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Alternativ-Quatsch?

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Begonnen von Yadgar, 14. Dezember 2020, 17:58:25

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Yadgar

Hi(gh)!

Seit einigen Jahren habe ich den Newsletter des NANU-Magazins (ursprünglich "Experiment Selbstversorgung") abonniert, eine klassisch alternative (im Sinne von "Alternativbewegung der 1970er Jahre", nicht dem, was heutzutage unter "alternativ" verstanden wird - also linksalternativ, nicht rechtsradikal verstrahlt-wahnwichtelig)... und neben vielen Artikeln zu persönlicher Alternativ-Lebenspraxis (mit dem Schwerpunkt "Ernährung") auch mehr Gesellschaftsbezogenes, wie z. B. Artikel über die zukünftige Ausrichtung der Landwirtschaft oder des Bildungswesens. Da finden sich dann jedoch viele Ideen, die mir eher regressiv als progressiv erscheinen, wie z. B. die Utopie eines "Zurück zur Scholle" mit hauptsächlich manuell betriebener kleinteiliger Landwirtschaft ("Herz, Hirn und Muskelkraft", beachtet auch die Kommentare von mir), oder auch die Abschaffung von Schule zugunsten "freien Lernens" ("Leben ohne Schule")...

Neu ist das alles nicht, ich kenne das sehr gut aus der Frühzeit der Grünen, einschließlich der "Antipädagogik" (1984/85 gab es Flugblätter mit dem Titel "Das Menschenrecht auf Schulverweigerung", sie klebten in den Treppenzugängen zur U-Bahn-Station Ebertplatz in Köln)... und damals (mit 15 Jahren) war ich naiv begeistert von diesen Ideen... 35 Jahre später kann ich das alles nicht mehr vorbehaltlos unterstützen, wobei ich mir allerdings nicht zu 100% sicher bin, ob das reifer Realismus oder doch mehr durch langjährigen Konsum von Internet-Leitmedien (Zeitspiegelfaztazwelt Online) und der dazugehörigen Leserkommentarspalten in Richtung misanthropen Zynismus verbogenes Welt- und Menschenbild ist.

Diese Alternativ-Utopien kommen mir immer so vor, als wären sie (unausgesprochen) für die kleine einsame Insel weitab vom Rest der Welt gedacht und würden dort (mit hochmotivierten, ernsthaften Teilnehmern!) wahrscheinlich auch mehr oder weniger gut funktionieren - aber inmitten einer nach vielen Millionen Menschen zählenden hyperkomplexen modernen Gesellschaft mit all ihren Widersprüchen, Verwerfungen und menschlichen Abgründen nach kurzer Zeit scheitern oder sich in ihr perverses Gegenteil verwandeln...

Wie denkt ihr darüber?

Bis bald im Khyberspace!

Yadgar
ENTEIGNET SPRINGER!

Schwuppdiwupp

Sehr ähnlich.

Ich habe noch vor Kurzem mit einem Bekannten über derartige Utopien gesprochen. Er meinte, dass man heute wie in den Kulturen der Ureinwohner von Pazifikinseln sein - Zitat: "bekömmliches" - Auskommen hätte.
Er wurde grantig, als ich meinr Ansicht kund und zu wissen gab, dass gerade er - der Sesselrevoluzzer - ganz schnell am Ende wäre. Auch schon aufgrund seines gesundheitlichen Zustands, der das tägliche Schlucken diverser Pillen verlangt.
Und die werden nun mal nicht von Dorfschamanen sondern von einer kapitalistischen Pharmaindustrie in Massen und somit allgemein verfügbar hergestellt.

Diese Abhängigkeit vom Kapitalismus regte ich ganz besonders auf und wurde rundweg abgestritten.

Nun ja, machste nix dran ...
Ach, was weiß denn ich ...

sailor

Naja, sehr viel von der Subsistenzlehre beruht ja darauf, dass man nur von dem lebt, was man selbst "machen" kann, sei es nun Lehre oder Landwirtschaft . Als Historiker kann ich dazu nur eines sagen: Zivilisation, "Fortschritt" und Lebenserwartung/Lebensstandard beruhen auf Arbeitsteilung, Spezialisierung und, um es mal marxistisch zu sagen, der Akkumulation von "Kapital" und "Produktionsmitteln". Man baut Werkzeuge um bessere Werkzeuge zu bauen; man spezialisiert sich auf ein Werkzeug, um es besser und öfter herzustellen; und man tut sich mit anderen zusammen, die ihre Werkzeuge besser und öfter herstellen. Die ganze "zurück zur Scholle"-Romantik ist antizivilisatorisch, man kann nur mit massiven Selbstbetrug beides haben. Dieser Selbstbetrug würde bspw. in automatisierten Fabrikationsanlagen, welche die "Bauern" mit hochwertigen Gütern beliefern... oder ner Sklavenkaste (Heinrich Himmlers Ostsiedler grüßen stramm).


