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Wissenschaftliche Arbeitsweise

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Begonnen von Scipio, 02. September 2015, 11:41:59

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Scipio

Grüße,

ich würde mit euch gerne über dieses Thema reden, da ich in meiner Studien- und Diplomarbeit das Gefühl gehabt habe, diese nicht richtig verstanden zu haben. Daher wäre es sicherlich ganz sinnvoll, zu klären, was genau man unter der wissenschaftlichen Arbeitsweise versteht. Ich habe dazu schon mehrere Bücher bzw. die entsprechenden Kapitel daraus gelesen, doch irgendwie scheint da jeder seine eigene Vorstellung zu haben.

Was mir mittlerweile klar ist, dass ich meine Schritte begründen muss. Wähle ich beispielsweise eine Chip ADF 4360-4 aus, muss ich begründen, warum ich gerade diesen genommen habe und nicht irgend einen andern. Meine Argumentation muss dabei vollständig, nachvollziehbar (kurz logisch) und überprüfbar sein. Aber, dass ist doch noch nicht alles, oder etwa doch?

Mir ist beispielsweise nicht ganz klar, wie es sich mit Hypothese vs. Theorie verhält, genauer ab wann eine oder mehrere Hypothese(n) in eine Theorie übergehen. Es hängt wohl damit zusammen, dass ich das Wesen einer Theorie (im wissenschaftlichen Sinne) nicht so ganz verstanden habe.

Groucho

Einte Theorie ist eine Hypothese, die sich in der Realität als brauchbar und robust erwiesen hat.

duester

Zitat von: Scipio am 02. September 2015, 11:41:59
Meine Argumentation muss dabei vollständig, nachvollziehbar (kurz logisch) und überprüfbar sein. Aber, dass ist doch noch nicht alles, oder etwa doch?
Das ist schon eine Menge, aber nicht alles. Das Problem bei der Frage hier im Forum ist, dass sich das Verständnis von valider Überprüfung je nach Disziplin unterscheidet und du so Gefahr läufst, viele unterschiedliche Antworten zu bekommen. In manchen Disziplinen, z.B. in der Physik, geht es mehr um die Erklärung, in anderen (wie z.B. in der evidenzbasierten Medizin) mehr um die Überprüfung der Wirkung. 

Wenn du in der Physik mit einer radikal neuen Erklärung dafür aufwartest, wie das Universum entstanden ist, kann deine Behauptung ja nicht im herkömmlichen Sinne überprüft werden. Deswegen ist die Vollständigkeit und Nachvollziehbarkeit deines Beweises so entscheidend: Stimmt die mathematische Herleitung? Übersteht sie die kritische Diskussion durch die Fachöffentlichkeit? In der EbM spielt dagegen "nachvollziehbar" eine eher untergeordnete Rolle, "überprüfbar" tritt dagegen in den Vordergrund. An einem drastischen Beispiel: selbst eine esoterische Irrlehre wie die Homöopathie kann den Plausibilitäts-Check überstehen. Das ganze Gedankegebäude ist ja irgendwie in sich geschlossen (Wirkstoff, Wasser, Wellen ...). Es gibt eine Reihe von medizinischen Maßnahmen, bei denen die Begründung ganz nachvollziehbar klingt (Orangen sind gesund, bei einer verschleimten Nase kann die enthaltene Säure lindernd wirken --> Vitamin C hilft gegen Krebs) - und die trotzdem für'n Ars ... ähem ... Poppes sind. In der EbM hat sich deswegen die Sichtweise eingebürgert, dass eine Erklärung zu den Wirkungszusammenhänge zwar nützlich ist, aber es im Zweifelsfall auch ohne geht, wenn die Wirkung unter experimentellen, kontrollierten Bedingungen geprüft werden kann. In der Ökonomie z.B. wird viel zum Thema Endogenität diskutiert. Hypothese als Beispiel: Längere Schulbildung = bessere Einkommenschancen später. Simple Überlegung, und eigentlich auch leicht überprüfbar: Man könnte sich ja eine Kohorte Schulabgänger über die Zeit angucken, um zu überprüfen, ob sich diese Hypothese bewahrheitet. Fiese kleine Tücke, weil man es ja nunmal mit Menschen (Gesocks!) zu tun hat: Diejenigen, die länger zur Schule gehen, kommen mit großer Wahrscheinlichkeit aus Familien, in denen Bildung - warum auch immer - eine größere Rolle spielt und die ihren Kinder eine ganze Reihe von Vorteilen mitgeben, die sich später auf die Einkommenschancen auswirken. Experimente kann man da kaum machen, wie soll man die Hypothese also überprüfen. Manche Ökonomen sehen die Lösung darin, nach natürlichen Experimenten zu suchen, z.B. nach plötzlichen Gesetzesänderungen o.Ä., die dafür gesorgt haben, dass in Ort A die Kinder zehn und im ansonsten identischen Ort B neun Jahre zur Schule gehen. In den Sozialwissenschaften wiederrum kann es eine große Rolle spielen, inwieweit sich deine Überlegungen, Ergebnisse und Befunde mit der bereits bestehenden Empirie in Übereinstimmung bringen lassen. Wenn wir z.B. schon wissen, dass Arbeitslose früher sterben und dein Beitrag in der Überlegung besteht, dass das daran liegen könnte, dass sie (z.B.) häufiger rauchen und sich schlecht ernähren, dann ist der vollständige Überblick über die Empirie notwendig, um deine Ergebnisse einzuordnen.

Kurz: Wie wissenschaftliches Arbeiten konkret für deine Disziplin auszusehen hat, kann dir nur ein Kollege sagen. Die einzige Gemeinsamkeit ist die Orientierung an der jeweils kritischsten (gibt es überhaupt einen Superlativ zu "kritisch"???) Herangehensweise bzw. die größtmögliche Skepsis gegenüber den eigenen Überlegungen.

