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Der Verstand muß Sklave werden

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Begonnen von Bloedmann, 31. Mai 2012, 21:02:22

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Bloedmann

Ja richtig gesehen, dieser Artikel ist doch glatt 20 Jahre alt. Könnte aber auch von gestern sein.

http://www.spiegel.de/spiegel/print/d-13681263.html

ZitatDer Verstand muß Sklave werden

SPIEGEL-Redakteur Rüdiger Falksohn über Bhagwans Erben und den Esoterik-Boom in Poona

Schrei dich frei! Strampel wie ein Baby! Laß es raus und fühle diesen Energiestrom! Du wirst sehen, hinterher bist du ziemlich shaky, aber auch angenehm leer - und irgendwie very tender.

Viele schwören auf die kathartische Wirkung einer "dynamischen" Meditation am frühen Morgen. Deswegen treffen sie sich pünktlich um sechs unter dem Zeltdach der großen Buddha-Halle. Selbst im Mai, kurz vor Beginn des Monsuns, wenn schon bei Tagesanbruch über dem indischen Hochland die Luft flirrt und dampft, üben im Ashram von Poona ganze Hundertschaften die schweißtreibende Reinigung der Seele.

Zu hypnotischen Bongo-Rhythmen pumpen die weinrot gewandeten Meditationssportler mit den Armen, maikäfern in aberwitzigem Tempo, schnauben aus Leibeskräften durch die Nasen. Und während sich rasch die tropische Dämmerung lichtet, begrüßen sie den Tag auf ihre Weise: mit einem achtminütigen Brüllorkan.

Sie hopsen wie besessen, die Arme hochgestreckt, und stoßen keuchend das Mantra "Yahoo" aus. Abrupt fallen sie dann in lautlose Erstarrung, den Blick auf das großformatige Porträt eines weißbärtigen Alten mit perlenbesetztem Fellkäppi gerichtet. Sind dies die letzten durchgedrehten Jünger Bhagwans? Oder trägt es da einen Haufen Narren aus der Kurve?

Die Antwort hat mit dem chaotischen Gesamtzustand der Welt, mit Sinnsuche, jüngsten touristischen Trends und einem sechs Wochen lang eiternden Backenzahn zu tun.

Ende der achtziger Jahre schien der Fall des ehemaligen Sanskrit-Dozenten und Philosophen Shree Rajneesh, den sein Gefolge ehrfürchtig Bhagwan ("Herr") nannte, gelöst. Vorbei die Zeit des tantrischen Gruppensex in Poona, vorbei der Verdacht auf Gehirnwäsche in Oregon: Der Erleuchtete, im Westen als geschäftstüchtiger Psycho-Manager in Verruf, hatte die Sannyasin-Sekte nach seiner Abschiebung aus dem US-Exil offiziell aufgelöst.

Prompt verschwanden die Malas, jene Holzperlenketten mit dem Amulett des Meisters, in den Schubladen der Gläubigen und die rosarote Kluft aus dem Straßenbild von Eimsbüttel und Schwabing. Sex sollte nach Bhagwans Empfehlung, wenn überhaupt, nur noch extrem safe (mit Kondom und Gummihandschuhen) ausgeübt werden. Da ließ das öffentliche Interesse an den "Baggies" merklich nach.

So blieb weitgehend unbeachtet, daß sich der Guru, bereits durch Asthma und Diabetes geschwächt, einen schmerzenden Weisheitszahn ziehen lassen mußte. Dieser Vorfall aber inspirierte ihn, am 7. Januar 1989 den japanischen Namen Osho ("der Gesegnete, auf den der Himmel Blumen regnet") anzunehmen. "Der Spaß ist vorbei", soll er das Ende seiner bhagwanesischen Periode kommentiert haben.

Auch die Fassaden im Ashram mißfielen ihm plötzlich. "Paint it black", habe er gesagt, ohne weitere Erläuterungen, woraufhin rote Türen und orangefarbene Wände unverzüglich schwarz getüncht wurden.

In den folgenden Monaten mehrten sich Anzeichen seines bevorstehenden Ablebens, und das labile Binnenklima im Ashram führte zu einer Häufung von Betriebsunfällen: Einer rammte sich ein Messer in den Bauch, eine rannte nackt durch Poona, jemand ertrank unter ungeklärten Umständen in einem Brunnen.

Am 19. Januar 1990 "verließ Osho seinen Körper", so die offizielle Formel. Leibarzt Swami Prem Amrito, der noch während der Einäscherungszeremonie flugs an die Spitze der Bewegung trat, hätte damals "nicht gedacht, daß die Osho Community ohne ihn überleben könnte". So kann man sich täuschen - gut zwei Jahre später meldet der Ashram ungeahnte Besucherrekorde.

