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Geisteswissenschaften

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Begonnen von Ladislav Pelc, 25. Januar 2013, 19:39:47

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Ladislav Pelc

Den aktuellen Blog-Artikel möchte ich zum Anlass nehmen, endlich mal eine Frage zur Diskussion zu stellen, die mir schon eine Weile im Kopf "rumspukt":

Wir hatten ja schon häufiger als Thema, nach welchen Regeln Wissenschaft funktioniert und wie man sie von Pseudowissenschaft und Esoterik unterscheiden kann. Dabei geht es natürlich in erster Linie um die Naturwissenschaften. Die meisten hier sind sicherlich wie ich auch eher naturwissenschaftlich interessiert.

Das Flowchart "Science vs. Faith" ist ja recht bekannt, und ich verlinke es nur deshalb nicht, weil es dutzende Male in Internet zu finden ist, ich die ursprüngliche Quelle aber nicht finde.

Sehr grob zusammengefasst läuft es darauf hinaus, eine Theorie aufzustellen und dann Experimente durchzuführen um sie zu überprüfen. Solange die Ergebnisse mit der Theorie im Einklang stehen, wir sie beibehalten; wird sie hingegen widerlegt, so muss sie angepasst oder verworfen werden.

Es gibt nun aber auch die Geisteswissenschaften. Von der Sicht der Naturwissenschaften (und das ist ja die "Seite" auf der ich stehe), hat man gelegentlich den Eindruck, dass die Geisteswissenschaften unbedeutende "Laberfächer" ohne echten Erkenntnisgewinn oder dergleichen seien.

Nicht selten hat man den Eindruck, es gäbe einen unüberwindlichen Graben zwischen Natur- und Geisteswissenschaften, er zwei völlig unterschiedliche Weltbilder mit unterschiedlichen Methoden des Erkentnnisgewinns trennt.

Ich bin aber der Ansicht, dass Geisteswissenschaften wohl nicht nur interessant, sondern auch durchaus wichtig sind oder zumindest sein können. Nur als Beispiel: Ohne die Geschichtswissenschaft hätten wir kaum gesicherte Erkenntnisse darüber, was sich in der Vergangenheit ereignet hat und wie die Menschen damals gelebt haben.

Nun stellt sich mir die Frage: Können für die Geisteswissenschaften vergleichbare "Regeln" aufgestellt werden, wie für die Naturwissenschaften, um erkennen zu können, was seriöses wissenschaftliches Vorgehen ist, und was nicht?

Die gleichen Maßstäbe wie an die Naturwissenschaft scheint man nicht anlegen zu können, denn die Fragestellungen sind oftmals nicht oder nur eingeschränkt einer experimentellen Untersuchung zugänglich.

Allerdings haben wir dieses Problem gelegentlich auch in den Naturwissenschaften. In der Astronomie gibt es zum Beispiel das Problem, dass die weitaus meisten Sterne ein klein wenig zu weit weg sind, als dass man hinfliegen und damit rumexperimentierne könnte. Und für solche Zwecke selbst den ein oder anderen Stern zu bauen dürfte wohl den Etat selbst den bestausgestattetsten Universitäten und Forschungseinrichtungen sprengen, von den dafür sicherlich nötigen Genehmigungen gar nicht erst zu reden. ;) Man muss sich daher zu einem großen Teil auf Beobachtungen beschränken und prüfen, inwieweit diese mit den jeweiligen Theorien in Einklang zu bringen sind. Dennoch wird niemand die Astronomie für eine Pseudowissenschaft halten.

Bei der Geschichtswissenschaft (um das Beispiel von oben aufzugreifen) fällt wiederum auf, dass selbst direkte Beobachtungen nicht möglich sind, da es bis heute an praktikablen Methoden der Zeitreise fehlt. Man ist darauf angewiesen, das, was (in welcher Form auch immer) überliefert wurde, auszuwerten und daraus Schlüsse zu ziehen.

