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Staatstragend und kuttentragend, wenn das mal gut geht!

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Begonnen von Wolleren, 05. Dezember 2010, 18:10:02

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Wolleren

In der FAZ vom 4.12. schreibt Wolfgang Thierse, Vizepräsident des Deutschen Bundestages und Mitglied der SPD, als Kolumnist der Rubrik ,,Fremde Federn" auf Seite 12, die sich auf der prominenten Rückseite des ersten Buchs der Ausgabe befindet (Hervorhebungen, Fußnoten und Links von mir)1 :

Ich widerspreche als Sozialdemokrat und Christ
Mit der neuen Aufmerksamkeit für Religion ist auch ein kämpferischer Atheismus zurückgekehrt. Der britische Zeithistoriker Timothy Garton Ash spricht von einem ,,säkularen Fundamentalismus", dessen Anhänger der Ansicht seien, ,,dass ein Leben nach der Lehre des Islam oder anderer Religionen unvereinbar ist mit den Werten einer ungeteilten Humanität", deshalb soll der Staat seine Bürger in diesem Sinne erziehen und die Distanz zu aller Religion vergrößern. In diesen Trend sich scheinbar2 einfügend, hat schon die bloße Ankündigung eines Kreises entschlossen kirchenkritischer Sozialdemokraten, einen laizistischen Arbeitskreis in der SPD gründen zu wollen, für Gesprächsstoff gesorgt. Aus der gewachsenen Bedeutung des Islam einerseits und den sinkenden Mitgliederzahlen der Kirchen beziehungsweise der Zunahme konfessionsloser Bürger andererseits werden radikale Konsequenzen verlangt, denen ich als Sozialdemokrat3 und Christ entschieden widerspreche.
  Beispiel eins: die Forderung, dass nur ein wirklich religionsdistanzierter Staat der Forderung des Grundgesetzes entspreche, keine Religions- oder Weltanschauungsgemeinschaft zu bevorzugen oder zu benachteiligen. Sie legt den Schluss nahe, dass der Staat zu einem religionsfreien Raum gemacht oder gar auf einen säkularistischen Glauben verpflichtet werden soll. Hier zeigt sich sehr klar, dass der radikale Laizismus selber Partei im Streit der Weltanschauungen ist: Indem der Staat Religion zurückdrängt, ergreift er nämlich Partei für einen säkularen Humanismus4.  Das aber stellt den Grundgedanken der weltanschaulichen Neutralität auf den Kopf. Denn der religionsneutrale Staat des Grundgesetzes verzichtet auf eigene weltanschauliche Sinnstiftung: Jeder und jede soll selbst in religiösen und weltanschaulichen Fragen frei bestimmen können. Mit seinem Verzicht auf die ,,cura religionis" zieht sich der Staat also nicht einfach zurück, sondern er eröffnet allen Religionen und Weltanschauungen freien privaten und öffentlichen Entfaltungsraum.5
  Beispiel zwei: die Forderung nach Abschaffung des bekenntnisgebundenen Religionsunterrichts nach Artikel 7 Absatz 3 des Grundgesetzes. Der schulische Religionsunterricht, der von den Religionsgemeinschaften zusammen mit dem Staat verantwortet wird, fordert und fördert die Fähigkeit, eigene religiöse Überzeugungen zu betrachten6  und mit säkularen Vorstellungen zu verbinden. Die Notwendigkeit, einen Ausgleich zwischen beiden zu finden, stellt sich nur aus dem Inneren eines Glaubens heraus, nicht für jemanden, der die Unterschiede nur von außen beschreibt. Deshalb muss ,,diese Arbeit der hermeneutischen Selbstreflexion ... aus der Sicht der religiösen Selbstwahrnehmung geleistet werden" (Jürgen Habermas). Das ist ein Beitrag zum inneren Frieden der Gesellschaft.7 Und das genau ist Aufgabe des bekenntnisgebundenen Religionsunterrichts8, der zu Recht auch für den Islam gefordert wird9.
  Beispiel drei: die Kirchenfinanzen, das Hauptangriffsfeld der ,,Laizisten"10. Ein gerade erschienenes ,,Violettbuch Kirchenfinanzen" rechnet vor, wie viel Geld den Staat beispielsweise die Unterstützung kirchlicher diakonischer Einrichtungen angeblich11 kostet.  Es geht aber nicht um ungerechtfertigte Finanzierung von Kirchen. Denn die Kirchen erhalten die Mittel für Kindergärten, Schulen, Jugend- und Altenpflege, Krankenhäuser et cetera nicht, weil sie Kirchen sind, sondern weil sie den Staat bei zentralen Aufgabe12 unterstützen. Indem der Staat viele seiner Aufgaben ganz unterschiedlichen Trägern – nicht nur den Kirchen, sondern auch ganz unterschiedlichen freien Wohlfahrtsverbänden und zivilgesellschaftlichen Organisationen – überträgt und diese finanziell unterstützt13, fördert er die Vielfalt von Angeboten. Unter der Perspektive des Subsidiaritätsprinzips14 kehrt sich das Vorzeichen der Rechnung um. Dann erscheint der Eigenbeitrag der Gläubigen als finanzielle Unterstützung des Staates – mindestens ein Gewinn für beide Seiten.
  In einer Gesellschaft, in der Menschen ganz unterschiedlicher Herkunft, Religion, Weltanschauung und Kultur zusammenleben, muss ohne Zweifel um den ,,overlapping consensus" (John Rawls) in Wertfragen gerungen werden und ein Gleichgewicht der Kräfte austariert werden. Das kann aber nicht unter Absehung, sondern nur unter Einbeziehung der starken Überzeugungen der Menschen15 gelingen. Nicht weniger Kirche ist deshalb16 das Gebot der Stunde, sondern mehr Partner in die Zusammenarbeit mit dem Staat einzubeziehen."17


