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Deutsch => Allgemeine Diskussionen => Politik und Gesellschaft => Thema gestartet von: Hildegard am 21. Dezember 2014, 13:13:00

Titel: Wie war das wirklich mit den Nazis und den Heilpraktikern?
Beitrag von: Hildegard am 21. Dezember 2014, 13:13:00
1939 trat bekanntlich das Heilpraktikergesetz in Kraft. In diesem Gesetz wurden die Berufsbezeichung festgelegt und die Heilerlaubnis für diese Berufsgruppe erteilt. Gleichzeitig wurden aber Neuzulassungen auf "besonders begründete Ausnahmefälle" beschränkt und das Betreiben von Heilpraktikerschulen verboten. Daraus leiten Heilpraktikerverbände - und auch Wikipedia - ab, dass dieses Gesetz dazu dienen sollte, den Beruf aussterben zu lassen. Heilpraktiker wären also mitnichten von den Nazis protegiert, sondern vielmehr von ihnen verfolgt worden. Auf diese Lesart wurde ich erst kürzlich aufmerksam und sie erschien mir merkwürdig, waren doch viele prominente Nazis begeisterte Anhänger der "Volksheilkunde".

Daraufhin habe ich mir die Urfassung des Gesetzes herausgesucht.
Hier ein Faksimile (http://alex.onb.ac.at/cgi-content/alex?apm=0&aid=dra&datum=19390004&seite=00000251&zoom=2)
Interessant finde ich den Abschnitt über die besonders Befähigten, die "unter erleichterten Bedingungen zum Studium der Medizin zugelassen" werden sollen. Daraus könnte man meiner Meinung nach schließen, dass das NS-Regime die Ausbildung der Heilpraktiker keineswegs unterbinden, sondern nur selbst in die Hand nehmen wollte. Man könnte sich auch noch weiter aus dem Fenster lehnen und spekulieren, dass die Nazis auf diese Weise die Lücken, die bei den Ärzten entstanden waren, mit im Schnellverfahren durchs Studium geschleusten Heilpraktikern schließen wollten.

Aber das ist nur Spekulation, und ich wäre wirklich dankbar, wenn jemand dazu Belegbares wüsste.
Titel: Re: Wie war das wirklich mit den Nazis und den Heilpraktikern?
Beitrag von: Belbo am 21. Dezember 2014, 13:24:53
Man wars ich wohl klar, dass die geplanten Kriege zu einem Mangel an medizinisch ausgebildetem Personal führen würden, gabs eigentlich sowas wie "Feldheilpraktiker"?
Titel: Re: Wie war das wirklich mit den Nazis und den Heilpraktikern?
Beitrag von: chacha am 03. Januar 2015, 19:44:29
Zitat von: Hildegard am 21. Dezember 2014, 13:13:00
1939 trat bekanntlich das Heilpraktikergesetz in Kraft. In diesem Gesetz wurden die Berufsbezeichung festgelegt und die Heilerlaubnis für diese Berufsgruppe erteilt. Gleichzeitig wurden aber Neuzulassungen auf "besonders begründete Ausnahmefälle" beschränkt und das Betreiben von Heilpraktikerschulen verboten. Daraus leiten Heilpraktikerverbände - und auch Wikipedia - ab, dass dieses Gesetz dazu dienen sollte, den Beruf aussterben zu lassen. Heilpraktiker wären also mitnichten von den Nazis protegiert, sondern vielmehr von ihnen verfolgt worden. Auf diese Lesart wurde ich erst kürzlich aufmerksam und sie erschien mir merkwürdig, waren doch viele prominente Nazis begeisterte Anhänger der "Volksheilkunde".

Daraufhin habe ich mir die Urfassung des Gesetzes herausgesucht.
Hier ein Faksimile (http://alex.onb.ac.at/cgi-content/alex?apm=0&aid=dra&datum=19390004&seite=00000251&zoom=2)
Interessant finde ich den Abschnitt über die besonders Befähigten, die "unter erleichterten Bedingungen zum Studium der Medizin zugelassen" werden sollen. Daraus könnte man meiner Meinung nach schließen, dass das NS-Regime die Ausbildung der Heilpraktiker keineswegs unterbinden, sondern nur selbst in die Hand nehmen wollte. Man könnte sich auch noch weiter aus dem Fenster lehnen und spekulieren, dass die Nazis auf diese Weise die Lücken, die bei den Ärzten entstanden waren, mit im Schnellverfahren durchs Studium geschleusten Heilpraktikern schließen wollten.