Allerdings begegnet uns das auch in den Naturwissenschaften, zum Beispiel bei der Evolutionstheorie. Zumindest was die Makroevolution angeht, schließen die langen Zeiträume eine direkte Beobachtung weitestgehend aus. Ich stelle es mir zumindest wenig erfolgversprechend vor, Forschungsgelder für ein Projekt mit einer Laufzeit von einigen Millionen Jahren zu beantragen, auch wenn das natürlich ideal wäre für Leute, die sich mit ihrer Doktorarbeit lieber etwas Zeit lassen. ;) Man ist also darauf angewiesen, die rezenten Arten sowie die erhalten gebliebenen Fossilien ausgestorbener Arten zu vergleichen und daraus Schlüsse zu ziehen.

Mir scheint mittlerweile fast, anstelle des Grabens könnte sich womöglich ein Abgrenzungsproblem auftun. ::)

Aber um zur ursprünglichen Fragestellung zurückzukommen: Falls es auch für die Geisteswissenschaften solche "Regeln" gibt, gibt es dann auch "Über-Regeln", die sowohl für die Natur- als auch für die Geisteswissenschaft und somit für jegliches wissenschaftliche Arbeiten gelten? Oder handelt es sich bei Natur- und Geisteswissenschaften um zwei vollkommen unterschiedliche Dinge, die sich nur den gleichen Namen teilen?

Gefährliche Bohnen

Meine erste Assoziation zu dieser Frage ist meine Erinnerung an den Deutschunterricht in der Schule. Die entspricht in etwa nämlich dem, was in den Blogkommentaren schon angedeutet wurde:

Viele meiner Deutschlehrer (meine Klasse hatte einen hohen Verschleiß...) hatten eine gewisse Tendenz, jede noch so dämliche Interpretation eines Textes/Gedichtes mit den Worten "Hm... Das könnte man so deuten..." zu kommentieren. Hauptsächlich vermutlich deshalb, weil sie den bei Schülern äußerst beliebten Vorwurf fürchteten, "nicht offen" für andere Meinungen zu sein und besagte Interpretationen nur deshalb nicht zu akzeptieren, weil sie einen Groll gegen den entsprechenden Schüler hätten. Das Resultat war dann Gelaber, gerade weil manche Schüler nicht begriffen hatten, dass man auch in Deutsch seinen Verstand benutzen darf und sie durch die Lehrer auch nicht eines besseren belehrt wurden.
"Ich muss an dieser Stelle gestehen: Ich mag Karpfen gar nicht." - Groucho
RIP

gesine2

Die Differenzierung Pseudo- und Richtig-Wissenschaft gestaltet sich nicht besonders einfach. Nach der Lektüre jenes ziemlich guten Werkes fühle ich mich zwar in den theoretischen Grundlagen etwas gefestigter, komme aber ebenso wie das Buch zu keiner sichtbaren harten, überall gültigen Trennlinie.

Zitatdie weitaus meisten Sterne ein klein wenig zu weit weg
Ach was, die paar Meter...

ZitatEvolutionstheorie. Zumindest was die Makroevolution
Öhm - die Evolution ist Fakt, eine Unterscheidung in Mikro- und Makro- eigentlich Quatsch (eher wie Makro=Mikro+Zeit), die Evolutionstheorie das Beste, was aktuell zur Beschreibung der Mechanismen der Evolution vorhanden ist.
_____________________
ne schöne jrooß, gesine2

bayle

Eine Frage, über die ich seit längerem nachdenke, und ich habe natürlich keine fertigen Antworten. Ich entsinne mich, dass ich auch schon in der ZEIT Aufsätze über die Sprachlosigkeit zwischen Geistes- und Naturwissenschaften gelesen habe.

Ich selbst bin von Beruf den Naturwissenschaften nahe; mein seit Jahrzehnten intensiv betriebenes Hobby ist aber die Geschichte, von der Antike bis in die Frühe Neuzeit. Ich maße mir deshalb ein Urteil an. Der Unterschied, wie Ladislav Pelc andeutet, liegt tatsächlich in der Methodik – ein Experiment ist in der Geisteswissenschaft nur in Ausnahmefällen möglich. Die Wissenschaft in der Geschichte besteht darin, die bekannten Fakten in ein möglichst plausibles System zu bringen. Hier kann viel Scharfsinn investiert werden. Gelegentlich sind die Spekulationen tollkühn, und dennoch ist es schwer, ihnen zu widersprechen.