1 Bei der FAZ ist der Artikel leider  nur für Abonnenten kostenlos abrufbar. Da hier jedoch ein innerparteilicher Dialog zu staatstragenden Themen erfolgt, wo die Parteispitze sich einer Zeitung bedient, um einen Arbeitskreis zu maßregeln, der sich nur mit knapper Not sozialdemokratisch nennen durfte, möge mir die FAZ dieses vollständige Zitat verzeihen.
2 inwiefern hier in Wahrheit ,,anscheinend" gemeint ist, mag der Leser selbst entscheiden
3 Inwiefern die Argumentation sozialdemokratisch ist, das müssen sich die Laizisten in der SPD, deren Existenz durch die Parteispitze am liebsten verboten worden wäre, einmal fragen. Wo ist Herbert Wehner, wenn man ihn einmal braucht!
4 Dies wäre bereits durch kurzes Nachdenken als Zirkelschluss zu entlarven gewesen.
5 solange es Religionen sind, die in staatstragenden Gremien vertreten sind und nicht etwa Vertreter der Gottlosen, das darf ich ironisch anmerken
6 Dass die Kinder noch keine Erwachsenen sind und durch Religionsunterricht erst zu Religiösen gemacht werden, scheint dem Präsidenten zu entgehen.
7 Hingegen ist die Beanspruchung der weltanschaulichen Vertretung von mehr als einem Drittel der Bundesbürger ein Beitrag zum Unfrieden. Stillhalten zu Weihnachten, bitte!
8 Hier wäre ein Verweis auf die gültigen Curricula der Bundesländer notwendig gewesen, den der Autor jedoch unterlässt. So ist es nicht klar, ob hier festgestellt oder bloß postuliert wird.
9 Das ist tatsächlich nur konsequent.
10 Der Gebrauch von Anführungszeichen ist verwunderlich. Sind Erinnerungen an Springers "DDR" beabsichtigt?
11 Ja wie denn sonst? Was ist denn das für eine Sprachauffassung des Wortes ,,angeblich"? Oder soll das etwa ein rhetorisches Mittel zur Beleidigung sein? Gute Wörter an dieser Stelle wären ,,mutmaßlich" und ,,vermeintlich" gewesen, je nachdem, welche Position bezogen werden soll. Doch mit ,,angeblich" macht man es sich natürlich schön leicht.
12 Fehler im Original
13 Tatsächlich sind es ,,kirchenpolitische Erwägungen", die zur Verteidigung der steuerlichen Absetzbarkeit von gezahlter Kirchensteuer gemäß (EStG, § 10 I, 4) seit alters her angeführt werden, vgl. http://fowid.de/fileadmin/datenarchiv/Kirchensteuer_Subventionierung,%201969-2004.pdf
14 Das Subsidiaritätsprinzip heranzuziehen, um Kirchen staatliche Aufgaben zu übertragen, halte ich persönlich für eine infame Argumentation. [OT: Es sind auch Situationen gewollter Redundanz vorstellbar, wo das Streben nach Subsidiarität falsch ist. Somit ist Subsidiarität durchaus kein politisches Allheilmittel, sondern eine oft verwendbare Richtschnur.]
15 Welche Menschen sind hier gemeint?
16 Die Kausalität erscheint etwas fragwürdig.
17 Welche Partner sind hier gemeint? Ob die ," "Laizisten" "' dazugehören oder nicht, bleibt ggf. absichtsvoll offen, das können nur der Autor und sein Gott wissen.
Übrigens kann ich mir Thierses Argumentationslinie auch sehr schön gegenüber Arbeiterforderungen vorstellen: ,,Integrieren statt Fordern". Man braucht ,,Die Linke" nicht gut zu finden, um Thierses Argumentation zu verabscheuen. Doch "Ich glaube gern"-Nahles findet Thierses Linie bestimmt toll.