Aber das ist nur Spekulation, und ich wäre wirklich dankbar, wenn jemand dazu Belegbares wüsste.

Ich halte das alles nicht nur für irrelevant, sondern für die Psiram-Zwecke sogar kontraproduktiv. Ob die Nazis nun Heilpraktiker unterstützt haben oder bekämpft, kann nicht Grundlage eines Urteils über die Heilpraktiker heute sein. Wir sind doch keine Ideologen.
Titel: Re: Wie war das wirklich mit den Nazis und den Heilpraktikern?
Beitrag von: pauli am 03. Januar 2015, 19:56:28
Zitat von: chacha am 03. Januar 2015, 19:44:29
Ich halte das alles nicht nur für irrelevant, sondern für die Psiram-Zwecke sogar kontraproduktiv. Ob die Nazis nun Heilpraktiker unterstützt haben oder bekämpft, kann nicht Grundlage eines Urteils über die Heilpraktiker heute sein. Wir sind doch keine Ideologen.

Mhm, aber deswegen sollte keine Diskussion darüber unterdrückt werden, historisch ist das sehr interessant.

Titel: Re: Wie war das wirklich mit den Nazis und den Heilpraktikern?
Beitrag von: F. A. Mesmer am 03. Januar 2015, 20:17:26
außerdem:
Geschichte wiederholt sich nicht, aber sie reimt sich. (Mark Twain)
Titel: Re: Wie war das wirklich mit den Nazis und den Heilpraktikern?
Beitrag von: Conina am 03. Januar 2015, 20:34:35
Mark Twain oder Oscar Wilde gehen immer.
Conina, 2015

8)
Titel: Re: Wie war das wirklich mit den Nazis und den Heilpraktikern?
Beitrag von: Wolleren am 03. Januar 2015, 23:56:08
Zitat von: pauli am 03. Januar 2015, 19:56:28
Zitat von: chacha am 03. Januar 2015, 19:44:29
Ich halte das alles nicht nur für irrelevant, sondern für die Psiram-Zwecke sogar kontraproduktiv. Ob die Nazis nun Heilpraktiker unterstützt haben oder bekämpft, kann nicht Grundlage eines Urteils über die Heilpraktiker heute sein. Wir sind doch keine Ideologen.

Mhm, aber deswegen sollte keine Diskussion darüber unterdrückt werden, historisch ist das sehr interessant.

Wenn es nur darum ginge, Heilpraktiker anzubräunen, wäre das tatsächlich falsch.

Aber den heutigen Heilpraktiker möchte ich sehen, der sich - wie das ja auch von den IG-Farben-Nachfolgern zu Recht gefordert wird - mit der Vergangenheit seines Berufs befasst. Ich persönlich glaube - noch beleglos - daran, dass nicht nur eine völkische Medizinkritik der "Bewegung" zur Einführung des Heilpraktikerwesens geführt hat, sondern eine Kritik an verjudeter Medizin.

Deswegen ist als Heilpraktiker eine Reflexion der eigenen medizinkritischen Position notwendig. Doch stattdessen trifft man auf erschreckende Naivität, mit der sogar Hamersche Positionen eingenommen und verteidigt werden. Und das IST ein starkes Argument gegen das Heilpraktikergesetz.
Titel: Re: Wie war das wirklich mit den Nazis und den Heilpraktikern?
Beitrag von: chacha am 04. Januar 2015, 00:26:20
Zitat von: Isaac am 03. Januar 2015, 23:56:08
Zitat von: pauli am 03. Januar 2015, 19:56:28
Zitat von: chacha am 03. Januar 2015, 19:44:29
Ich halte das alles nicht nur für irrelevant, sondern für die Psiram-Zwecke sogar kontraproduktiv. Ob die Nazis nun Heilpraktiker unterstützt haben oder bekämpft, kann nicht Grundlage eines Urteils über die Heilpraktiker heute sein. Wir sind doch keine Ideologen.

Mhm, aber deswegen sollte keine Diskussion darüber unterdrückt werden, historisch ist das sehr interessant.

Wenn es nur darum ginge, Heilpraktiker anzubräunen, wäre das tatsächlich falsch.

