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Niels Birbaumer, Neueste Erkenntnisse aus der Hirnforschung

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Begonnen von celsus, 18. Oktober 2014, 20:06:15

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celsus

Heute ist mir ein Buch in die Hände gefallen, das mich etwas ratlos macht:

"Dein Gehirn weiß mehr, als du denkst: Neueste Erkenntnisse aus der Hirnforschung"
Niels Birbaumer, Jörg Zittlau

Klappentext:
ZitatUnser Gehirn gleicht bei der Geburt einer Tabula rasa. Nur das wenigste ist festgelegt, das meiste wird geformt. Das heißt, wir haben selbst großen Einfluss auf unser Denken und Handeln – und unser Gehirn kann sich selbst aus dem Sumpf seiner Erkrankungen ziehen. Niels Birbaumer zeigt anhand konkreter Fälle aus seiner Forschung und Praxis, wie das gelingen kann. Depressionen, Epilepsie, Schlaganfälle und ADS lassen sich kontrollieren, nur durch Lernen und ohne risikoreiche Medikamente. Sogar Psychopathen können dadurch Mitgefühl entwickeln und völlig Gelähmte wieder Lebensfreude finden. Denn die Potentiale des Gehirns, so Birbaumers bahnbrechende Erkenntnis, sind fast grenzenlos: Es bietet dem Leben auch dann noch eine Perspektive, wenn wir sie nicht mehr sehen.

Schon nach wenigen Seiten habe ich den Eindruck, dass mich das Buch wütend macht. Birbaumer erzählt seine eigene Lebensgeschichte, verallgemeinert wo es nur geht und vermittelt mir den Eindruck, dass alle, die an psychischen Gebrechen leiden, daran auch irgendwie selbst schuld sind, weil sie sich nur nicht doll genug anstrengen, nicht psychisch krank zu sein.

Das Buch richtet sich eindeutig an Laien, was ich ganz bestimmt bin. Vielleicht richtet es sich nicht an Leute, die Erfanrung mit psychischen Krankheiten haben. Er vermischt Psychologie und Neurologie, was legitim oder sinnvoll sein mag, aber meiner Meinung nach bei ihm zu übertrieben einfachen Anworten auf komplizierte Fragen führt. Mit Neurofeedback heilt er Psychopathen, Depressive und Parkinson-Patienten, lese ich aus seinen Erzählungen. Nein, so explizit sagt er das nicht, es hört sich nur so an.

Der Mann scheint ein Superstar in der Psychologie und den Neurowissenschaften zu sein, mit Preisen überhäuft, als Dozent und Gastredner gefragt, viel und oft zitiert. Aber auf mich wirkt er wie ein kleiner Hüther, der sich mit Precht über ADHS-Therapie durch Wollen unterhält.

Was läuft da schief? Verstehe ich das einfach nicht? Bin ich durch Psiram-Vorschädigung nicht mehr in der Lage, sowas emotions- und kritiklos zu rezipieren? Hat sich jemand schon mal mit Herrn Birbaumer und seiner Arbeit beschäftigt?

The best thing about science is that it works - even if you don't believe in it.

Groucho

Diese Rezension bei Amazon lässt nichts Gutes hoffen:

ZitatDer Autor wiederholt altbekannte Vorurteile in der ADHS-Behandlung, dass man z.B. von Ritalin abhängig wird und später eine Drogenkarriere entstehen kann. Das Gegenteil ist der Fall, Ritalin ist definitiv nicht abhängig machend und viele Forschungen haben auch ergeben, dass Ritalin sogar hilft spätere Drogenkarrieren zu meiden. Bitte Herr Birbaumer lesen sie ihr Buch nochmals, bzw. lesen sie was ihr angestellter Wissenschaftsjournalist so alles behauptet. Sonst halten sie Eltern davon ab, dass auch bei klarer Indikation Ritalin von Eltern aus Sorge um die Gesundheit ihrer Kinder nicht gegeben wird. Seriöse Infos gibt es bei Krause und Krause (ADHS im Erwachsenenalter, 2014).

Edit: Und wenn schon einer mit tabula rasa anfängt, ist Vorsicht geboten.

Robert

Soweit ich weiß, ist das Gehirn Neugeborener mitnichten eine Tabula rasa.

pelacani

Ich nehm mal das Vorwort (weiter reicht weder der Amazon-Preview noch mein Interesse):
ZitatKapitel 5 beleuchtet die Fähigkeiten des Gehirns zur Selbstreparatur, beispielsweise bei Epilepsie oder nach einem Schlaganfall. Der Schauspieler Peer Augustinski etwa war nach einem Schlaganfall halbseitig fast komplett gelähmt - heute steht er wieder auf der Bühne.
Das lässt die Tendenz ahnen. Ich will gar nicht auf der Bühne stehen, auch nach einem Schlaganfall nicht. Oder im Ernst: nichts (oder fast nichts) davon ist klinisch eingeführt, vor allem nicht eine Epilepsie-Behandlung ohne Medikation. Krass daneben.