Federvieh

Zitat von: Wolleren am 05. Dezember 2010, 18:10:02
  Beispiel zwei: die Forderung nach Abschaffung des bekenntnisgebundenen Religionsunterrichts nach Artikel 7 Absatz 3 des Grundgesetzes. Der schulische Religionsunterricht, der von den Religionsgemeinschaften zusammen mit dem Staat verantwortet wird, fordert und fördert die Fähigkeit, eigene religiöse Überzeugungen zu betrachten6  und mit säkularen Vorstellungen zu verbinden. Die Notwendigkeit, einen Ausgleich zwischen beiden zu finden, stellt sich nur aus dem Inneren eines Glaubens heraus, nicht für jemanden, der die Unterschiede nur von außen beschreibt. Deshalb muss ,,diese Arbeit der hermeneutischen Selbstreflexion ... aus der Sicht der religiösen Selbstwahrnehmung geleistet werden" (Jürgen Habermas). Das ist ein Beitrag zum inneren Frieden der Gesellschaft.7 Und das genau ist Aufgabe des bekenntnisgebundenen Religionsunterrichts8, der zu Recht auch für den Islam gefordert wird9.

Der Religionsunterricht meiner Kinder fordert und fördert mitnichten die Fähigkeit eigene religiöse Überzeugungen zu betrachten oder gar mir säkulären Vorstellungen zu verbinden.

Antitainment

Schon der erste Satz eines Politikers in einem angeblich säkularen Staat sollte nicht mit "ich widerspreche als Sozialdemokrat und Christ" beginnen.
Im privaten Bereich darf der Herr Thierse ja so christlich sein wie er möchte, aber in seiner öffentlichen Funktion ist er kein Christ sondern ein Sozialdemokrat, d.h. er darf sich privat als Christ dazu äußern und öffentlich in seiner Funktion.
(So ganz nebenbei ist die SPD heutzutage ja nicht wirklich von der CDU zu unterscheiden und "links" war auch mal anders)

Diese überzogene Toleranz könnte uns eines Tages mal Kopf und Kragen kosten - Meiner Meinung nach sollte man sich nicht überlegen, den Islam auch an Schulen zu lehren, sondern die gesamte religöse Erziehung (Indoktrination) aus dem Schulunterricht zu entfernen.
Man kann auch konfessionsungebundenen Unterricht betreiben und über die bestehenden Glaubenssysteme informieren.
(Wenn ich mich an meinen Religionsunterricht zurück erinnere, dann hat man zwar auch andere Vorstellungen im Unterricht behandelt, aber immer aus den sicheren Mauern der Konfessionsbindung heraus - Das ist in meinen Augen alles andere als objektiv und sachlich)
Man darf sich auch nicht wundern, dass die Kirche in der Förderung so präsent ist, denn a) gibt es Kohle abzugreifen b) je früher einem Quark in die Birne gehämmert wird, desto besser (die HJ war kein Wohltätigkeitsverein) c) sind das bereits sehr lange bestehende Systeme, die in ihrem Fortbestand fleißig weiter am Leben erhalten werden.