Damit zusammen hängt ein weiterer Unterschied: der Zeithorizont. Man ist in den Geisteswissenschaften nicht selten gehalten, sich mit Autoren auseinanderzusetzen, die seit 100 oder 200 Jahren tot sind. Das gibt es so in der Naturwissenschaft nicht.

Meine erste, vorläufige Überlegung zu dieser wichtigen Frage ist also: eine Klammer der Wissenschaften ist Ockhams Rasiermesser, und eine zweite ist die Messung an der Empirie, soweit sie möglich ist. Ein Beispiel. Es gibt ein Buch von Cyril Aldred: ,,Akhenaten. King of Egypt" (Thames and Hudson, London, 1988). Dieses Buch besteht aus 4 Kapiteln. Auf 150 Seiten werden ,,einfach" Grabungsbefunde detailliert referiert, und erst auf den letzten ein, zwei dutzend Seiten wird eine Synthese versucht, wie die Herrschaft Echnatons tatsächlich abgelaufen sein könnte. Diese Kapitel sind von hohem literarischen Rang und bauen auf der reflektierten Kenntnis der nachfolgenden 3000jährigen Menschheitsgeschichte auf. Man wird diesem Werk das Attribut der Wissenschaftlichkeit nicht absprechen können, auch wenn keinerlei ,,Experiment" darin vorkommt.

Natürlich, die Anzahl der Bücher, die sich mit Echnaton mit wissenschaftlichem Anspruch auseinandersetzen, ist für den einzelnen unüberschaubar, und ein anderes Beispiel wäre Franz Maciejewski: ,,Echnaton. Zur Korrektur eines Mythos", Osburg, Berlin 2010. Trotz des anspruchsvollen Titels besteht es im wesentlichen aus psychoanalytischen Spekulationen über die Dynamik der Familiengeschichte Echnatons. Das ist etwas ganz Anderes.

Dies ist eine sehr spezielle Antwort, aber vielleicht gibt es heute keine allgemeingültige Antwort mehr, die für ,,alle" Geistes- und Naturwissenschaften gilt.

Dr. Ici Wenn

Bei dieser Frage ist es sinnvoll, sich mit der Geschichte der Universitäten vorab zu befassen.
Einstieg:

http://de.wikipedia.org/wiki/Geschichte_der_Universit%C3%A4t#Mittelalterliche_Universit.C3.A4ten

Diese Animositäten zw. "Geist" und "Natur" haben eine lange Geschichte. Es ist im Prinzip die Entwicklung von "Recht hat, wer besser überzeugt" hin zu "Recht hat, wer die Welt exakter und stimmiger beschreibt".

ca55i0peia

Nun, die Frage sollte ja sein, was stellt man mit seinem Wissen an. Charles Darwin war beispielsweise (ausgerechnet) studierter Theologe und erschütterte dennoch die Grundfesten der Kirche mit seinen naturkundlichen Untersuchungen.
Auch Geisteswissenschaftler müssen ihre Thesen belegen.
Einem Kommentar unter dem blogpost möchte ich mich anschließen: "Was wir brauchen, ist eine Solidarität und produktive Kritik zwischen den Wissenschaftlern aller Fächer gegen die Schwätzer aller Fächer."
Wenn ich einen Patienten habe, kann ich nicht nur anatomische und physiologische Fakten berücksichtigen; ich sollte -idealerweise- auch eine Ahnung davon haben, wie der Mensch denkt und lebt und in welchem Umfeld.
Statt Natur-und Geisteswissenschaften ständig gegeneinander auszuspielen, würde ich lieber nach Schnittmengen Ausschau halten.