Hildegard

Zitat von: duester am 02. September 2015, 13:43:35
Zitat von: Scipio am 02. September 2015, 11:41:59
Meine Argumentation muss dabei vollständig, nachvollziehbar (kurz logisch) und überprüfbar sein. Aber, dass ist doch noch nicht alles, oder etwa doch?
In der Ökonomie z.B. wird viel zum Thema Endogenität diskutiert. Hypothese als Beispiel: Längere Schulbildung = bessere Einkommenschancen später. Simple Überlegung, und eigentlich auch leicht überprüfbar: Man könnte sich ja eine Kohorte Schulabgänger über die Zeit angucken, um zu überprüfen, ob sich diese Hypothese bewahrheitet. Fiese kleine Tücke, weil man es ja nunmal mit Menschen (Gesocks!) zu tun hat: Diejenigen, die länger zur Schule gehen, kommen mit großer Wahrscheinlichkeit aus Familien, in denen Bildung - warum auch immer - eine größere Rolle spielt und die ihren Kinder eine ganze Reihe von Vorteilen mitgeben, die sich später auf die Einkommenschancen auswirken. Experimente kann man da kaum machen, wie soll man die Hypothese also überprüfen.
In der Psychologie ist genau das ein beliebtes Beispiel. Kam bei mir schon im zweiten Semester. Lösung: Man schaut, ob sich was ändert, wenn man das Einkommen der Eltern oder die Bildung der Eltern als Einflussfaktor rausrechnet. Wie man das macht, lernt man im Statistik-Modul.
[url="http://vierfrauenundeinscharlatan.wordpress.com"]http://vierfrauenundeinscharlatan.wordpress.com[/url]

duester

Zitat von: Hildegard am 02. September 2015, 14:41:09
Wie man das macht, lernt man im Statistik-Modul.

Es ist nicht so, dass das den Ökonomen nicht klar wäre (so viel darf man ihnen dann doch zutrauen). Das Problem sind ja nicht die bekannten Faktoren, sondern die unbekannten. Was wenn es nicht Bildung und Einkommen der Eltern sind, die sich auf die Effektgröße auswirken, sondern z.B. der Empfang von Kabelfernsehen? Das natürliche Experiment ist - wenn kein kontrolliertes Experiment möglich ist - im Zweifelsfall die elegantere Lösung.

Scipio

Mir geht es eher um die Arbeitsweise in den Ingenieurwissenschaften, als in der Medizin oder Physik. Deshalb auch das Beispiel mit dem Chip. Ich denke, ich schreibe einem meiner ehemaligen Kommilitonen mal eine Lange Mail zu dem Thema.

forenschlaefer

Ein sehr wichtiger Punkt in den angewandten Wissenschaften ist die Reproduzierbarkeit. Du solltest ja zuerst einmal den Chip nach dem Kriterium ausgewählt haben, dass er die richtige Funktion erfüllt. In Realität ist leider alles unperfekt, weswegen die Modellreihe vllt einen bestimmten Programmierfehler oder sonstwas hat, weswegen es z.B. nur mit dieser Modellreihe funktioniert und mit anderen Chips, die eig. die gleiche Funktion erfüllen sollten, nicht funktioniert. Durch genaue Dokumentation kann man sozusagen dieser Fehlerqulle auf die Schliche kommen.

Da ich leider von Etechnik weniger Ahnung habe, kann ich dir das vllt mit Chemie ein bischen erklären. Bei guter Arbeit sollte immer notiert werden, aus welcher Quelle man die Chemikalien bezogen und gegebenfalls aufgereinigt hat, da Verunreinigungen zu unerwünschten oder manchmal auch glücklichen Zufällen führen können.
Ein Anekdote aus der Vorlesung mal, ich glaube Siemens damals versuchte sich an der Chiptechnik, aber die Siliziumwafer waren nach dem Ätzen mit Flusssäure immer am Arsch, während die Japaner mit der Technik keine Probleme hatten. Nach unendlicher Fehlersuche kaufte Siemens dann die superreine HF  von der japanischen Firma statt aus der bisherigen Quelle und es funktionierte, weil die deutsche reine Flusssäure im damals unmessbaren Bereich verunreinigt war, aber das hatte ausgereicht, um die Wafer zu verseuchen.

dunderdobrazil

Zitat von: Scipio am 02. September 2015, 11:41:59

Wähle ich beispielsweise eine Chip ADF 4360-4 aus, muss ich begründen, warum ich gerade diesen genommen habe und nicht irgend einen andern. Meine Argumentation muss dabei vollständig, nachvollziehbar (kurz logisch) und überprüfbar sein. Aber, dass ist doch noch nicht alles, oder etwa doch?


Das ist jetzt mehr ein Ingenieurthema, nämlich Konzeptauswahl.

Ich habe die z.B. die Wahl zwischen (exemplarisch)
a.) Palettenlager
b.) Durchlauflager
Beides ist gleichermaßen  realisierbar. Die Entscheidung und Begründung für das gewählte Konzept mache ich mithilfe einer Nutzweertanalyse:
Was ist dem Auftraggeber wichtiger?
i.) wahlfreier Einzelzugriff (1 Punkt)
ii.) hoher Volumennutzungsgrad (-1 Punkt)
Wenn der Auftraggeber i.) sagt, fällt die Entscheidung auf a.) (Palettenlager)
Die nachvollziebare Begründung für das gewählte Konzept ergibt sich praktisch logisch-arithmetisch aus der Nutzwertanalyse und der Vorgabe des Kunden.