Zu guter Letzt spreche ich mich klar dagegen aus Kinder und Jugendliche in Schulen einer Glaubenssegregation auszusetzen - Sprich die Einteilung in katholische, muslimische, evangelische, konfessionslose Kinder/Jugendliche ist total verrückt. Wenn man diesen Hirnfurz bis zum bitteren Ende austreten würde, dann haben wir irgendwann nochmal die Hindus/Buddhisten/Shiiten/Sunniten/Evangelikalen/Hugenotten usw. auf dem Plan, die nach einem eigenen Reliunterricht an öffentliche Schulen schreien.
Zahlen, Statistiken ... das ist alles total Sarrazin! Ihr müsst richtig fühlen! FÜHLEN! Darum geht es.

NuEM

Der Thierse wird mir immer unsympathischer. Schade. Meine Hoffnung hingegen ist, dass die bösen bösen Laizisten in der SPD deren Profil schärfen. Sieht aber wohl eher nicht so aus, als würden die allzu großen Einfluss gewinnen können.

P.Stibbons

ZitatMeiner Meinung nach sollte man sich nicht überlegen, den Islam auch an Schulen zu lehren, sondern die gesamte religöse Erziehung (Indoktrination) aus dem Schulunterricht zu entfernen.

Ich kenne mich hier ja nun nicht wirklich aus, von daher eine vielleicht dumme Frage:

Ist nicht das entscheidende Argument für (islamischen) Religionsunterricht an Schulen genau dieses, dass er sonst ohnehin, nur eben ohne jede staatliche Kontrollmöglichkeit statt findet?
Aus diesem Grund werden ja letztlich auch Theologen aller "Schattierungen" primär an staatlichen Universitäten ausgebildet und müssen zusätzlich ein kirchliches Examen ablegen.

Generell finde ich aber, dass weithin versäumt wird, an Schulen die Grundlagen für kritisches und logisches Denken zu vermitteln.
Davon legt die derzeitige Entwicklung - dass nämlich Akademiker auf die abwegigste Esoterik abfahren (und sich nicht etwa nur frevelhafter Weise an ihr bereichern...)  - trauriges und makabres Zeugnis ab.

Und hier liegt meiner Meinung nach der Hund begraben:

Es müssten gewisse "ordnende Prinzipien" vermittelt werden, welche junge Menschen in die Lage versetzen, sich selbst ein mündiges Urteil zu bilden.
"Naturwissenschaftlicher Erkenntnisgewinn, Philosophie und Ethik" oder so.

Von da aus kann sich doch dann deduktiv jeder selbst entscheiden, ob und v.a. warum er eine gewisse religiöse Einstellung bevorzugt oder eben auch nicht.

Zitat
Schon der erste Satz eines Politikers in einem angeblich säkularen Staat sollte nicht mit "ich widerspreche als Sozialdemokrat und Christ" beginnen.

Find ich an sich nicht so problematisch.
Warum denn?
Wenn er z.B. aus der Ethik der Bergpredigt seinen sozialdemokratischen gesellschaftlichen Gestaltungswillen ableitet bzw. diese seine Handlungsgrundlage darstellt, wäre es aus meiner Sicht schizophren, dazu nicht auch öffentlich zu stehen, v.a. weil es ja genau zum angeschnittenen Thema passt.
Der Begriff "Christ" an sich ist ja nun ziemlich dehnbar und wurde auch oft völlig überstrapaziert.

Thierse vertritt seine These bewusst provokant - sie soll zu Diskussionen herausfordern, was ja auch geschieht. -
Ich denke, was unserem Staat nicht passieren darf ist, dass Menschen  sich wegen ihrer religiösen Einstellung schämen oder ständig voraus eilend entschuldigen müssten.