Aber den heutigen Heilpraktiker möchte ich sehen, der sich - wie das ja auch von den IG-Farben-Nachfolgern zu Recht gefordert wird - mit der Vergangenheit seines Berufs befasst. Ich persönlich glaube - noch beleglos - daran, dass nicht nur eine völkische Medizinkritik der "Bewegung" zur Einführung des Heilpraktikerwesens geführt hat, sondern eine Kritik an verjudeter Medizin.

Deswegen ist als Heilpraktiker eine Reflexion der eigenen medizinkritischen Position notwendig. Doch stattdessen trifft man auf erschreckende Naivität, mit der sogar Hamersche Positionen eingenommen und verteidigt werden. Und das IST ein starkes Argument gegen das Heilpraktikergesetz.

Nein, das WÄRE ein starkes Argument gegen das Heilpraktikergesetz, wenn die Motive der Nazis da noch immer durchschimmern würden. Ansonsten ist der Verweis auf die Nazi-Ursprünge für das Heilpraktikerwesen ausschließlich für Rechtshistoriker relevant. Im Gegenteil kann man allen, die das anführen, vorsätzliche Pejoration unterstellen, weil in der Auseinandersetzung vermutlich sachliche Gründe  nicht ausreichen. Ich halte es für einen Heilpraktiker auch nicht erforderlich, sich mit der historischen Entstehung seines Berufs auseinanderzusetzen. Das wird von Angehörigen anderer Berufe ja auch nicht erwartet.
Titel: Re: Wie war das wirklich mit den Nazis und den Heilpraktikern?
Beitrag von: F. A. Mesmer am 04. Januar 2015, 00:48:50
Zitatvorsätzliche Pejoration
:rofl2

soso, wird von Angehörigen anderer Berufe nicht erwartet? von wem nicht?
was ist mit Medizinern, Genetikern in Sachen Eugenik und Ethik?
was ist mit Juristen, insbesondere Richtern und Staatsanwälten in Sachen Nazi-Juristen?
die Diskussion um die ererbten organisatorischen wie personellen Probleme von BKA, VS und BND sind weiterhin in Fachkreisen ein Thema in puncto Organisation Gehlen.

Insgesamt kommt das bei akademischen Berufen wahrscheinlich Standardmäßig vor, gleichwohl wird man sich in dem einen oder anderen Studium besser darum drücken können, als vielleicht in einigen anderen.
Titel: Re: Wie war das wirklich mit den Nazis und den Heilpraktikern?
Beitrag von: Groucho am 04. Januar 2015, 02:29:41
 :gruebel

Ich versteh's ja echt nicht. Es ging weder um den Wikiartikel, noch um ein Argument gegen heutige HPs, sondern um eine schlichte medizinhistorische Frage. Völlig gaga, da einen solchen Zirkus mit vorsätzlicher Pejoration etc. zu veranstalten. Wenn das das gesammelte Leseverständnis nach "40 jähriger akademischer Tätigkeit" ist, dann gute Nacht.
Titel: Re: Wie war das wirklich mit den Nazis und den Heilpraktikern?
Beitrag von: F. A. Mesmer am 04. Januar 2015, 09:46:27
(http://cdn.meme.am/instances/500x/54320302.jpg)
Titel: Re: Wie war das wirklich mit den Nazis und den Heilpraktikern?
Beitrag von: Belbo am 04. Januar 2015, 11:52:51
....selbst im Architekturstudium ist Thema inwieweit sich damalige Kollegen zu nützlichen Idioten machen ließen ... Warum sollten sich da Heilpraktiker keine Gedanken drüber machen?
Titel: Re: Wie war das wirklich mit den Nazis und den Heilpraktikern?
Beitrag von: F. A. Mesmer am 04. Januar 2015, 12:59:15
ach was, Albert Speer hat doch allerorten gesagt, dass er von allem nichts gewusst hat. Nur doof, das das Gericht da ignorant und befangen war.
und wenn dem Speer seine Verwicklung schon entgangen war, dann doch um so mehr den vielen Heilpraktiken, die doch nur heilen wollten, also den Patienten aus dem Volkskörper... das ist doch alles nur ein Missverständnis, quasi postmoderne anti-deutschen-Propaganda oder so
Titel: Re: Wie war das wirklich mit den Nazis und den Heilpraktikern?
Beitrag von: Wolleren am 04. Januar 2015, 14:32:01
Zitat von: F. A. Mesmer am 04. Januar 2015, 00:48:50
...
soso, wird von Angehörigen anderer Berufe nicht erwartet? von wem nicht?
was ist mit Medizinern, Genetikern in Sachen Eugenik und Ethik?
...
Eben. Jahrzehntelang auf der Anti-Grünenthal-Welle (es gibt auch andere skandalöse Teile der Medizingeschichte) schwimmen und immer schön privat abrechnen, aber SELBST hat man ja GAR KEIN PROBLEM als Heilpraktiker mit der eigenen Geschichte.

