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Religion als Lebenshilfe!?

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Begonnen von sumo, 12. September 2012, 15:28:21

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sumo

Ich will mal eine allgemeine Diskussion zum Thema Religion und Lebenshilfe anfangen.
Grund dafür ist ein kurzer Fernsehbericht vor einigen Tagen. Dort berictete man über das Ehepaar, welches im vergangenen Jahr ihren Sohn durch ein Verbrechen verloren hat, der Junge wurde von einem Sexualtäter mißbraucht und ermordet, und erst nach einigen Wochen konnte die Leiche gefunden werden.
Beachtenswert fand ich den Satz, den beiden Partner äußerten, daß nämlich "...der starke christliche Glauben uns das überstehen ließ..."
Solche Statements hört oder liest man häufiger, daß Menschen in Krisensituationen Zuflucht in der Religion suchen und finden, daß Glaube dabei hilft, Krisen zu bewältigen.
Wie geht man einerseits mit solchen Menschen in derartigen Krisen um, und andererseits, wie geht man mit derartigen Krisen um, wenn man Agnostiker ist?
Hilft diese "psychologische Prothese Religion" (meine Bezeichnung) weiter?

Truhe

Ja das hört man öfter, aber es bleiben Anekdoten. Es gibt wahrscheinlich auch Gläubige, denen ihr Glaube nicht ausreichend geholfen hat. Oder Gläubige, die durch derartige Erlebnisse den Glauben aufgegeben haben.
Auch offen bleibt, ob wirklich der Glaube die Hilfe war, oder es ihm einfach nur zugeschrieben wird.

Krisenbewältigung ist aus meiner Sicht eine Lernfrage. Man probiert vieles aus, um zu sehen, was hilft. Man schaut sich dabei Dinge beim sozialen Umfeld ab.
Agnostiker und Atheisten haben sich ihre eigenen Wege zurecht gelegt bzw. erlernt. Manch einer findet Kraft darin, dass er sich um seine noch lebenden Kinder kümmert. Oder eine Hilfsorganisation gründet. Oder sonstige Ziele in Angriff nimmt.

bayle

Die gleiche Sinnlosigkeit und Ungerechtigkeit kann ebenso zu einer Bestärkung wie zu einem Abfall vom Glauben führen (wie konnte Gott das zulassen?); ich denke nicht, dass das im Einzelfall vorhersehbar ist. Nach meiner vorläufigen Meinung muss man aber für eine Bekehrung, ein Paulus-Erlebnis, zumindest vorher schon latent religiös ("religiös musikalisch") gewesen sein. Primo Levi z. B. schreibt, dass er das KZ als Ungläubiger betreten habe und er als Ungläubiger befreit worden sei. Er erinnert sich, dass er mindestens einmal versucht gewesen sei zu beten, dass ihm das aber wie ein Verrat an seinem Verstand vorgekommen sei.

Binky

Zitat von: bayle am 12. September 2012, 19:40:55
Primo Levi z. B. schreibt, dass er das KZ als Ungläubiger betreten habe und er als Ungläubiger befreit worden sei. Er erinnert sich, dass er mindestens einmal versucht gewesen sei zu beten, dass ihm das aber wie ein Verrat an seinem Verstand vorgekommen sei.

Wenn man areligiös aufgewachsen ist, ist es schwer, den Verstand, der nun einmal anstelle des Glaubens getreten ist, zu verdrängen. Man wird als Atheist geboren, aber zum Glauben erzogen, geschieht letztes nicht, bleibt man Atheist.

bayle

ZitatWenn man areligiös aufgewachsen ist, ist es schwer, den Verstand, der nun einmal anstelle des Glaubens getreten ist, zu verdrängen. Man wird als Atheist geboren, aber zum Glauben erzogen, geschieht letztes nicht, bleibt man Atheist.

Das mag heute für das Individuum gelten; für die Menschheit habe ich eher Zweifel. Für ein sehr gründliches Buch zur Genese der Religion halte ich "Und Mensch schuf Gott" von Pascal Boyer. Es ist fast ohne jede Polemik und ziemlich dröger Stoff, deshalb kommt es in den meisten Debatten nicht vor. Ich getraue mich auch nicht, seine Grundannahmen kurz zusammenzufassen, aber in etwa heißt es da: so eine Art magisches Denken ist einfach das Naturgemäße, weil es den evolutionär entstandenen moralischen Normen einen (nachträglichen) Sinn verleiht. Krass ausgedrückt, die Entwicklung des rationalen Denkens ist eher ein Betriebsunfall, der aus der überschüssigen Denkkapazität des Gehirns resultiert.

