Neuigkeiten:

Wiki * German blog * Problems? Please contact info at psiram dot com

Main Menu

Warum sind Ärzte für Paramedizin anfällig

Postings reflect the private opinion of posters and are not official positions of Psiram - Foreneinträge sind private Meinungen der Forenmitglieder und entsprechen nicht unbedingt der Auffassung von Psiram

Begonnen von bayle, 21. September 2012, 16:18:14

« vorheriges - nächstes »

bayle

Es läuft gerade ein anderer Faden mit dem Titel ,,Wie ähnlich sich Ärzte und (alternative) Heiler doch sind". Ich möchte die Frage mal umformulieren: ,,Warum sind Ärzte für Paramedizin anfällig", und meine vorläufigen Gedanken zur Diskussion stellen.

Thomas Grüter vertritt in seinem Buch "Magisches Denken" (Fischer, Frankfurt/M. 2010) die These, die Anfälligkeit von Ärzten für die Paramedizin hänge mit der Geschwindigkeit des medizinischen Fortschritts zusammen, dem der niedergelassene Arzt nicht folgen könne, so dass er gezwungen sei, die Lücken mit magischem Denken zu füllen.

Ich glaube aber nicht, dass dieser Aspekt die wesentliche Rolle spielt. Meine Einwände sind:

1. Für die Versorgung der Patienten in Wald und Wiese ist die meiste medizinische Forschung nicht hochgradig relevant; überdies sind 90% der medizinischen Literatur redundant. Vor Ort müssen Entscheidungen anhand der Klinik gefällt werden, und die Klinik ändert sich nicht. Die Interessen von Arzt und Patient sind nie deckungsgleich; im günstigen Fall besteht eine gewisse Überschneidung. Gemeinsam ist beiden aber die prinzipielle Unerträglichkeit des Umstandes, dass die Medizin nicht auf alle Fragen eine Antwort hat, selbst nicht auf scheinbar so triviale wie den Rückenschmerz. Die Berichterstattung in den Medien vermittelt ein falsches Bild von den Möglichkeiten der Medizin. Das soll keine Kulturkritik sein, denn das war schon immer so. Ein kurzer Blick in die Vergangenheit zeigt, dass das magische Denken noch viel verbreiteter war, als der medizinische Fortschritt langsamer war. Letztlich ist es nicht der zu schnelle, sondern der zu schleppende Fortschritt der Wissenschaft, der der Paramedizin Raum und Rechtfertigung gibt. Sie ist der "Gott der Lücke".

2) Ich hatte Gelegenheit, die berufliche Entwicklung einiger Kollegen aus der Ferne zu verfolgen. Es war - wenn auch im Nachhinein - bei einigen nicht überraschend, sie in diese Richtung abdriften zu sehen; die Persönlichkeit des "Betroffenen" (betroffen sind wohl eher die Patienten) scheint mir eine Rolle zu spielen. Ich bin nicht sicher, ob es Fragebögen gibt, die diesen Umstand differenziert erfassen. Meine Arbeitshypothese sieht etwa folgendermaßen aus. Die Summe der Skalenwerte für: 1) Naivität, 2) Ignoranz, 3) Zynismus und 4) Geldgier muss einen bestimmten Cut-off überschreiten; wie hoch der jeweilige Anteil der einzelnen Faktoren ist, scheint mir sekundär. In freier Wildbahn lassen sich alle Mischungsverhältnisse antreffen. Diese Maßzahl muss multipliziert werden mit dem Verhältnis des irrationalen zum rationalen Skeptizismus (Skrabanek). Über Interdependenzen dieser Faktoren bin ich mir noch nicht sicher, aber man beachte, dass der Faktor "Intelligenz" in der Rechnung nicht vorkommt. Ich bin mir vollkommen im Klaren darüber, dass die Hypothese in dieser Form noch nicht öffentlich kommunizierbar ist, sofern man nicht auf ständigen Polizeischutz wert legt.

Dr. Ici Wenn

Ich schätze den Grüter sehr, aber da gebe ich Dir recht. Die Erklärung kommt vom falschen Ende her. Ein Punkt ist, dass wir zwar zwangsläufig eine Rationalität im praktischen Handeln ausbilden müssen (Erst die Hose, dann die Schuhe, und abends umgekehrt), die Rationalität im abstrakten Handeln (ich gebe ihnen jetzt mal dieses Medikament) aber hart erarbeitet werden muss.