Wie gesagt, durch die fehlende Kenntnis wird ein Heilpraktiker nicht zum Nazi; und es wäre wirklich falsch, ihm diese Historie vorzuwerfen. (Nicht, dass von der Antimedizin die Grünenthal-Karte nicht bis heute mit großem Genuss gespielt würde, aber das ist eine Frage des Niveaus).

Ein Heilpraktiker, der weder willens noch in der Lage ist, seine Position in der Medizingeschichte zu reflektieren oder wenigstens zu kennen, hat keinerlei Vertrauen verdient. Wer würde ihn denn daran hindern, aufgrund von Blutgruppe, Pigmentierung oder Nasendicke zu behandeln? Diese Merkmale werden DURCHAUS von der Antimedizin zur Diagnose bemüht: das psiram-wiki ist voll davon . Und eine minimale Reflexion könnte ihn vor diesem Schwachsinn schützen. Aber Ignoranz schützt selbstverständlich besser.
Titel: Re: Wie war das wirklich mit den Nazis und den Heilpraktikern?
Beitrag von: ajki am 04. Januar 2015, 19:01:52
Zitat von: Hildegard am 21. Dezember 2014, 13:13:00
... Daraus leiten Heilpraktikerverbände - und auch Wikipedia - ab, dass dieses Gesetz dazu dienen sollte, den Beruf aussterben zu lassen. Heilpraktiker wären also mitnichten von den Nazis protegiert, sondern vielmehr von ihnen verfolgt worden. Auf diese Lesart wurde ich erst kürzlich aufmerksam und sie erschien mir merkwürdig, waren doch viele prominente Nazis begeisterte Anhänger der "Volksheilkunde".  ...

Unabhängig von der Klärung der gestellten Frage war ich etwas verblüfft über das Wort "verfolgt", weil ähnlich dem OP auch ich bislang immer den Eindruck hatte, speziell die Größen im NSDAP-Kontext hätten mehr oder weniger durchgängig eine sehr große Nähe zu esoterischen Produkten gehabt (darunter auch und speziell zu Homöopathie u.vglb. - wenn auch unter heute sehr ungebräuchlichen Benamungen und Begrifflichkeiten, z.B. "biochemische Mittel (http://www.ariplex.com/ama/ama_1933.htm)" [reposting eines Artikels aus laborjournal.de] - s.a. WP: "Neue deutsche Heilkunde (http://de.wikipedia.org/wiki/Neue_Deutsche_Heilkunde)", "Medizin im Nationalsozialismus (http://de.wikipedia.org/wiki/Medizin_im_Nationalsozialismus)").

Zum "verfolgt"-... naja, ich nenne das schon mal vorweg: Mythos habe ich mir dann mal die auch im OP angerissenen Quellen zum Heilpraktikergesetz (https://de.wikipedia.org/wiki/Heilpraktikergesetz) angesehen und packe den Kram hier mal zusammen als Materialsammlung.

WP-Artikel "Heilpraktiker - Abschnitt Geschichte in Deutschland (https://de.wikipedia.org/wiki/Heilpraktiker#Geschichte_des_Heilpraktikerberufs_in_Deutschland)":
Zitat von: daraus:
...1936 wurde der Heilpraktiker als freier Beruf anerkannt und erhielt die Befreiung von der Umsatzsteuer. 1937 verkündete der Reichsärzteführer Gerhard Wagner, dass Kurierfreiheit und Nationalsozialismus zwei unvereinbare Dinge seien, und schon 1938 wurde der Entwurf eines Heilpraktikergesetzes erstellt.

