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Placebo-Überbewertung?

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Begonnen von EatYourBrainsToCureHunger, 18. November 2012, 12:46:47

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EatYourBrainsToCureHunger

Oft bekomme ich in Diskussionen mit anderen Menschen (oft auch Mediziner) folgendes pro-Argument zugunsten pseudomedizinischer Methoden zu hören: der Placeboeffekt sei nicht zu unterschätzen und gebe deshalb unwissenschaftlichen Heilmethoden die Berechtigung zu Vielem.

Ich will keineswegs die Bedeutung des Placeboeffektes kleinreden, ich bin mir bewusst, dass dieser ab und an beeindruckende Effekte bewirken kann. Doch ist er sehr individuell und im Vornherein äusserst schwer einzuschätzen.

Für mich klingt das Placebo-Argument wie DAS Apologetiker-Argument von wissenschaftlichen Pseudomedizin-Verteidigern, die aufgrund ihres wissenschaftlichen Verständnisses über keine anderen Argumente verfügen (mit Quanten-Geschwätz und Energie-Erinnerungen etc.) und wahrscheindlich wegen der Beliebtheit von Pseudomedizinischen Verfahren überzeugt sind, dass diese zu rechtfertigen sind.

Stehe ich mit meiner Einschätzung, dass der Placebo-Effekt überbewertet wird alleine und hätte vielleicht wichtige Fakten übersehen? Oder kann der/die eine oder andere mit mir mitfühlen?

celsus

Zitat von: EatBrainsCureHunger am 18. November 2012, 12:46:47Stehe ich mit meiner Einschätzung, dass der Placebo-Effekt überbewertet wird alleine und hätte vielleicht wichtige Fakten übersehen? Oder kann der/die eine oder andere mit mir mitfühlen?

Wo und in welchem Umfeld wird der überbewertet? Der Volksmund scheint den Placeboeffekt immer noch mit Einbildung gleichzusetzen - so meine anekdotische Erfahrung. Dass da ein handfester biochemischer Effekt mit verbunden ist, wissen die meisten Leute doch überhaupt nicht.

Diese Überbewertung taucht in meinem Umfeld nur auf, wenn verzweifelt nach einer Rechtfertigung für systematische Patientenbelügung (Homöopathie) benötigt wird.
The best thing about science is that it works - even if you don't believe in it.

EatYourBrainsToCureHunger

Zitat von: celsus am 18. November 2012, 12:52:53
Diese Überbewertung taucht in meinem Umfeld nur auf, wenn verzweifelt nach einer Rechtfertigung für systematische Patientenbelügung (Homöopathie) benötigt wird.

Genau das meinte ich! Dass diesem psychologischen Effekt ein gewisser biochemischer Prozess zugrunde liegt und dieser einen solchen als Folge hat will ich nicht leugnen. Aber wesshalb muss man dann nur Homöopathie diesem Argument zufolge staatlich unterstützen und fördern und nicht auch die restliche gigantische Palette an pseudomedizinischen Verfahren wie Geistheilung über Skype, Handauflegen, Quanten-Healing und und und?

Deshalb meine Behauptung: Es gibt den Placeboeffekt, aber als Argument für pseudomedizinische Verfahren reicht er bei weitem nicht aus!

Dr. Ici Wenn

Du hast im Wesentlichen recht, würde ich meinen. Placebo tritt so oder so auf (oder auch nicht), und als Faustregel kann man sagen: Je ernsthafter und länger eine Erkrankung, desto weniger Placebo.
Als kurative Behandlung ist er nicht wirklich steuerbar, und er hat noch einen Bruder, den Noceboeffekt, der ggf. eine wirksame Behandlung deutlich verschlechtern kann.

Es gibt schließlich einen Grund, warum man von Medikamenten und Methoden eine Wirksamkeit oberhalb des Effektes verlangt.

Gleichzeitig wird momentan vor allem Seitens der Homöopathen versucht, Placebo als Mysterium zu hypen, weil sie in Studien nie bessere Ergebnisse erziehlen, frei nach dem Motto "ist die Hürde zu hoch, machen wir sie halt niedriger".