Zwangsläufig trifft man in der Praxis (speziell als Arzt, aber auch als sonstiger Handwerker) öfters mal auf Lücken. Und da sehe ich das auch als eher persönliche Veranlagung (inzwischen). Man kann das mit Blackboxes "füllen" (Ambiguitätstoleranz = einfach leer lassen) oder man muss da zwingend etwas Bildhaftes einfügen, manche Menschen müssen das einfach, sonst verzweifeln sie. Ist keine Wertung, nur meine Beobachtung.

Magisches Denken ist keine Neuzeiterscheinung, sondern schon immer Grundlage unseres Hirns, damit werden wir geboren. Unser Problem ist, dass wir uns so komplexe Systeme geschaffen haben, dass wir dort nicht mehr ohne Rationalität weiterkommen.

Rationalität ist in dem Fall als Einsicht in dieses Problem und die eigene Fehlbarkeit zu verstehen, dass das Offensichtliche eben nicht immer das Richtige ist.

Deine Arbeitshypothese finde ich witzig. Und würde ihr erstmal eher zustimmen.

Binky

Ich denke auch auch, daß es der Gegensatz zwischen Berufsalltag und wissenschaftlichem Anspruch der Medizin ist, die einige in eine solche Richung treibt.


bayle

Und ich fürchte, dass es Fachrichtungen gibt, die von vornherein anfälliger sind, z. B.
  • Sportmedizin und Physiotherapie: da sind Doppelblindstudien kaum möglich, und Wunderheiler haben die Öffentlichkeit für sich
  • HNO: die bedauernswerten Kollegen müssen sich fortwährend mit den ebenso rätselhaften wie unbehandelbaren Erkrankungen Tinnitus, Hörsturz und Schwindel herumschlagen (Neulich in "HNO" ein Editorial mit dem Titel "Aktuelle Strömungen in der Therapie des Tinnitus. Die Suche nach dem Stein der Weisen"), und vgl. die Diskussion zum Hörsturz im Dt. Ärztebl. https://www.aerzteblatt.de/archiv/69737 etc. pp
  • Schmerztherapie
  • In der Psychotherapie scheint es einen gewissen grauen Markt zu geben (auch da ist es mit der Messung der Erfolge ein wenig schwierig, und rein evidenzbasiert wäre Psychoanalyse nicht überlebensfähig)

P.Stibbons

Seltsamer Weise gibt es gerade unter Anästhesisten, die vergleichsweise viel messen bzw Studien machen, eine starke Neigung zur Pseudomedizin.

Vor allem, wenn sie sich niederlassen.

Die gute Dame aus Berlin mit Praneohom (Körbler-Kriegsbemalung) ist da keine Ausnahmeerscheinung:

http://www.sanfte-medizin-berlin.de/index.php?mode=UeberMich

http://www.sanfte-medizin-berlin.de/index.php?mode=Praxis&submenu=WeitereInformationen
Zitat
Faszinierende Strichcodes und ihre heilsame Wirkung

Die PraNeoHom ist eine Informationsmedizin, die auf den Forschungen und Entwicklungen des Wiener Elektrotechnikers und Lebens-Energie-Forschers Erich Körbler aufbaut. Sie verbindet die Traditionelle Chinesische Medizin mit den neuesten Erkenntnissen der Bio-Physik und der Radiästhesie. Die inzwischen aus ihr hervorgegangenen Schulen erreichen erstaunliche Heilerfolge.
Das von Erich Körbler® entwickelte Heilungssystem mittels geometrischer Zeichen und Wasserinformierung ist ebenso faszinierend, wie einfach, wie wirkungsvoll.

Schwingungen entscheiden über den Zustand der Materie und damit auch über den Zustand unseres Körpers.

Es ist der Verdienst Erich Körblers, einem Pionier auf dem Gebiet der Lebensenergieforschung, das Zusammenspiel von Körper, Geist und Seele zu begreifen. Die von ihm entwickelten geometrischen Formen können, wenn sie an definierten und energetisch veränderten Punkten (z. B Akupunkturpunkten) angebracht werden, die einströmenden Energien wie Schaltelemente heil bringend verändern.