Am 17. Februar 1939 wurde das Heilpraktikergesetz (HeilprG)[Quelle 16] mit seiner Ersten Durchführungsverordnung (1. DVO)[Quelle 17] verkündet. Trotz der Regelung des Berufes war das Heilpraktikergesetz von vornherein als Aussterbegesetz für den Berufsstand des Heilpraktikers geplant gewesen,[Quelle 18] wobei es eine geheime Absprache zwischen Naziführung und Reichsärztekammer gegeben haben soll. In der ursprünglichen Fassung des Gesetzes wird dies z. B. in § 2 deutlich: ,,Wer die Heilkunde, ohne als Arzt bestallt zu sein, bisher berufsmäßig nicht ausgeübt hat, kann eine Erlaubnis nach § 1 in Zukunft nur in besonders begründeten Ausnahmefällen erhalten." Über die besonders begründeten Ausnahmen hatte dann die Nazi-Standesorganisation zu entscheiden. Auch der § 4, der die Ausbildung verbietet, ist interessant: ,,Es ist verboten, Ausbildungsstätten für Personen, die sich der Ausübung der Heilkunde im Sinne dieses Gesetzes widmen wollen, einzurichten oder sie zu unterhalten."...

Relevant für die Frage hier ist: "...war das Heilpraktikergesetz von vornherein als Aussterbegesetz für den Berufsstand des Heilpraktikers geplant gewesen,[Quelle 18] wobei es eine geheime Absprache zwischen Naziführung und Reichsärztekammer gegeben haben soll." Dabei kann man gewiss den zweiten Satzteil des unbequellten Gerüchtekrams getrost vergessen. Bleibt Quelle 18 - dahinter steckt die Begründungsunterlage für das eingebrachte Gesetz. Die ist im Reichsanzeiger veröffentlicht und daher in Papierform breit verfügbar - aber leider anscheinend noch nicht digitalisiert / frei abrufbar. Ich habe diesbezüglich auf die Schnelle zwei Sekundärquellen gefunden, die den wesentlichen Passus der Begründung (übereinstimmend) zitieren:

In Nomos, 2007, Heft 1, Alexander Klose (http://www.kj.nomos.de/?id=3353) in einem Beitrag namens "Im Schatten der Profession: Rechtsberatungsgesetz und Heilpraktikergesetz (http://www.kj.nomos.de/fileadmin/kj/doc/2007/20071Klose_S_35.pdf)" [pdf]

Zitat von: daraus:"... In der Gesetzesbegründung heißt es dazu: "In Zukunft [d.h. nach Ablauf der Antragsfrist am 1. April 1939 - Anm. durch Verf.] wird eine Erlaubnis zur Berufsausübung als Heilpraktiker nicht mehr erteilt werden." (mit Zitatbezug zur Quelle "Begründung" und Hervorhebung von mir)

und einem im Weiteren folgenden Schluss hierzu:
"... Während einige Heilpraktikerverbände im HPG noch immer die Geburtsstunde des Heilpraktikerberufs sehen, erweist es sich bei genauerer Betrachtung für Nichtärzte als Berufszugangssperre mit einer besitzstandswahrenden Übergangsregelung. Mit Erlöschen der letzten Erlaubnis wäre der Heilpraktikerberuf ausgestorben, an seine Stelle ein Ärztemonopol getreten [Quelle 28]."

Die angeführte Quelle 28:
"Der Entwurf eines Heilpraktikergesetzes aus dem Jahr 1933 hatte noch die Schaffung eines Standes der sog. approbierten Heilpraktiker vorgesehen: Gillhausen (Fn. 11), S. 26"

Des weiteren findet man zitierende Auszüge auf einem "Xing"-Profil (https://www.xing.com/communities/posts/geschichte-und-ehemaliger-sinn-der-heilpraktikerueberpruefung-1007183083) einer Heilpraktiker-Ausbildungsdingsbums.

Klose nennt in seinem Aufsatz in der Schlussbetrachtung den Heilpraktikerberuf seiner Interpretation zufolge in der Rückschau aus der Gegenwart einen "historischen Zufall", weil das Gesetz in der Folge aus völlig anderen Gründen nicht dem erwarteten/beabsichtigten Zweck folgte (wg. zeitgeschichtlicher Bedingungen unterblieb seiner Ansicht nach die beabsichtigte Durchsetzung des "Ärztemonopols").