Osho finden sie gut: Deutsche in vorderster Front, aber auch Japaner, Italiener und Osteuropäer besuchen in steigender Zahl das Hauptquartier der Gemeinde in Poonas Villenviertel Koregaon Park. Nun, da der Alte tot ist und die Gefahr der Verhexung geringer scheint, trauen sich auch viele Newcomer herbei.

In selbstproduzierten Werbefilmen wird zudem der Ashram verführerisch als "Club Meditation", als zeitgerechte Verbindung von "Urlaub, Sport, Fitneß, Komfort und Vergnügen" gepriesen. Der Münchner Horizonte Reiseservice, eng mit der Sannyasin-Szene verknüpft, hat neuerdings, ebenso wie US-Spezialveranstalter, pauschale Pilgertouren im Programm.

Durchschnittlich 6000 Gäste, doppelt so viele wie 1989, passieren täglich den Eingang (Voraussetzung: ein negativer Aids-Test). In Spitzenzeiten, zum Beispiel wenn Oshos Hinscheiden mit einem munteren Karneval gefeiert wird, sind es sogar gut 10 000.

Unversehens betreten sie, nach vierstündiger Tour de force von Bombay nach Poona, einen esoterischen Garten Eden mit gut geölter Infrastruktur, wo jedwede spirituelle Marotte bedient wird - von tibetanischem Augenlesen, einer Diagnose-Methode, über eine "Kristall-Akademie", wo über Heilkräfte von Mineralien gelehrt wird, bis zum "Zennis", einer Mixtur aus Tennis und meditativen Elementen. "Man wundert sich anfangs so über einiges", sagt die Hamburger Ashram-Touristin Barbara.

Eine Multikulti-Gemeinde in Einheitsrot wandelt da gemessenen Schrittes auf Jesuslatschen über tipptopp saubere Fliesenwege und durch wucherndes Tropengrün. Hagere Altvegetarier nippen am Kräutertee oder lesen in der Bücherei (im Angebot: mehr als 650 Meister-Werke). Schöne Besinnungsgenossinnen dösen auf Marmormauern, und Osho schmunzelt schelmisch von Plakaten herab. Als "Oase für inneres Wachstum" empfindet eine badische Krankenschwester die gedämpfte Atmosphäre in dem hermetischen Esoterik-Klub, zu dem Passanten und gemeines Volk keinen Zutritt haben.

Tageseinnahmen von schätzungsweise 100 000 Mark, dazu Gewinne aus weltweiten Rechten an Osho-Büchern und -Videos machen indes auch eine äußere Expansion notwendig. Das Gelände wurde mit Zukäufen von fünf auf zehn Hektar erweitert. Weiteres Geld wurde in einige angrenzende Grundstücke investiert, wo die Führungscrew in komfortablen Bungalows residiert.

Unaufhörlich klopfen indische Hilfskräfte Steine, haben ein neues Schwimmbad ausgehoben und mauern an vier granitschwarzen Pyramiden, die aussehen, als hätten sich kosmische Architekten in der Dritten Welt einen Jux gemacht. Nur diese Niedriglohnempfänger, das Küchenpersonal, ein paar Vermieter und Rikschafahrer haben an der Poona-Renaissance kümmerlichen Anteil. "Ansonsten scheren sich die Oshos nicht den Dreck unter dem Fingernagel um die Einheimischen", sagen ortsansässige Deutsche.

Eine einstündige chiropraktische Softmassage, bei der ein australischer Swami namens Azti einfühlsam "Hirnströme pulsen" läßt, kostet 500 Rupien; dafür muß ein indischer Hausmeister einen Monat arbeiten - sieben Tage pro Woche, zwölf Stunden pro Tag.

"Wer hier logische Maßstäbe ansetzt, der mißversteht Osho", sagt Amrito, 47, ein ehemaliges Mitglied des Londoner Royal College of Physicians, "die meisten Dinge im Leben sind irrational."

Ganz entspannt sitzt der asketische, dekorativ ergraute Engländer in seinem computerisierten Büro. Am Handgelenk baumelt eine Uhr mit einem breiten, rubin- und brillantenbesetzten Armband; Amrito zur Seite sitzt lockenumrahmt Oshos letzte Sekretärin Ma Dena Anando, 45, die früher in Melbourne lebte und Anwältin war.

"Die Welt ist wie ein chaotisches Kinderzimmer, in dem niemand aufräumt", sagt Amrito. "Der Materialismus ist hohl, deswegen suchen alle einen Lebenssinn", sagt Anando.

Der Planet stehe ökologisch auf der Kippe, der Kommunismus als letztes rationales System sei gescheitert. "Die einzige Lösung heißt Meditation", sagen beide, "der Verstand muß zum Sklaven werden."

