Neuigkeiten:

Wiki * German blog * Problems? Please contact info at psiram dot com

Main Menu

Kriminologie auf Abwegen

Postings reflect the private opinion of posters and are not official positions of Psiram - Foreneinträge sind private Meinungen der Forenmitglieder und entsprechen nicht unbedingt der Auffassung von Psiram

Begonnen von Wolleren, 24. Juni 2010, 01:25:05

« vorheriges - nächstes »

Wolleren

Die FAZ berichtet heute (23.6., Seite N3) unter dem Titel "Detektive" über das schwierige Aufdecken von Lügen in der Kriminalistik und nennt als zentrale Quelle den Artikel "Die Wahrheit über die Lüge", Kriminalistik, unabhängige Zeitschrift fpr due kriminalistische Wissenschaft und Praxis, Heft 8-9/2009.

Dem (sozial durchaus erwünschten) Vermögen eines Menschen zu lügen, steht demnach keine adäquate Fähigkeit des Aufdeckens von Lügen gegenüber. Empirische Studien zeigen, dass die Erfolgsquote bei 50% liegt, um Wahrheit von Unwahrheit in den Äußerungen anderer zu unterscheiden. In der genannten Quelle wird gezeigt, "wie der Wunsch nach Aufdeckung gerade in professionellen Kreisen von Polizei und Gericht von erschreckenden Lügenstereotypen unterlaufen wird".
Viel schärfer kann man in seriöser Sprache brunzdummes Unvermögen kaum anprangern.

Diese Lügenstereotypen bestehen z.B. im Glauben, das nonverbale Verhalten verrate den Lügner, etwa durch Nervosität, vermehrte Körperbewegungen und Selbstberührungen und das Vermeiden des Blickkontakts. Alles Unsinn.
Vor allem wird der Wahrheitsgehalt einer Aussage danach beurteilt, ob sie den eigenen Erwartungen und Erfahrungen entspricht - Wahrsager wissen das natürlich genauso wie erfahrene Lügner. Insbesondere die Art des Vortrags - emotional oder sachlich nüchtern - wirkt; wenn hier die Erwartung des Gesprächspartners getroffen wird, wird der eher Wahrheit vermuten.
Als wahrheitsgemäß Antwortender sollte man versuchen, nicht unstrukturiert zu wirken und vermeiden, nach Erinnerungen zu suchen. Dieses Verhalten verleitet das Gegenüber dazu, einem nicht zu glauben.

Neben der Praxis ist aber auch die jüngere Literatur von Irrglauben durchsetzt:
Die Pupillengröße wird als Indikator angeführt, taugt aber nichts. Ebenso "Schwitzen, Farbwechsel im Gesicht, trockener Mund, erhöhter Puls, Atemnot, Blickkontaktvermeidung und Fingertrommeln".
Der Bund Deutscher Kriminologen bringt noch die Augenbewegungsmuster ins Spiel. Willkommen beim NLP.
Dass eine Fehleinschätzung als Lügner auch noch selbstverstärkend wirkt, gerade bei Leuten, die eh schon methodisch ungebildet sind, soll auch noch erwähnt werden.

Zusammenfassend schreibt die FAZ:
"Diese Gefahren für die Wahrheitsfindung resultieren aus unterkomplexen Anleitungen, die empirisch gewonnene wissenschaftliche Erkenntnisse unberücksichtigt gelassen haben."
Wenn diese Anleitungen dann noch auf Leute treffen, die meinen, sie könnten jede Lüge aufdecken, weil sie das bei ihren Kindern ja schließlich auch könnten (auch dies ein sicher falsche Selbsteinschätzung), wenn also unterkomplexe Anleitungen auf unterkomplexe Anwender treffen, dann haben wir den Salat. Erinnert an esoterische Verhältnisse.

Bionic

Arg eigentlich. Aber falls es doch Leute gibt, die Lügner besser erkennen können, könnte man ja von diesen lernen.