Man kann Klose durchaus folgen in der Annahme, es handele sich hier um einen zufälligen Nichteintritt der beabsichtigen Zwecke. Allerdings darf man ihm kaum folgen in seiner Interpretation des beabsichtigten Zweckes - denn dafür dürfte er oder sonstwer keine Quellen haben (siehe auch oben die Kolportage von Gerüchten im WP-Artikel). Genauso denkbar und in meiner persönlichen Anschauung durchaus wahrscheinlicher wäre es gewesen, wenn die diversen Standesorganisationen, von denen der gleichgeschaltete Heilpraktikerverband ja nur *einer* war, in einer Fortentwicklung der gesetzlichen Rahmenbedinungen entweder eine neue Disziplin innerhalb des medizinischen Bereiches aufgemacht hätten mit eigenen Ausbildungsgängen und Gewerbeordnungen oder unter gänzlich neuem "Namen" und Ansatz die "Kurierfreiheit (https://de.wikipedia.org/wiki/Kurierfreiheit)" als Gewerbe neu aufgesetzt hätten. Dergleichen würde ich für wesentlich wahrscheinlicher halten, weil es immerhin finanzstarke und einflussreiche Gruppierungen im Interessengebiet gab und die oben genannte Affinität der Ideologie zu esoterischen Produkten zweifelsfrei bestand.

Von irgendeiner "Verfolgung" und Bekämpfung esoterischer Heillehren in der Zeit des Nationalsozialismus kann angesichts der vielen Quellen überhaupt keine Rede sein - im Gegenteil muß die äußerst starke Verquickung von Personen mit esoterischen Hintergründen und dem ideologisierten Heilwesen als klarer Hinweis darauf verstanden werden, dass anti-medizinwissenschaftliche Angebote dauerhaft und wahrscheinlich eher noch ausgeweitet im Angebot verblieben wären.
Titel: Re: Wie war das wirklich mit den Nazis und den Heilpraktikern?
Beitrag von: Hildegard am 05. Januar 2015, 01:20:17
Hallo, schön, dass auch ihr aus dem Weihnachtsurlaub zurück seid.

Danke @aijki, der du als erster auf die gestellte Frage geantwortet hast. Leider komme ich noch nicht ganz klar, da du deine Quellen auch erstmal kräftig interpretieren musstest, um dann im Ergebnis mehr oder weniger bei dem zu landen, was ich schon eingangs als Vermutung anbot - nämlich, dass der Heilpraktiker unter anderem Namen in den Medizinbetrieb integriert werden sollte. D.h. vorläufig bleibt es bei Vermutungen und ich dürste weiterhin nach Wahrheit.
Titel: Re: Wie war das wirklich mit den Nazis und den Heilpraktikern?
Beitrag von: ajki am 05. Januar 2015, 08:01:20
Zitat von: Hildegard am 05. Januar 2015, 01:20:17
...und ich dürste weiterhin nach Wahrheit.

Ich nehme an, dass das ein Permanent-Zustand in dieser Angelegenheit bleiben wird.

Genau deshalb habe ich mich auch gar nicht erst an der Beantwortung der Ausgangsfrage versucht, sondern die (indirekten) Quellen daraufhin gesichtet, ob an der "Verfolgt"-Mythe etwas dran sein kann. *Die* stützt sich ausschließlich auf die Begründung zur Einbringung des HPG und den oben zitierten Satz. In der Folge wird dann wie von Klose (beispielhaft) ausgeführt eine interpretative Abschätzung vorgenommen, was in einer alternativen Realität eventuell unternommen worden wäre. Das ist die von Dir schon genau richtig bezeichnete "Spekulation", die z.B. bei Klose zum "Ärztemonopol" führt (oder zur "Verfolgt"-Mythe).

Meiner Ansicht nach kann angesichts des Nichteintretens irgendwelcher weiterer Folgen aus unbekannten Absichten überhaupt nichts angenommen werden.