Binky

Das kenne ich. Möglich, daß ich ein Betriebsunfall bin. Aber das ist gut so.  ;)

bayle

Naja, ich glaub eigentlich auch nicht, dass ich nochmal religiös werde in diesem Leben. Marc Crislip hat gerade erst vor einer Woche geschrieben:

ZitatIf there is a spiritual module in the brain, I do not have it. Whether I was raised that way or born that way, I cannot say, but it seems to be X-linked in my family. I have always been unable to comprehend spiritual concepts, and it was not for a lack of trying in younger days. All I ever developed from meditating in a Zen temple were numb legs from sitting cross legged. I have friends and family who seem to commune with a god or spirits I can neither understand or comprehend. It is, I suppose, like color to a deaf person or music to the blind.
http://www.sciencebasedmedicine.org/index.php/guiding-lights/#more-22736

EatYourBrainsToCureHunger

Und es ward ein neues Fluchwort: "du verdammter evolutionärer Betriebsunfall!"

bayle

Den gleichen Sachverhalt kann man natürlich auch noch in ganz anderer Weise ausdrücken, nicht so vornehm. Frank Zappa soll gesagt haben:

ZitatIf you want to get together in any exclusive situation and have people love you, fine -- but to hang all this desperate sociology on the idea of The Cloud-Guy who has The Big Book, who knows if you've been bad or good -- and CARES about any of it -- to hang it all on that, folks, is the chimpanzee part of the brain working.

Aber ich kann mir schon vorstellen, dass sich der eine oder andere von dieser Zuspitzung angepisst fühlt.

EatYourBrainsToCureHunger

Ich würde eher behaupten, dass unsere spirituelle menschliche Seite ein Betriebsunfall ist: unsere kognitiven Fähigkeiten waren evolutionär gesehen immer von Nöten, da sie dem Menschen erlaubten in der Umwelt gewisse Schemata zu erkennen, gewisse Muster von Gefahren zu erlernen, um daraufhin sicherer und geschützter überleben zu können. Die unerwünschte Nebenwirkung dieser Schema-Erkennung wäre dann eher die Quelle des spirituellen menschlichen Wesens: Zusammenhänge im Zufall sehen, überstürzte Verallgemeinerungen schlussfolgern, etc, etc... und noch eine ganze Liste von kognitiven Biases...

EatYourBrainsToCureHunger

Zitat von: bayle am 12. September 2012, 20:36:19
Aber ich kann mir schon vorstellen, dass sich der eine oder andere von dieser Zuspitzung angepisst fühlt.

Die Wahrheit tut manchmal weh...

bayle

Zitat... unerwünschte Nebenwirkung ...

Das klingt für mich irgendwie teleologisch.

bayle

Ich denke auch, dass mit der Irrationalität nicht so einfach fertig zu werden ist. Vielleicht war für das Überleben die Gruppenkohäsion der wesentliche Faktor. Wenn der Horde Gefahr droht, dann kannst du dich nicht erstmal eine halbe Stunde ans Feuer setzen und darüber nachdenken, was zu tun ist, dann musst du sofort wissen, wo dein Platz ist, intuitiv. Irgendwie scheint mir damit auch zusammenzuhängen, dass der Einfluss der Gruppe auf die eigene Wahrnehmung so übermächtig ist, wie zahlreiche psychol. Experimente nachgewiesen haben; klassisch z. B. das Zimbardo-Experiment oder das Milgram-Experiment. Es gibt da noch zahlreiche weitere, die dir z. B. beweisen können, dass unter bestimmten Bedingungen 2 x 2 = 5 ist. Eine gewisse raffinierte Intelligenz beim Fallenstellen oder bei der Überlistung der gegnerischen Horde wird natürlich ebenfalls von Vorteil gewesen sein.

sumo

sehr interessante Beiträge bislang!
Natürlich ist das alles anekdotisch, um auf einen Einwurf weiter oben einzugehen.

Kann es sein, daß viele Menschen einen über ihrem eigenen Geist befindlichen Rahmen suchen? Daß sie auf der Suche nach einer übergeordneten und nicht rational erklärbaren Institution sind? Das wäre dann auch ein gedanklicher Ansatz, um ideologische Systeme zu erklären, deren Erfolg auch auf quasireligiöser Beeinflussung beruht. 

Belbo zwei

Was wir vielleicht bisher etwas unterschätzen sind alle Fragen um den eigenen und den Tod und den von uns Nahestehenden. Ich glaube, dass die Fragen nach und die Hoffnung auf, ein Nachher eine der stärksten Triebfedern für den Gottesglauben sind.