Ein gesunder (!) christlicher (nicht notwendiger Weise kirchlicher) Glaube, der nicht einfach "religiöser Überbau" ist, wird sich natürlich auch in der politischen (im allgemeinsten Sinn des Wortes) Gesinnung ausdrücken, nämlich wertschätzend, verantwortungsbewusst für das jeweilige Umfeld, nicht machtbesessen, aufrichtig, leidenschaftlich für die Mitmenschen - insbesondere die Benachteilgten - sowie wahrhaftig in Bezug auf die eigenen Fehler und Grenzen.
Dies ist primär unabhängig von einer bestimmten Parteizugehörigkeit und sollte in der Vielfalt der Parteienlandschaft innerhalb jeder demokratischen Partei möglich sein.




heterodyne

Zitat von: P.Stibbons am 06. Dezember 2010, 13:01:41
Ein gesunder (!) christlicher (nicht notwendiger Weise kirchlicher) Glaube, der nicht einfach "religiöser Überbau" ist, wird sich natürlich auch in der politischen (im allgemeinsten Sinn des Wortes) Gesinnung ausdrücken, nämlich wertschätzend, verantwortungsbewusst für das jeweilige Umfeld, nicht machtbesessen, aufrichtig, leidenschaftlich für die Mitmenschen - insbesondere die Benachteilgten - sowie wahrhaftig in Bezug auf die eigenen Fehler und Grenzen.
Dies ist primär unabhängig von einer bestimmten Parteizugehörigkeit und sollte in der Vielfalt der Parteienlandschaft innerhalb jeder demokratischen Partei möglich sein.
Da weiß ich jetzt echt nicht ob ich (hysterisch) lachen oder weinen soll.
Dickes, dickes Word jedenfalls

Antitainment

Das mit der staatlichen Kontrolle ist für mich so ein gewisses Totschlagargument.
Man kann ja auch außerhalb zu einer Koranschule gehen und das findet weiterhin statt, ob ich jetzt in der Schule einen Religionsunterricht genieße oder nicht.
Und eine staatliche Kontrolle findet meines Wissens dann auch nicht statt und in meiner persönlichen Laufbahn ist mir nicht bekannt gewesen, dass überhaupt irgendeine übergeordnete Stelle sich um die Vorgehensweisen innerhalb der Schule gekümmert hat.
Wobei ich tatsächlich unterschreiben würde, dass in öffentlichen Schulen zumindest die Grundlage für extremistischen Unterrichtsinhalt weit weniger wahrscheinlich ist.
Ich bleibe jedoch bei meiner Forderung, dass Religionsunterricht an Schulen nicht gebraucht wird und ersatzweise ein brauchbareres Fach, wie z.B. das von dir vorgeschlagene, eingeführt werden sollte.
Religion ist für meine Begriffe Privatsache und es wäre wünschenswert, dass es eben nicht an Schulen gelehrt wird - D.h. nicht, dass es dort nicht thematisiert werden sollte, aber eben so wie jedes andere Fach auch.
(Man fängt ja auch nicht an, Kinder in Musiker/Sportler/Physiker/Mathematiker usw. einzuteilen, sondern alle Kinder nehmen an den Unterrichtsfächern teil. Wenn dann ein gewisses Basiswissen vermittelt ist und man den Jugendlichen zutraut, ihre eigenen Kompetenzen einzuschätzen, dann befinden sie sich in der Oberstufe und können sich ihre Fächer nach persönlichen Interessensgebieten einteilen und bekommen das nicht einfach vor die Nase gesetzt - Das wäre in meinen Augen dann eben Indoktrination und hindert Kinder an einer deduktiven Selektion und Entscheidungsfindung)

Außerdem könnte es recht spannend werden, ordnende Kräfte bei Fragen der Religion einzuführen und meiner Erfahrung nach lassen sich Eltern, unabhängig ihrer Religionszugehörigkeit, selten reinquatschen. (siehe private Kreationistenschulen in NRW)