ZitatSelbst die Altersdemenz, die von der Pharmaindustrie und den ihr verbundenen Therapeuten aus finanziellem Eigeninteresse gerne pauschal zur sogenannten Alzheimer-Erkrankung pathologisiert wird, kann man beeinflussen, indem die Betroffenen lernen, ihre Hirnvorgänge selbst zu kontrollieren.
Hervorhebung durch mich; für einen ,,Hirnforscher" schon disqualifizierend billig; selbst wenn ich ihm einen Psychologen-Bonus für organische Krankheiten (er weiß es nicht genau / er meint es nicht so) zugestehen wollte. Das Problem allen geistigen Trainings ist der Transfer der Leistungen in die Alltagssituation. Wer viel Kreuzworträtsel trainiert, kann hinterher: besser kreuzworträtseln.

ZitatDie Musik kann dabei, wie in Kapitel 8 gezeigt wird, eine wertvolle Hilfe sein.Wie sie überhaupt eine überragende gestaltende Kraft auf das plastische Gehirn auszuüben vermag. Man kann einem Gehirn im bildgebenden Verfahren nicht unbedingt ansehen, welchen Beruf sein Besitzer hat. Doch ein Musikerhim erkennt man fast immer.
celsus, kannst Du mal nachsehen, ob er für das ,,Musiker-Hirn erkennen" eine zitierbare Quelle angibt?

ZitatKapitel 9 behandelt dann ein anderes wichtiges Thema unserer Zeit: die Aufmerksamkeitsstörungen der Kinder (ADS). Auch ihr Problem kann man durch Hirntraining wie etwa dem Neurofeedback in den Griff bekommen, ohne dabei auf pharmakologische Ruhigsteller wie Ritalin zurückgreifen zu müssen.
No further comment.

Robert

Zitatsogenannten Alzheimer-Erkrankung pathologisiert wird, kann man beeinflussen, indem die Betroffenen lernen, ihre Hirnvorgänge selbst zu kontrollieren.

Mit dieser Aussage disqualifiziert er sich völlig. Ich empfehle dem Herrn, in einer entsprechenden Einrichtung mit solchen Leuten zu arbeiten und sie bis zu Schluss zu pflegen.

pelacani

In vielen Tages- und sonstigen Einrichtungen für Demenzkranke werden Kinder- oder Volkslieder gesungen, noch ganz ohne dass die Angestellten / Angehörigen je den Namen dieses Hirnforschers erfahren haben. Sie sind die Avantgarde der medizinisch-wissenschaftlichen Forschung und wissen es nur nicht.

Und es ist eine sichere Bank. Wenn es dem Herrn Professor nicht gelingt, die fortgeschritten Erkrankten bei "Alle Vögel sind schon da ..." zum Mitsingen zu animieren, kann er immer sagen: tut mir leid, vor 3 Jahren hätten wir noch etwas erreichen können, aber jetzt ist es zu spät!

celsus

Zitat von: Pelacani am 18. Oktober 2014, 20:34:16celsus, kannst Du mal nachsehen, ob er für das ,,Musiker-Hirn erkennen" eine zitierbare Quelle angibt?

Ich habe mich mal weiter durchgequält, weil ich das alles nicht so recht glauben kann.
Nein, keine zitierbaren Quellen, nur Anekdoten aus seinem Leben, Erzählungen seiner Heldentaten, gelegentlich Zitate aus Klassikern o.ä.
Die Musiker-Sache führt er auch nicht weiter aus, erzählt nur von einem Dirigenten der im hohen Alter noch total fit war und sowas.

Mir kam gerade der Gedanke, dass das Buch nur von dem Philosophen geschrieben wurde und Birbaumer seine Anekdoten auf Band gesprochen hat.
Das macht mich echt sprachlos. Der Mann scheint kein Idiot zu sein, dieses Buch sorgt aber dafür, dass man sich an ihn nur als Idioten erinnern wird.

Nicht mal als Polulärwissenschaft geht das durch. Das ist einfach nur belangloses Gelaber. Eine Behauptung jagt die nächste, weder wird erkärt noch irgendwas belegt. Es fehlt an Statistik, Referenzen, nachprüfbaren Forschungsergebnissen und Plausibilität. Und stilistisch finde ich es inzwischen nur noch proletenhaft peinlich.
The best thing about science is that it works - even if you don't believe in it.

celsus

Ach ja, nebenbei: Möchte jemand ein Buch über Hirnforschung kaufen? Günstig, kaum gebraucht.  :teufel
The best thing about science is that it works - even if you don't believe in it.

pelacani

Zitat von: celsus am 18. Oktober 2014, 21:12:15
Ach ja, nebenbei: Möchte jemand ein Buch über Hirnforschung kaufen? Günstig, kaum gebraucht.  :teufel

Wenn Du einen 50-EUR-Schein reinlegst, darfst Du es mir schicken!  8)

Robert

Zitat von: Pelacani am 18. Oktober 2014, 20:53:10
In vielen Tages- und sonstigen Einrichtungen für Demenzkranke werden Kinder- oder Volkslieder gesungen, noch ganz ohne dass die Angestellten / Angehörigen je den Namen dieses Hirnforschers erfahren haben. Sie sind die Avantgarde der medizinisch-wissenschaftlichen Forschung und wissen es nur nicht.