Besonders empfohlen werden Rituale mit programmatischen Namen wie "No mind" oder "No dimension". Sie sollen das störende Hirn abschalten und die Versenkung ins Ich fördern. Um der Erleuchtung näherzukommen, wird zu federleichten Ragas eine schlichte Choreographie getanzt. Wie sanfte Krieger strecken die Meditateure die Arme ruckhaft in verschiedene Richtungen und zischen dazu vernehmlich: "Sssshhhh!"

Bei Oshos liebster Übung, der "Mystic rose", wird täglich stundenlang abwechselnd gelacht, geweint und "wie der Wächter auf dem Berge" geschwiegen. Den Abschluß solch eines dreiwöchigen Exerzitiums feiern die Teilnehmer mit Remmidemmi in einer Gartenlaube und singen ausgelassen zur Musik von Rasseln und Trompeten: "Wir alle sind in Osho!"

Im Konzept des Rajneesh/Bhagwan/ Osho gilt die Weltmechanik als unabänderlich. Die Advaita-Lehre, die der Mystiker vertrat und mit modernen Psychotechniken kombinierte, postuliert eine stufenweise Entwicklung des Individuums - durch meditatives Eintauchen in die eigene Person.

Das kommt besonders gut bei Beziehungsgeschädigten und Zivilisationskranken an, die "mal aus dem Rattenrennen aussteigen und die Maschine abstellen wollen" (so die Kölner Osho-Sprecherin Yachana Schön). Die frühere Schauspielerin Ma Alok Mumuksha, 40, Tochter einer Hamburger Kaffeerösterfamilie, nennt sich und ihresgleichen "Leute am Kreuzweg", die zu "diesem Energiephänomen Osho" gefunden haben.

Des Meisters Gedankengebäude kennt weder politische noch soziale Verantwortung, Bezüge zu Vergangenheit und Zukunft fallen fort. "Sannyas ist Charakterlosigkeit, es hat keine Moral", hat er einmal gesagt.

Das beziehungslose, wahre Selbst ist Ziel aller Reinigungen und esoterischen Ashram-Angebote. "Man kommt zusammen, um allein zu sein", sagt Ma Shantam Lani, 34, aus North Carolina - und um während des oft mehrmonatigen Aufenthaltes den kritischen Geist an der Garderobe abzugeben.

Widerspruchslos fügen sich die Ashramiten dem allgegenwärtigen, absurden Totenkult um Osho. Geräuschlos schleichen sie auf weißen Socken zur Schweigestunde ins "Samadhi", seine luxuriöse Grabstätte, deren Ästhetik aus Hollywood stammen könnte.

Vorbei geht es an den Reliquien des Tuchhändlersohnes aus dem indischen Dorf Kuchwada, einem lindgrünen Zahnarztstuhl und einem goldenen, extralangen Rolls-Royce Silver Spur, der an die Zeit in Oregon erinnert. Daß der Import von Luxuslimousinen damals die Funktion einer Geldwäsche hatte und viele Kuriere Rolex-Uhren trugen, wissen nur wenige.

Die wahre und endgültige Huldigung, zugleich ein identitätsstiftendes Erlebnis, ist die "Bruderschaft der Weißen Robe", der allabendliche Abschluß eines meditationsreichen Tages.

Nur die Marmorbühne der großen Buddha-Halle ist ausgeleuchtet, einsam steht da Oshos maßgefertigter Ohrensessel. Vögel keckern, krächzen, balzen, baumhoher Bambus knarzt im Abendwind. Musik setzt ein, beschleunigt sich ekstatisch, die Abendgäste rufen donnernd: "Osho!"

"Diskurs 36" steht auf dem Programm, ein 90minütiger Mitschnitt einer Fragestunde in Uruguay, wo sich der erste Prophet des Videozeitalters zu Fragen fleischloser Kost äußerte ("Erleuchtete sind immer Vegetarier, aber nicht jeder Vegetarier ist erleuchtet").

Pausbäckig erscheint er auf der Leinwand, zeitlupenhaft doziert er in der Pose des Allwissenden. 2000 Ashramiten und auf seinem numerierten Ehrenplatz Swami Prem Amrito, der während der wilden Eintanzphase nur verhalten schunkelte, verfolgen geduldig Oshos monotone Tiraden, die er in kuriosem Englisch mit langgezogenen Zischlauten vorträgt. Manche Zuhörer liegen ausgestreckt auf dem Marmorboden. Meditieren sie? Schlafen sie ein Stündchen?

Auch der Meister blickt arg tranig von der Leinwand. In einem schwachen Moment kippen seine Augäpfel nach oben weg, die Pupillen verschwinden unter den Hängelidern, und nur das Weiße ist noch sichtbar - unergründlich schimmernd wie ein Milchsee.

DER SPIEGEL 22/1992
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