Was man im Hinblick auf die eingangs gestellte Frage betrachten kann ist alles, was sich als historisch beobachtbare Lage präsentiert. *Danach* gab es

a) den eigentlichen seltsamen Stand der "de facto"-"Kurierfreiheit", der zwar völlig ungewollt entstand, aber letztlich über etliche Jahrzehnte inklusive der kurzen Zeit von 33 bis 39 den Gewerbebereich der esoterischen Heilanbieter in Masse etablierte (wesentlich dabei: schon lange vor 33)

b) trotz des totalitären Regimes mit starkem Druck auf *alle* Gewerbebereiche, mindestens Zusätze in ihre Gewerbeordnungen aufzunehmen, die die Ergebenheit gegenüber dem Regime zum Ausdruck bringen und ggf. Zugriff erlauben ("Entjudung" etc.), *erst*! 1938 eine regulative Initiative, den völlig irregulären Bereich der "Kurierfreien" einzufangen - in allen anderen Berufen waren die Gleichschaltungen und Ergebenheitsänderungen der Ordnungen 33/34 erledigt

c) angesichts der zahlreichen Belege für die persönliche und institutionelle Unterstützung von esoterischen Heillehren keinen begründbaren Zweifel daran, dass ideologische Konzepte wie "Neue deutsche Medizin", "Lebensborn-Bewegung" etc. in diesem Regime weiterhin auch nach 1939 unterstützt worden wären - auch die während des Krieges realisierten Projekte im Propagandabereich lassen keinen Zweifel aufkommen, dass diverse esoterische Konzepte regulärer ideologischer Bestandteil blieben (von irgendeiner "Verwissenschaftlichung" kann gar keine Rede sein)

Vielleicht das einzige, was mit einiger Sicherheit gesagt werden kann ist, dass es *zwei* historische Zufälle gab, die ineinandergreifend den heutigen "Heilpraktiker" schufen. Zum einen die kuriose "Kurierfreiheit", die sich wie in etlichen anderen Fällen dadurch ergab, dass die normativen Voraussetzungen der einzelnen Bundesstaaten so disparat voneinander geschieden waren, dass in der Folge der Bundesschließung sich der Bund nicht zu irgendeiner zentralen Regelung entschließen konnte (Lobby-Problem). Der zweite Zufall ist dann der, dass nach etlichen Jahren auch das NS-Regime sich mehr aus formalen Gründen genötigt sah, "irgendwas" zur Regulierung zu unternehmen und ausgerechnet das HPG als erstes Regulierungsprodukt dabei herauskam.

Wäre die Novelle aus irgendwelchen Gründen weiter verzögert worden und dann angesichts des beginnenden Krieges nicht weiter verfolgt worden... hätte die junge Republik (bzw. beide jungen dtsch. Staaten) sich konfrontiert gesehen mit: der "Kurierfreiheit"!

In modernen Gesellschaften bliebe das Loch "Kurierfreiheit" gewiss nicht unreguliert. Aber da Interessen und Lobbys sich mit Sicherheit noch weitaus besser durchsetzen können als in totalitären Regimen, wäre das Endergebnis vermutlich eher ähnlich dem Heilpraktiker-Quatsch gewesen. Die Jahrzehnte des Gewucherten hätten in jedem Fall für "Bestandsschutz" gesorgt.
Titel: Re: Wie war das wirklich mit den Nazis und den Heilpraktikern?
Beitrag von: Hildegard am 05. Januar 2015, 12:59:50
Zitat von: ajki am 05. Januar 2015, 08:01:20
Zitat von: Hildegard am 05. Januar 2015, 01:20:17
...und ich dürste weiterhin nach Wahrheit.
Ich nehme an, dass das ein Permanent-Zustand in dieser Angelegenheit bleiben wird.
Es könnte ja immerhin sein, dass irgendwo ein bisher unbeachteter Tagebucheintrag, eine Redenaufzeichnung o. ä. existiert. Irgendwas im Vorfeld des HPG, das in die eine oder andere Richtung weist. So ein Gesetz muss ja geplant und formuliert werden, da müssen sich doch welche Gedanken gemacht haben. Meine Hoffnung war, dass diese Gedanken sich irgendwo schriftlich niedergeschlagen haben. Schade, dass es damals noch keine E-Mails gab, dann wüssten wir's sicher.
Titel: Re: Wie war das wirklich mit den Nazis und den Heilpraktikern?
Beitrag von: pelacani am 05. Januar 2015, 13:23:28
Zitat von: ajki am 04. Januar 2015, 19:01:52
Man kann Klose durchaus folgen in der Annahme, es handele sich hier um einen zufälligen Nichteintritt der beabsichtigen Zwecke. Allerdings darf man ihm kaum folgen in seiner Interpretation des beabsichtigten Zweckes - denn dafür dürfte er oder sonstwer keine Quellen haben (siehe auch oben die Kolportage von Gerüchten im WP-Artikel).