Wolleren

Das stimmt schon, Bionic, sagt aber nicht viel.
Die erste Aussage des Artikels ist ja, dass es diese Menschen erfahrungsgemäß nicht gibt (gäbe es sie doch, siehe Deinen Beitrag), tatsächlich ist es sogar übel anmaßend, dass sich Kriminologen, Richter und Staatsanwälte aufspielen, sie seien in dieser Disziplin aufgrund ihrer Tätigkeit ganz toll.

Es wäre schön, wenn es informiertes Wasser gäbe, denn das würde uns eine neue Physik bescheren. Doch bis dahin ist es übel, dass es Homöopathen gibt.

pünktchen

Zitat von: Wolleren am 24. Juni 2010, 01:25:05Als wahrheitsgemäß Antwortender sollte man versuchen, nicht unstrukturiert zu wirken und vermeiden, nach Erinnerungen zu suchen. Dieses Verhalten verleitet das Gegenüber dazu, einem nicht zu glauben.

was strunzdumm ist. gerade in sich geschlossene strukturierte aussagen sind eher ein anzeichen dafür, dass einem eine vorgefertigte geschichte erzählt wird. was wiederum nicht bedeutet, dass diese völlig falsch sein muss.

Zitat von: Wolleren am 24. Juni 2010, 01:25:05Der Bund Deutscher Kriminologen bringt noch die Augenbewegungsmuster ins Spiel.

vielleicht eher der bund deutscher kriminalbeamten? die kriminologen sind hier vermutlich eher unschuldig.

kriminologie = die wissenschaft vom abweichenden verhalten und der gesellschaftlichen reaktion hierauf, unterabteilung der soziologie

kriminalistik = das handwerkswissen der polizei

es gibt durchaus kriterien, nach denen sich die glaubhaftigkeit einer aussage bewerten lässt. ist diese in sich schlüssig, ist sie mit den objektiven indizien vereinbar, kann der zeuge diese behauptete wahrnehmung überhaupt gehabt haben (entfernung, blickwinkel, lichtverhältnisse etc.)? ist die erzählung detailreich oder beschränkt sie sich auf das aus sicht des zeugen wichtige?

wenn man hingegen allein aus der persönlich empfundenen glaubwürdigkeit des zeugens auf den wahrheitsgehalt der aussage schliesst, wird man im ergebnis nach sympathie urteilen. und da diese mangels persönliches eindrucks auch noch durch soziale schichten und das vorwissen über den zeugen bestimmt ist, ist das ergebnis klassenjustiz. einem deutschem arzt wird eher geglaubt als einem senegalesischen flüchtling, obwohl oder gerade weil es ersterem schon sprachlich leichter fällt, überzeugend zu lügen. und polizisten wird schon aufgrund ihres amtes geglaubt, obwohl oder gerade weil sich ihre aussagen häufig durch eine grosse detailarmut auszeichnen, weil sie sich schlicht nicht erinnern können und nur den akteninhalt wiedergeben.

kuckt ihr hier: http://www.sgipt.org/forpsy/aussage0.htm
und hier: http://de.wikipedia.org/wiki/Glaubwürdigkeit_(Recht)

Wolleren

Zitat von: pünktchen am 25. Juni 2010, 18:09:49
Zitat von: Wolleren am 24. Juni 2010, 01:25:05Der Bund Deutscher Kriminologen bringt noch die Augenbewegungsmuster ins Spiel.

vielleicht eher der bund deutscher kriminalbeamten? die kriminologen sind hier vermutlich eher unschuldig.
Ja, hier habe ich leider falsch zitiert. Die FAZ erwähnt in diesem Zusammenhang den Bund deutscher Kriminalbeamter.

Zitat von: pünktchen am 25. Juni 2010, 18:09:49
kriminologie = die wissenschaft vom abweichenden verhalten und der gesellschaftlichen reaktion hierauf, unterabteilung der soziologie

kriminalistik = das handwerkswissen der polizei
Immer gut, solche Definitionen zu kennen!