Alles schwingt, sendet Informationen aus und steht miteinander in Verbindung.
Nach Erich Körblers Lehre können Krankheiten mittels Informationsübertragung wieder in die gesunde Schwingung zurückgebracht werden. Der Körper wird energetisch balanciert und die Selbstheilungskräfte dadurch aktiviert.

Mit diesen Erkenntnissen hat er jahrtausende altes Wissen wieder-entdeckt.

Wieviele Bullshit-Bingo-Treffer haben wir hier versammelt?

bayle

Wahrscheinlich hängt das eher mit der Schmerztherapie als mit der Anästhesie zusammen. Da ist der Placebo-Effekt ja bekanntermaßen am größten, und schnelle, wenn auch nicht dauerhafte, Erfolge sind dem Guru da leicht möglich. "HeilOase - Praxis für sanfte Medizin" - "wie ein Krokodil auf der Regenwiese / Übel wird mir, denk' ich dran" (Renft)

P.Stibbons

O nein: es gibt ausgezeichnete, völlig seriös arbeitende Schmerztherapeuten gerade unter den Anästesisten.

Und die Deutsche Gesellschaft zum Studium des Schmerzes/ Deutsche Schmerzgesellschaft ist sicher beispielhaft in ihrer stringent evidenzbasierten Haltung.

Natürlich ist die Schmerztherapie ein sehr komplexer, fachübergreifender  Bereich der Medizin - meist hat man es mit chronischen Leiden und Multimorbidität zu tun. Der psychologische Faktor ist auch nicht zu unterschätzen, denn chronischer Schmerz spielt sich vor allem "im Kopf" ab - was nicht abwertend gemeint ist, sondern die Problematik der Bahnung beschreibt.

All das kann man aber seriös untersuchen.

Dr. Ici Wenn

Zitat von: bayle am 21. September 2012, 18:23:48
Wahrscheinlich hängt das eher mit der Schmerztherapie als mit der Anästhesie zusammen. Da ist der Placebo-Effekt ja bekanntermaßen am größten, und schnelle, wenn auch nicht dauerhafte, Erfolge sind dem Guru da leicht möglich.

http://de.wikipedia.org/wiki/Hans-Wilhelm_M%C3%BCller-Wohlfahrt

Klar ist das so. Schmerz lässt sich "magisch" wunderbar behandeln. Leider die Ursache nicht.

bayle

Es gibt aber noch mehr Schmerzgesellschaften, und die sich spinnefeind sind. Sie sind für den Außenstehenden - das heißt allen nicht in ihnen Organisierten - nicht unterscheidbar. Das soll nicht heißen, dass die wissenschaftlichen Gesellschaften explizit in Paramedizin machen, aber für "integrative Medizin" haben viele seriöse Schmerztherapeuten durchaus ein faible.

P.Stibbons

@ bayle:
Zitat
Es gibt aber noch mehr Schmerzgesellschaften, und die sich spinnefeind sind.

Genau darum habe ich den Wiki-Link gesetzt:

ZitatDie Deutsche Schmerzgesellschaft (DGSS, bis 2012 Deutsche Gesellschaft zum Studium des Schmerzes e.V.) ist die bisher einzige wissenschaftliche Schmerzgesellschaft in Deutschland...

...Die Ethik-Charta [3] der DGSS hält ethische Richtlinien für den Umgang mit schmerzkranken und sterbenden Patienten sowie für die Schmerzforschung fest, und wurde von Medizinern, Juristen, und Psychologen entwickelt. Die Charta richtet sich sowohl an Behandelnde und Pflegende als auch an Schmerzpatienten sowie deren Angehörige. Die DGSS ist derzeit die einzige Gesellschaft der Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften (AWMF) mit einer Ethik-Charta. I..

D.h. man kann, wenn man will, als interessierter Arzt Spreu vom Weizen unterscheiden.

In der Praxis stößt man eher auf solche Probleme:

http://www.dgss.org/fileadmin/pdf/ZahlenundFakten_neu.pdf

Die Frau Mühlberger schreibt übrigens über ihre eigene Motivation:
Zitat1997-1999 folgte eine Ausbildung in chronischer Schmerztherapie und Palliativmedizin in Saarbrücken. 2004 - 2011 arbeitete ich selbstständig mit Kassenarztsitz für Anästhesie in Berlin, im Bereich des Ambulanten Operierens und als Belegärztin in einer Privatklinik.