Zum Herrn Thierse:
Wenn er das Thema als Politiker bearbeitet, dann darf er natürlich seinen persönlichen Hintergrund behalten, auch den religiösen und es ist auch nicht möglich die eigene Sozialisation gezielt auszuknipsen, aber er leitet ja direkt mit dem Satz ein, dass er diese Frage als Christ und Sozialdemokrat beantwortet.
Er kann die Frage auch genau gleich in der Öffentlichkeit beantworten, ohne einen direkten Bezug auf seinen Glauben zu nehmen, d.h. er darf klar sagen, dass er den Religionsunterricht für angemessen hält, um Kindern/Jugendlichen eine Herangehensweise zu liefern, aber was hilft es ihm oder auch mir als geneigtem Leser, dass er mir seinen Glauben unter die Nase hält, erst recht wenn es deiner Definition nach sowieso eher allgemein zu betrachten ist.
Schämen oder sich verstecken braucht er sich für seinen Glauben auch nicht und ich verlange nicht, dass jemand auf Grund seiner eigenen Vorstellungen diskriminiert wird oder einen Teil seiner Meinungsfreiheit einbüßen sollte, aber genauso wenig wie er sich dafür verstecken muss, sollte er auch nicht ständig die Fahne mir der Aufschrift "Christ" hochhalten.
Zahlen, Statistiken ... das ist alles total Sarrazin! Ihr müsst richtig fühlen! FÜHLEN! Darum geht es.

Federvieh


GeMa

Zitat von: nachteule am 06. Dezember 2010, 14:42:28
http://hpd.de/node/10768/

Ah, ja. :/

Ja, echt spannend. Noch dämlicher ist die Schnitzeljagd im holy land. Scheint derzeit eine Art vorweihnachtliche Großoffensive zu sein. Die Kindersendezeiten sind dermaßen von Heiligkeit geflutet, das fällt sogar auf, obwohl um die Jahreszeit eh traditionell mit erhöhtem mosaischen Aufkommen zu rechnen ist.
(Übrigens waren Adam und Evchen doch in der Totalen zu sehen. Und siehe da, er hatte gar keinen Pillermann.  ;D ;D - wirft für Kinder aber auch nicht wesentlich mehr Fragen auf, als der Umstand, dass das Menschengeschlecht von den 2 Söhnen unter Abwesenheit von Töchtern abstammen soll  ;D )


wintermute

Zitat von: Antitainment am 05. Dezember 2010, 20:08:13
Diese überzogene Toleranz könnte uns eines Tages mal Kopf und Kragen kosten - Meiner Meinung nach sollte man sich nicht überlegen, den Islam auch an Schulen zu lehren, sondern die gesamte religöse Erziehung (Indoktrination) aus dem Schulunterricht zu entfernen.

100% Agree

Ist nur alles nicht so einfach. Ich hab vor 4 Jahren noch mal ne neue Ausbildung gemacht, und wir waren in der Berufsschule die erste Klasse, die wieder Religionsunterricht hatte, weil - Zitat meiner Lehrerin "in unserer Gesellschaft ein massiver Werteverfall" stattfindet. Da bin ich dann auch gleich in die Atheisten - Schublade gesteckt worden, obwohl ich das nicht wollte. Liege halt nicht so gern in engen, muffigen Schubladen.

Aber der Religionsunterricht sollte wirklich aus den Schulen verbannt werden. Ich habe heute noch mit meinen religiösen Konditionierungen zu kämpfen. Und man sollte Kindern einfach noch keine religiöse Weltanschauung einhämmern, weil sie sich nicht wehren können und bei weitem nicht so gut abwägen können wie ein Erwachsener.

Skepsis

Thierse nervt mich mittlerweile ganz gewaltig. Nicht, weil er Christ ist und sich öffentlich dazu bekennt. Das ist sein gutes Recht. Aber seine Argumentation ist unredlich, und da ich ihn für einen nicht unintelligenten Menschen halte, ist da mit einiger Sicherheit Vorsatz im Spiel:
Zitat
   Beispiel eins: die Forderung, dass nur ein wirklich religionsdistanzierter Staat der Forderung des Grundgesetzes entspreche, keine Religions- oder Weltanschauungsgemeinschaft zu bevorzugen oder zu benachteiligen. Sie legt den Schluss nahe, dass der Staat zu einem religionsfreien Raum gemacht oder gar auf einen säkularistischen Glauben verpflichtet werden soll. Hier zeigt sich sehr klar, dass der radikale Laizismus selber Partei im Streit der Weltanschauungen ist: Indem der Staat Religion zurückdrängt, ergreift er nämlich Partei für einen säkularen Humanismus.