Dolph

Zitat von: Dr. Ici Wenn am 18. November 2012, 13:02:39
als Faustregel kann man sagen: Je [...] länger eine Erkrankung, desto weniger Placebo.

Oh ha, das stimmt so glaube ich nicht. AFAIR ist der Placebo-Effekt gerade bei chronischen, quasi "lebenslangen" Erkrankungen wie z.B. Asthma(!) oder Psoriasis besonders ausgeprägt.

Dr. Ici Wenn

Zitat von: celsus am 18. November 2012, 12:52:53
Dass da ein handfester biochemischer Effekt mit verbunden ist, wissen die meisten Leute doch überhaupt nicht.

Das würde mich jetzt mal interessieren, welcher das ist  :grins2:
Placebo ist nun mal größtenteils "Einbildung", aber nicht im volkstümlichen Sinn damit gar nichts. Suggestitionen können durchaus durch Verschiebung der Wahrnehmung kräftig wirken, speziell bei Schmerz z.B. Eine biochemische Wirkung hat man dann ev. sekundär, z.B. darüber, dass weniger Stresshormone unterwegs sind.

bayle

Ich mach' mal ne thesenartige Kurzfassung, bei Interesse werde ich auch ausführlicher.

Den Glaubens-Heinis ist natürlich nicht entgangen, dass ihre Methoden im Doppelblindversuch versagen, aber sie sind dennoch weiter ergriffen von den erlebten Wirkungen bzw. wollen weiter Geld verdienen. Die gerisseneren unter ihnen (Vorbeter: Ted Kaptchuk) argumententieren etwa so: Gut, unser Zeugs ist Placebo, aber Placebo ist ja so mächtig, also lasst es uns einsetzen ... (Diese Weisheiten hab ich aus SBM, die sich öfter mal damit auseinandersetzen).

Placebo haben keine anhaltende Wirkung auf objektive Krankheitsparameter. Ich beschäftige mich gelegentlich mit der Literatur dazu. Die 200 Seiten lange Placebo-Broschüre des Wisschaftlichen Beirats Bundesärztekammer bringt auf allen diesen Seiten nicht ein einziges Gegenbeispiel dazu. Ihr Autor ist der Homöopathie-Propagandist Jütte (vgl:
http://scienceblogs.de/kritisch-gedacht/2012/10/11/pluralismus-in-der-medizin/
und man muss nur zwei und zwei zusammenzählen, warum sie geschrieben worden ist.

bayle

Zitat von: Dolph am 18. November 2012, 13:07:32
Zitat von: Dr. Ici Wenn am 18. November 2012, 13:02:39
als Faustregel kann man sagen: Je [...] länger eine Erkrankung, desto weniger Placebo.
Oh ha, das stimmt so glaube ich nicht. AFAIR ist der Placebo-Effekt gerade bei chronischen, quasi "lebenslangen" Erkrankungen wie z.B. Asthma(!) oder Psoriasis besonders ausgeprägt.

Psoriasis weiß ich nicht, bei Asthma aber gilt: Einfluss auf die subjektive Befindlichkeit, nicht auf die Lungenfunktionsparameter. Dazu gibt's aktuelle kontrollierte Studien.

Dr. Ici Wenn

Zitat von: Dolph am 18. November 2012, 13:07:32
Zitat von: Dr. Ici Wenn am 18. November 2012, 13:02:39
als Faustregel kann man sagen: Je [...] länger eine Erkrankung, desto weniger Placebo.

Oh ha, das stimmt so glaube ich nicht. AFAIR ist der Placebo-Effekt gerade bei chronischen, quasi "lebenslangen" Erkrankungen wie z.B. Asthma(!) oder Psoriasis besonders ausgeprägt.

Hm, Du hast mein wichtigeres Adjektiv weggelassen: Ernsthaft. Ansonsten ist es natürlich immer schwierig, mit Pauschalisierungen alles abzudecken, darum auch "Faustregel" = muss nicht immer stimmen.