Scipio 2.0

Manche gehen ja noch weiter und lehnen die Landwirtschaft gleich auch noch ab und erheben die Jäger und Sammler Kultur zum Ideal wie Menschen leben sollen.

Als Beleg wird dann zum Beispiel angeführt, dass Jäger und Sammler gesünder gewesen sein sollen und älter wurden als die ersten Bauern.

Peiresc

Zitat von: Schwuppdiwupp am 14. Dezember 2020, 20:48:24
Ich habe noch vor Kurzem mit einem Bekannten über derartige Utopien gesprochen. Er meinte, dass man heute wie in den Kulturen der Ureinwohner von Pazifikinseln sein - Zitat: "bekömmliches" - Auskommen hätte.

... ah, da fällt mir doch tatsächlich wieder ein:
Zitat von: Peiresc am 09. März 2017, 19:12:52
Ich entsinne mich einer Anekdote, die Werner Herzog mal über Klaus Kinski erzählt hat. Kinski war der totale Dschungel-Fan, er konnte stundenlang darüber schwafeln, wie großartig das Leben im Dschungel, weitab der dekadenten Zivilisation, wäre. Bei den Dreharbeiten, ich glaube zu Fitzcarraldo, war aber Kinskis Urwaldbedarf nach 20 Minuten vollständig gedeckt.

eLender

Zitat von: Yadgar am 14. Dezember 2020, 17:58:25
...beachtet auch die Kommentare von mir...
:rofl

Das hat gesessen! Diese angebliche "Zukunftslandwirtschaft" ist nicht die Zukunft der Landwirtschaft; gerade wenn um die neuen Herausforderungen, die der Klimawandel mit sich bringt, zu überwinden. Das, was der Type da macht, ist ein sehr spezieller Markt, für den es natürlich auch entsprechende Nachfrage gibt. Die Produkte müssen entsprechend teuer sein, die Produktivität ist gering. Das funktioniert nur in kleinem Rahmen. Gut, man selbst (und die betuchte Kundschaft) hat halt das Gefühl. die Welt zu retten. Das ganze Denken, man müsse zurück in die kleinbäuerliche Landwirtschaft und  technisch bis fast auf Steinzeitniveau abrüsten, ist rückwärtsgewandt. Das hat mit Utopie wenig zu tun, das ist eher ultra-konservativ. Das, was du in deinem schönen Kommentar geschrieben hast, wäre eine Utopie (auch wenn es etwas überexponiert ist). So Hype-Zeugs wie Urban-Farming ist auch nur heiße Luft und wird sicher kein großes Ding werden. Man sollte einfach mal überlegen, ob man mit ein bisschen Gärtnerei (das ist sowas im wesentlichen) wirklich die Welt ernähren kann. Gemüse- und sonstige Sonderkultur ist immer arbeitsintensiv, dafür bringt es höhere Erträge. Aber das Gros der landwirtschaftlichen Produktion sind unsere Grundnahrungsmittel, die halbwegs günstig produziert werden müssen. Das schimpfen die "Utopisten" dann als "industrielle Landwirtschaft". Aber auch hier wird die Zukunft gestaltet, man entwickelt sich technisch weiter und versucht, Ressourcen zu sparen. Precision Farming, der Einsatz von Drohnen, neuartige PSMs, Gentechnik, neuartige Anbaumethoden (Direktsaat und Humusaufbau ist auch in der "industriellen" Landwirtschaft angekommen).
Wollte ich nur mal gesagt haben!

Yadgar

Hi(gh)!

Zitat von: eLender am 14. Dezember 2020, 22:04:14
Zitat von: Yadgar am 14. Dezember 2020, 17:58:25
...beachtet auch die Kommentare von mir...
:rofl

[...]

Das, was du in deinem schönen Kommentar geschrieben hast, wäre eine Utopie (auch wenn es etwas überexponiert ist).

Aber so ganz wohl ist mir mit meinem Technofuturismus auch nicht... was wäre denn gewonnen, wenn sich über kurz oder lang die ganze Welt in ein einziges von Megakonzernen beherrschtes Singapur verwandelt, glasglänzend, smart, clean, effizient und gleichzeitig erzkapitalistisch-autoritär, Demokratie wurde wegrationalisiert weil einfach zu schwerfällig, wenn Google Food, Google Health und Google Mind sich jeden Winkel unserer Existenz unter den Nagel gerissen haben und dem Normalmenschen nur noch in virtuellen Welten so etwas wie freie Entfaltung zugestanden wird?