Zitat von: pünktchen am 25. Juni 2010, 18:09:49
es gibt durchaus kriterien, nach denen sich die glaubhaftigkeit einer aussage bewerten lässt. ist diese in sich schlüssig, ist sie mit den objektiven indizien vereinbar, kann der zeuge diese behauptete wahrnehmung überhaupt gehabt haben (entfernung, blickwinkel, lichtverhältnisse etc.)? ist die erzählung detailreich oder beschränkt sie sich auf das aus sicht des zeugen wichtige?
Richtig, die inhaltliche Würdigung der Aussagen hat in dem zitierten Artikel keinen Platz, und hier ist bestimmt für die Kriminalistik ( :üb: ) am meisten zu holen.

Zitat von: pünktchen am 25. Juni 2010, 18:09:49
wenn man hingegen allein aus der persönlich empfundenen glaubwürdigkeit des zeugens auf den wahrheitsgehalt der aussage schliesst, wird man im ergebnis nach sympathie urteilen. und da diese mangels persönliches eindrucks auch noch durch soziale schichten und das vorwissen über den zeugen bestimmt ist, ist das ergebnis klassenjustiz. einem deutschem arzt wird eher geglaubt als einem senegalesischen flüchtling, obwohl oder gerade weil es ersterem schon sprachlich leichter fällt, überzeugend zu lügen. und polizisten wird schon aufgrund ihres amtes geglaubt, obwohl oder gerade weil sich ihre aussagen häufig durch eine grosse detailarmut auszeichnen, weil sie sich schlicht nicht erinnern können und nur den akteninhalt wiedergeben.

kuckt ihr hier: http://www.sgipt.org/forpsy/aussage0.htm
und hier: http://de.wikipedia.org/wiki/Glaubwürdigkeit_(Recht)

Ja, die Differenzierung in Glaubhaftigkeit der Aussage und Glaubwürdigkeit eines Zeugen ist notwendig.
Der SGIPT-Link ist klasse. Denn hier wird genau das wissenschaftliche Fundament gelegt, das notwendig ist, um möglichst sicher Wahrheit von Lüge zu unterscheiden.

Wenn man sich vergegenwärtigt, wie leicht man getäuscht werden kann (wie schlecht man bspw. in der Interpretation von Wahrscheinlichkeiten ist oder, wie von pünktchen angeführt, auf Aussehen , Auftreten und Vorurteile hereinfällt), desto mehr wünscht man den Krimnalisten ( :weiterüb: ), dass sie sich nicht auf Küchenpsychologie gemixt mit Esoterik verlassen.

Jadzia

Da gab es unglaubliche Vorgänge hinsichtlich der Glaubwürdigkeitsgutachten. In diesem Zusammenhang lohnt die Beschäftigung mit den "Wormser Prozesen".

Aussagepsychologische Gutachten spielen immer noch eine gewisse Rolle, obgleich sie (immer noch!) oft nicht den 1999 vom BGH gestellten Anforderungen genügen. Wer sich für das Thema interessiert, sei auf dieses Buch aufmerksam gemacht:

http://www.amazon.de/Zeuge-Aussagepsychologie-Gabriele-Jansen/dp/3811408615

Da kommt aber demnächst eine erweiterte und überarbeitete Auflage heraus. Ich bin der Autorin einmal begegnet und war von ihrem - für eine Rechtsanwältin (sorry!) - fundierten psychologischen Wissen und ihrem Durchblick beeindruckt.

Conni

Es gab auch ein fragwürdiges Gutachten, als der Herr Kriminologe Pfeiffer den Tod einen kleinen irakischen Jungen in einem Freibad begutachtete und wegen seiner voreiligen Neonazi-Theorie eine ganze Stadt in Verruf brachte.

Hier ein Link dazu: http://oai.bibliothek.uni-kassel.de/bitstream/urn:nbn:de:hebis:34-2010011931702/1/MoellerSebnitz2002.pdf

Es ging um den 6-jährigen Joseph aus Sebnitz.