Dr. Ici Wenn

Zitat von: bayle am 18. November 2012, 13:12:40
Placebo haben keine anhaltende Wirkung auf objektive Krankheitsparameter.

Das ist der Punkt. Wobei die Befindlichkeit des Betroffenen überhaupt nicht unwichtig ist, bei einer infausten Erkrankung wird er zwar keinen Tag länger leben, aber er hat besser gelebt bis dahin.

bayle

Zitat von: Dr. Ici Wenn am 18. November 2012, 13:21:32
Zitat von: bayle am 18. November 2012, 13:12:40
Placebo haben keine anhaltende Wirkung auf objektive Krankheitsparameter.

Das ist der Punkt. Wobei die Befindlichkeit des Betroffenen überhaupt nicht unwichtig ist, bei einer infausten Erkrankung wird er zwar keinen Tag länger leben, aber er hat besser gelebt bis dahin.

Kann sein, genau wissen wir das nicht. Häufig aber stellt sich die Frage: um welchen Preis? Manchmal müssen sie Haus und Hof verkaufen; gelegentlich bitter, das mit ansehen zu müssen und nichts tun zu können.

edit: Außerdem werden solche Patienten nach meiner Erfahrung immer mit der trügerischen Hoffnung auf Heilung geködert und nie mit der Aussicht auf bessere subjektive Befindlichkeit.

celsus

Zitat von: Dr. Ici Wenn am 18. November 2012, 13:11:39
Placebo ist nun mal größtenteils "Einbildung", aber nicht im volkstümlichen Sinn damit gar nichts. Suggestitionen können durchaus durch Verschiebung der Wahrnehmung kräftig wirken, speziell bei Schmerz z.B. Eine biochemische Wirkung hat man dann ev. sekundär, z.B. darüber, dass weniger Stresshormone unterwegs sind.

Das sollte meine laienhafte Verkürzung ausdrücken.
The best thing about science is that it works - even if you don't believe in it.

Dr. Ici Wenn

Das ist jetzt blöd, ich glaube, wir sind uns alle im Wesentlichen einig  ;D

Noch ein netter Link:

http://www.medizin-aspekte.de/2010/10/389624_12127.html

ZitatWo der Placebo-Effekt im Gehirn zu Hause ist

Wo der Placebo-Effekt im Gehirn zu Hause ist, haben die Forscher vom Collegium Helveticum in Zürich um Dr. Peter Krummenacher ermittelt. Sie setzten dafür ein Magnetstimulationsgerät ein, mit dem sich von außen die Aktivität einzelner Hirnbereiche beeinflussen lässt. Ihr Zielbereich war der Präfrontalkortex, ein Teil des Frontallappens der Großhirnrinde an der Stirnseite des Gehirns. Sie überzeugten die Probanden, dass die Stimulation einen schmerzlindernden Effekt habe, stimulierten sie aber nur zum Schein. Trotzdem stiegen Schmerzschwelle und -toleranz der Versuchspersonen merklich an – das Placebo wirkte. Stimulierten sie die Hirnregion tatsächlich und schalteten ihre Funktion so vorübergehend ab, schwand der Placeboeffekt.

celsus

Zitat von: Dr. Ici Wenn am 18. November 2012, 13:45:42
Noch ein netter Link:

http://www.medizin-aspekte.de/2010/10/389624_12127.html


Sehr interessant. Und da behaupten die Homöospasten immer, die Wissenschaft würde den Placeboeffekt vernachlässigen.
The best thing about science is that it works - even if you don't believe in it.

Volvox

Kleiner Vorschlag meinerseits:
Vielleicht sollte man wegen der verbreiteten Unklarheiten bezüglich des Begriffes "Placebo-Effekt" auch immer auf den "Rosenthal-Effekt" hindeuten, sofern es um die Wirksamkeitprüfung von Medikamten geht und wenn es um unwirksame Behandlungen bei Tieren und Kindern geht.