Belbo zwei

Solange die Geisteswissenschaftler erkennen dass Ihre Datenlage meist sehr schwammig ist, und desshalb Ihre Thesen auch mit einer gewissen Vorsicht formulieren, ohne gleich wieder eine neue Religion oder Ideologie daraus ableiten zu wollen besteht ja auch kein Problem.

ca55i0peia

@belbo: das setze ich natürlich voraus. ;)

hier ein schöner Artikel zum Thema:
Michael Klein, Ernst-Theodor Rietschel: Schnittstellen zwischen Geistes- und Naturwissenschaften

http://www.bpb.de/apuz/30124/schnittstellen-zwischen-geistes-und-naturwissenschaften?p=all

ca55i0peia

PS: Matthias Rath ist auch promovierter Mediziner, Axel Stoll Geologe. In der 911-Truther-Szene gibt es Physiker (zb Steven E. Jones).
Bildung schützt nicht immer vor Torheit. ;)
Und daher halte ich den Satz "Das Ziel müsse es sein, Verstand und Vernunft in ein angemessenes Verhältnis zu bringen. " aus dem verlinkten  Artikel für hervorhebenswert.

Belbo zwei

Zitat von: ca55i0peia am 26. Januar 2013, 12:17:21
@belbo: das setze ich natürlich voraus. ;)

hier ein schöner Artikel zum Thema:
Michael Klein, Ernst-Theodor Rietschel: Schnittstellen zwischen Geistes- und Naturwissenschaften

http://www.bpb.de/apuz/30124/schnittstellen-zwischen-geistes-und-naturwissenschaften?p=all

Wichtig ist es eben sich vor Selbsttäuschungen zu schützen, auf Grund der Untersuchungsgegenstände ist das bei den Geisteswissenschaften eben schwerer was ja nicht heissen muss dass man daran nicht arbeiten kann.....

Binky

ZitatGrabungsbefunde detailliert referiert,

Ich weiß nicht, ob Du das den Gesteswissenschaften zurechnest. Ich sehe das nicht als eine solche, denn Ärchäologie arbeitet mit naturwissenschaftlichen Methoden und versucht auf empirischem Weg, anders geht es ja nicht, Vergangenes zu rekonstruieren.

ca55i0peia

Zitat von: Binky am 26. Januar 2013, 13:34:51
ZitatGrabungsbefunde detailliert referiert,

(..) Ärchäologie arbeitet mit naturwissenschaftlichen Methoden und versucht auf empirischem Weg, anders geht es ja nicht, Vergangenes zu rekonstruieren.

Die Rekonstruktion erfordert aber auch immer Interpretation, beispielsweise wenn die Archäologie auf Lücken stößt. Das wiederum braucht (auch) geisteswissenschaftliche Methodik. Ich bleibe dabei: beide Richtungen bedingen sich gegenseitig. Wichtig ist die Offenheit gegenüber (Selbst-)Kritik und -wenn nötig- bereitschaft zur Veränderung der Ansichten über einen Sachverhalt, sobald jemand anderes die besseren Argumente/Erklärungen vorweisen kann.

Binky

Ca55i, dagegen sage ich auch nichts. Wer unter Geisteswissenschaft Sloderdijk und Precht  subsummiert, hat sich noch nicht genug mit dem Thema beschäftigt.

bayle

Echnaton ist nicht nur ein archäologisches Thema. Er ist in jeder Weise faszinierend, und schließlich galt (und gilt) er als Begründer des Monotheismus, sozusagen als Moses-Vorläufer. Bei seiner Interpretation kann man sich mehr auf die Fakten (d. i. hier: Grabungsbefunde) beziehen oder eben weniger. Insofern denke ich schon, dass er in diesem Zusammenhang genannt werden kann. Aber war ja nur ein Beispiel, ich würde das nicht mit Klauen und Zähnen verteidigen.

ZitatWer unter Geisteswissenschaft Sloderdijk und Precht subsummiert, hat sich noch nicht genug mit dem Thema beschäftigt.
Das seh' ich aber ganz genau so!

ca55i0peia

Auch Kulturwissenschaftler führen soziologische/statistische Studien durch.  Linguisten arbeiten auf Grundlage von biologisch-neurowissenschaftlichen, usw Erkenntnissen. etcpp. Ist ja nicht so, dass die GeiWiss ihr täglich Brot durch unbelegte Laberei erarbeiten. ;)