Zitat von: eLender am 14. Dezember 2020, 22:04:14
Das schimpfen die "Utopisten" dann als "industrielle Landwirtschaft". Aber auch hier wird die Zukunft gestaltet, man entwickelt sich technisch weiter und versucht, Ressourcen zu sparen. Precision Farming, der Einsatz von Drohnen, neuartige PSMs, Gentechnik, neuartige Anbaumethoden (Direktsaat und Humusaufbau ist auch in der "industriellen" Landwirtschaft angekommen).

...und obendrauf lecker Laborfleisch (was ich jederzeit essen würde, ich bin mir aber nicht sicher, ob ich meinen vegetarischen Herzkönig überzeugt bekäme), z. B. das sagenhafte HalalPork von Nutritronic aus Glatzerabad (für Nicht-Afghanen: Gummersbach), Bergisch-Afghanistan... aber bitte nicht von Google Food!

Bis bald im Khyberspace!

Yadgar
ENTEIGNET SPRINGER!

eLender

Zitat von: Yadgar am 14. Dezember 2020, 22:59:19
Aber so ganz wohl ist mir mit meinem Technofuturismus auch nicht...

Die ganz einfache Frage ist doch, ob wir unser Heil durch mehr oder durch weniger Technologie finden. Ich denke, es wird Ersteres sein. Das Rad läßt sich nunmal nicht zurückdrehen, oder so ähnlich. Und wenn das kleinbäuerliche Idyll nur per VR-App von Google (lustiger Einwurf aus deinem Kommi) möglich ist, dann möge es so sein. Die Techgiganten können einem schon Angst machen, aber einer muss den Spaß ja bezahlen. Ist leider so, dass neue Technologien erst mal sündhaft teuer sind. Deswegen wird die Subsistenzwirtschaft kaum der große Innovationsbringer sein.
Wollte ich nur mal gesagt haben!

Yadgar

Hi(gh)!

Zitat von: eLender am 14. Dezember 2020, 23:56:21
Und wenn das kleinbäuerliche Idyll nur per VR-App von Google (lustiger Einwurf aus deinem Kommi) möglich ist, dann möge es so sein.

VR-App von Google? Hat mit meinen Vorstellungen ungefähr soviel gemeinsam wie ein Tretroller mit dem Raumschiff Enterprise... nein, ich meine natürlich eine vollständige Matrix, die nicht mehr von der realen Welt unterscheidbar ist, die von ihren Bewohnern für die Wirklichkeit schlechthin gehalten wird, ohne jegliche Erinnerung an das Leben vor der Matrix! Das wäre VR in Vollendung...

Zitat von: eLender am 14. Dezember 2020, 23:56:21
Die Techgiganten können einem schon Angst machen, aber einer muss den Spaß ja bezahlen. Ist leider so, dass neue Technologien erst mal sündhaft teuer sind. Deswegen wird die Subsistenzwirtschaft kaum der große Innovationsbringer sein.

Aber wenn die Machtfülle der Technologiekonzerne totalitären Charakter annimmt? Ideal wäre es, wenn die Technologien sowohl zur Schaffung virtueller Welten als auch zur biotechnologischen Manipulation von Körper und Geist in die Hand des Einzelnen gegeben wären, statt von Konzernen monopolisiert zu werden - so wie in den 1980er Jahren mit dem Aufkommen der Heimcomputer erstmals die Herrschaftstechnik des Programmierens egalisiert wurde!

Bis bald im Khyberspace!

Yadgar
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eLender

Zitat von: Yadgar am 15. Dezember 2020, 00:18:36
VR-App von Google? Hat mit meinen Vorstellungen ungefähr soviel gemeinsam wie ein Tretroller mit dem Raumschiff Enterprise... nein, ich meine natürlich eine vollständige Matrix, die nicht mehr von der realen Welt unterscheidbar ist, die von ihren Bewohnern für die Wirklichkeit schlechthin gehalten wird, ohne jegliche Erinnerung an das Leben vor der Matrix! Das wäre VR in Vollendung...

Ready Player One, anyone? Wird es sicher in ein paar Jahren von Google oder FB oder Tesla geben. Momentan ist das wirklich etwas dünn. Aber man bleibt ja nicht stehen. Das mit der digitalen Demenz wird sicherlich noch dauern...

ZitatAber wenn die Machtfülle der Technologiekonzerne totalitären Charakter annimmt?

Oder die der rückwärtsgewandten Weltretter? Wie man's dreht, eine Dystopie hat doch immer auch so seine Schattenseite. Aber für 'nen Blockbuster sind so Geschichten immer gut.

Wollte ich nur mal gesagt haben!