Neben den klassischen, schulmedizinischen Behandlungsmethoden, legte ich den Schwerpunkt meiner Ausbildungen und Weiterbildungen in den letzten Jahren zunehmend auf alternative Heilmethoden. Je mehr ich die Grenzen unserer bisherigen Medizin erfahren musste, umso mehr kam ich zu der Erkenntnis, dass Apparatemedizin und Medikamente allein zur Gesundung eines Menschen nicht ausreichen.

Was immer das bedeutet.
Viele Kollegen sind es leid, dass das ärztliche Gespräch so schlecht vergütet wird und die wirtschaftlichen Notwendigkeiten ihren ärztlichen Selbstanspruch massiv beeinträchtigen.

Meine Theorie:

Die "alternativen" Angebote werden ja meist privat abgerechnet (und die Patienten sind offenbar gern bereit, diesen Preis zu zahlen)
Das macht unabhängig von KV und Kassenverträgen, und man hat einen frei gestaltbaren Rahmen für das Arzt-Patient-Verhältnis.

Das "alternativmedizinische Angebot" ist dabei  nur Träger der eigentlichen Dienstleistung, über die beide Seiten implizit ein Einvernehmen getroffen haben.


bayle

ZitatViele Kollegen sind es leid, dass das ärztliche Gespräch so schlecht vergütet wird und die wirtschaftlichen Notwendigkeiten ihren ärztlichen Selbstanspruch massiv beeinträchtigen.

Ich äußere jetzt einfach einmal einen nicht mehrheitsfähigen Standpunkt, jedenfalls wenn ich den derzeitigen Kanonendonner höre: man kann von Kassentätigkeit leben. Fast fühle ich mich da als whistle blower. Leider hat der letzte Standesvertreter, der seinerzeit ähnlich formuliert hatte (Herr Dr. Ellis Huber), die Medizin schon lange in Richtung Geistheilung verlassen.

P.Stibbons

Mein Hausarzt, den ich sehr schätze, kann kaum von seiner Tätigkeit leben, weil er ständig mit wahnsinnigen Regressforderungen überzogen wird.
Ich halte ihn für einen hochkorrekten, kompetenten und bescheidenen Kollegen, der seine spartanisch eingerichtete Praxis gut organisiert hat.

Es kommt sicher auch auf die Fachrichtung, aber ebenso auf den Praxisstandort an - und auf das Patientenklientel.

An chronisch Kranken, speziell Schmerzpatienten, verdient es sich übrigens als "normaler" Niedergelassener, selbst mit Zulassung Schmerztherapie, im Verhältnis zum nötigen, auch zeitlichen Aufwand, schlecht bis gar nicht.

bayle

Klappern gehört zum Handwerk.
Existenzbedrohende Regresse sind sehr selten. Sie können meist abgewehrt werden. Die eigentliche Crux damit ist der Zeitaufwand, der für die Abwehr nötig ist, und die schlaflosen Nächte - man kann seine Praxis 2 Wochen dichtmachen und muss mehrfach in seine Landeshauptstadt fahren, ggf. einen Anwalt nehmen usw. Der Sinn der Regressforderung ist eigentlich ein anderer: Man muss nicht alle Ketzer verbrennen, einer genügt. Dann kuschen die anderen. Kann man deutlich am Verordnungsverhalten mancher Kollegen erkennen.

P.Stibbons

Na ja, du bist mir bislang v.a. durch Zynismus aufgefallen.
Von daher wundert es mich nicht, wenn du das etwas großkotzig abferkelst.

Im übrigen
ZitatLeider hat der letzte Standesvertreter, der seinerzeit ähnlich formuliert hatte (Herr Dr. Ellis Huber), die Medizin schon lange in Richtung Geistheilung verlassen.

hat der gute Ellis Huber wohl selbst gemerkt, wo die Nuggets zu finden sind. ::)

bayle

ZitatNa ja, du bist mir bislang v.a. durch Zynismus aufgefallen
Das kannst Du nur sagen, wenn Du die Moral gepachtet hast.