Und es ist eine sichere Bank. Wenn es dem Herrn Professor nicht gelingt, die fortgeschritten Erkrankten bei "Alle Vögel sind schon da ..." zum Mitsingen zu animieren, kann er immer sagen: tut mir leid, vor 3 Jahren hätten wir noch etwas erreichen können, aber jetzt ist es zu spät!

Vielleicht kann er das selber ein ein paar Jahren probieren. Nur leider dürfte es mit seiner dazu aufgeschriebenen Anekdote schwierig werden.

celsus

Zitat von: Pelacani am 18. Oktober 2014, 21:16:09
Wenn Du einen 50-EUR-Schein reinlegst, darfst Du es mir schicken!  8)

Ich könnte die Geschichte aufschreiben, wie ich mal einem nassen 50er beim trocknen zugeschaut habe. Das würde den Wert des Buches bereits verdoppeln.
The best thing about science is that it works - even if you don't believe in it.

Gethen

Zitat von: Pelacani am 18. Oktober 2014, 20:34:16
Ich nehm mal das Vorwort (weiter reicht weder der Amazon-Preview noch mein Interesse):
ZitatKapitel 5 beleuchtet die Fähigkeiten des Gehirns zur Selbstreparatur, beispielsweise bei Epilepsie oder nach einem Schlaganfall. Der Schauspieler Peer Augustinski etwa war nach einem Schlaganfall halbseitig fast komplett gelähmt - heute steht er wieder auf der Bühne.

Offenbar ist das nicht für die Ewigkeit geschrieben - Augustinski ist gerade abgetreten. Und wenn ich die Ansage in der tagesschau richtig in Erinnerung habe, war davon die Rede, daß er nach Schlaganfall leider beruflich zurückstecken mußte.



celsus

Auf dem Niveau solcher trivialer Aussagen bewegt sich das ganze Buch. Am Schluss bleibt dann ein diffuses "alles kann, nichts muss".
Wir erfahren, dass es Schlaganfallpatienten gibt, denen es nach einer intensiven Reha besser ging. Und wir erfahren, dass es Trauma-Patienten nach langer Therapie gelang, manche Sachen zu tun die sie vorher nicht konnten. So geht das die ganze Zeit.

Augustinski stand (saß) nach seinem Schlaganfall eher vor dem Mikrofon als auf der Bühne. In den weiteren Anekdoten werden ebenfalls kleine Fortschritte zu sensationellen Heilungserfolgen aufgeblasen. Entweder ist Birbaumer Superman im weißen Kittel oder ein Aufschneider.
The best thing about science is that it works - even if you don't believe in it.

Groucho

Zitat von: celsus am 18. Oktober 2014, 21:58:48
Entweder ist Birbaumer Superman im weißen Kittel oder ein Aufschneider.

Offenbar ein Hansdampf in allen Gassen, Wiki sagt:

ZitatBirbaumers Forschungsinteressen sind breit gefächert. Unter anderem beschäftigt er sich mit neuronaler Plastizität und Lernen, mit Aspekten der Epilepsie, der Parkinsonschen Krankheit und Schmerzerkrankungen. Mit kriminellen Psychopathen trainiert er, wie sie durch eine Aktivierung bestimmter Gehirnareale wieder Empathie und Ängste vor den Konsequenzen ihres Handelns entwickeln können. Einen Schwerpunkt seiner Arbeit bildet die Forschung an Gehirn-Computer-Schnittstellen (Brain-Computer Interfaces, BCI), die es ermöglichen sollen, ohne Nutzung der Gliedmaßen Informationen zwischen dem Gehirn und Maschinen auszutauschen. Diese Forschung soll es etwa Patienten im Endstadium der Amyotrophen Lateralsklerose (ALS) ermöglichen, trotz vollständiger Körperlähmung mit ihrer Umwelt zu kommunizieren.

celsus

Das muss ja kein Nachteil sein und vielleicht bringt er da wirklich Disziplinen zusammen, die sich wunderbar ergänzen und zu neuen Erkenntnissen führen. An seiner fachlichen Eignung hat wohl auch kaum jemand etwas auszusetzen, wie ich das bisher sehen kann.
Vielleicht kann er einfach nicht gut schreiben. Oder ihn hat dieses Phänomen erwischt, das scheinbar öfter bei älteren Wissenschaftlern auftritt: Sie überschreiten ihre Grenzen, halten sich für allmächtig und erzählen nur noch Unsinn. Das Wiki liefert genügend Beispiele.
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