Wie wird die Religion zurückgedrängt, wenn der Staat zu einem religionsfreien Raum gemacht wird? Warum müssen bei irgendwelchen Einweihungen christliche Gottesdienste abgehalten werden? DAS ist doch die Abkehr der gebotenen staatlichen Neutralität! Anders gesagt: Warum ausgerechnet die Christen? Müssten nicht Vertreter aller in DE als Religionsgemeinschaft anerkannten Gemeinden da sein? Also auch Muslime, Juden, Buddhisten, Hindus (gibt's aach in DE) und was weiss ich nicht noch alles. Und alle  natürlich in allen existierenden Schattierungen. Könnte insbesondere bei den ersten drei witzig werden.

Thierse macht genau das, was er dem 'kämpferischen Atheismus' und dem 'säkularen Fundamentalismus' vorwirft: Den Staat in die Pflicht nehmen, sein Überzeugungssystem zu präsentieren. Gleichzeitig rückt er durch seine Wortwahl die Atheisten in die Ecke von Fanatikern (sollte man ein besoffener Atheist seinen Koffer auf dem Bahnhof vergessen dann kommt wohl die Warnung vor dem 'atheistisch-fundamentalen Terror' von seiner Seite).

Wie gesagt, er geht mir mächtig auf den Geist. Ich weiß nicht, was mich von Schimpfkanonaden, die er verdient hätte, abhält. Vielleicht das ca. 60-70cm große Kruzifix, das hier im Hotelzimmer am Fußende meines Bettes hängt (kein Scherz!)?

Gruß

Quantenengel

Trennung von Staat und Kirche ist nicht in Deutschland. Ich fürchte, da können wir noch ein Weilchen darauf warten. Aber jede Wette, die führen das aber flugs dann ein, wenn wir hier soviele Moslems haben, dass die den Islam ansonsten beim besten Willen nicht mehr übergehen könnten.  :D

Der Religionsunterricht war auch bei mir, mit mehreren Lehrern, nicht so, wie Thierse es so hübsch an die Wand malt. Und das ist ja auch so ein Brüller: das einzige Fach an öffentlichen Schulen, das laut Grundgesetz (Art. 7 (3)) "ordentliches Lehrfach" ist, ist der Religionsunterricht. Nicht Deutsch, nicht Mathe, nicht sonstwas. Ich frag mich echt, was das soll. Aber gut, im Grundgesetz steht ja so einiges, bei dem man sich echt an den Kopf fassen kann (z. B. keine strikte Gewaltenteilung: Regierung ist gleichzeitig Mehrheit im Parlament).

Auf der Lohnsteuerkarte wird ebenfalls die Religionszugehörigkeit vermerkt - dabei geht es den Arbeitgeber nichts an, ob und wenn ja bei welcher Gemeinschaft man ist. Und ich wüsste auch nicht, wieso der Staat es sich im 21. Jahrhundert zur Aufgabe macht, für die Kirchen das Geld einzutreiben.

Wolleren

Richtig, Thierses Argumentation ist unredlich.
Sein erstes Beispiel mit "Indem der Staat Religion zurückdrängt, ergreift er nämlich Partei für einen säkularen Humanismus" ist wirklich ein schönes Beispiel. Thierse konstruiert hier mit der Behauptung, "radikaler" Laizismus sei selbst Partei (vulgo: Atheismus ist auch nur ein Glaube), ein Hirngespinst. Denn wie könnte ein regelnder Staat NICHT gezwungen sein, für ETWAS Partei zu ergreifen?! Dass Laizismus orthogonal zu den Glaubensrichtungen ist und damit die einzige Wahl, ist ihm als Sozialdemokrat, Christ und Vollhonk nicht klar.

Quantenengel

Zudem kann man durchaus Anhänger einer Religion sein, aber trotzdem für die strikte Trennung von Kirche und Staat sein.