigend.



stimmviech

@Herr Mesmer: Ja,so kurios das klingt: meine Integrität hat stark gelitten,was mich durchaus nicht freut. Und ja,die Abschaffung der Psychiatrie hätte brutal-radikale Folgen. Nur: die jetzige Welt,in der wir den Auffälligen irreversible neurologische Schäden verpassen,ist genauso radikal. Nur können wir das mittels Verlogenheit (Psychiatrie als "Hilfe") besser verdrängen.

stimmviech

@sweeper Völlige Übereinstimmung bezüglich der widersprüchlichen Haltung der Bevölkerung. Keine Übereinstimmung bezüglich der Verantwortung der Psychiater. Das sind Eliten,von denen erwarte ich,daß sie wegen Unmöglichkeit der gesetzgeberischen Prognosevorgaben den Forensikjob ablehnen. Gegen psychiatrisch/psychologische Hilfe auf wirklich freiwilliger Basis habe ich nichts.

stimmviech

[gelöscht. Personenbezogene Anwürfe dieser Art werden nicht toleriert.  - P.]