Das passt das hier, scheint mir, ganz gut:
ZitatDen guten Ruf, den Heilpraktiker heute oft noch genießen verdanken sie Hitler, denn damals wurde allen jüdischen hoch gebildeten medizinischen Professoren und Hausärzten die ärztliche Approbation entzogen und sie durften als ,,Kurpfuscher" weiter arbeiten und waren natürlich bei Patienten hoch angesehen.
http://toxcenter.org/artikel/Heilpraktiker-ein-schnoedes-Hitlererbe.php
So könnte ein Schuh draus werden: die ,,Kurpfuscher", die es zu "verfolgen" galt – das waren die jüdischen Ärzte, die endgültig aus der medizinischen Versorgung  vertrieben werden sollten.  Es ging nicht darum, die Heilpraktiker zu regulieren, das war nur Mittel zum Zweck. Ich spekuliere: das einzige Zulassungskriterium für den Heilpraktiker wäre der Ariernachweis gewesen.
Titel: Re: Wie war das wirklich mit den Nazis und den Heilpraktikern?
Beitrag von: ajki am 05. Januar 2015, 14:16:57
Zitat von: Hildegard am 05. Januar 2015, 12:59:50
Irgendwas im Vorfeld des HPG, ...

Naja... eins steht auf jeden Fall fest: es gibt enorme Mengen an digitalisiertem Material bis zurück zur Reichsgründung (und weiter zurück und mal von den Kilotonnen Papier in den Archivbergwerken ganz abgesehen). Und zwar neben den "offiziellen" Staatsverlautbarungen auch den ganzen Nebenkram wie die Archive der juristischen Zeitschriften. Im Fall des "Deutschen Reichsanzeigers" bin ich mir da absolut sicher, denn der existierte (aus guten Gründen) schon in den 70ern des 20. Jhdt. in fotomechanischem Reprint auf Microfiche in Staatsarchiven - man muß also nur die ohnehin existierenden Fotos zu blöden Foto-pdf umschweißen (wenn man auf zusätzliche Optimierungen verzichtet). Ist halt nur nicht "kostenlos" verfügbar (von dem dämlichen Urheberrechtsschutz, der krakenmäßig alles umfasst, mal ganz abgesehen).

Wenn da irgendwann mal irgendein Knoten platzt, wird es auf jeden Fall Aufklärung geben zu den Verwicklungen rund um den eigentlichen "Sündenfall", die "Kurierfreiheit". Die hat mit definitiver Sicherheit Generationen von Juristen völlig wahnsinnig gemacht über 6 Jahrzehnte lang. Dementsprechend liegen da unter Garantie in den Fachzeitschriften und Konferenzprotokollen Dutzende, wenn nicht Hunderte von Aufsätzen, Sachbeiträgen und Studien vor. Und: dieser "Schatz" kann sogar schon in den 50ern, 60ern, 70ern... in den rechtshistorischen und / oder medizinhistorischen und / oder politikhistorischen Fakultäten leicht in dickleibigen Monographien gehoben worden sein - auf Papier. Als Nebenproblem kann dabei auch durchaus die NS-Zeit und die dort erkennbaren Absichten dokumentiert sein.
Titel: Re: Wie war das wirklich mit den Nazis und den Heilpraktikern?
Beitrag von: Typee am 05. Januar 2015, 14:45:08
Zitat von: ajki am 05. Januar 2015, 14:16:57
Als Nebenproblem kann dabei auch durchaus die NS-Zeit und die dort erkennbaren Absichten dokumentiert sein.

Dazu gehört wenig Phantasie. Von 1933 an wurden Schritt für Schritt alle knapp 10.000 jüdischen Ärzte im Reichsgebiet aus der Approbation gedrängt - und später verfolgt. Es drohte massive Unterversorgung, und da "arischer" und linientreuer akademischer Nachwuchs so schnell nicht zu bekommen war, musste eine Kaste von Primitiv-Heilern erfunden werden, die hopplahopp etwas Heilkunde eingetrichtert bekamen, und den ideologisch begründeten Naturfimmel der Nazis gratis dazu. Dort, in der traditionellen Natur-Ideologie-Tränkung, liegt m.E. auch eine aus den tausendjährigen Zeiten herübergerettete  Altlast des HP-Standes. Seit Natur die Farbe von Braun nach Grün gewechselt hat, ist das allerdings mit einer beträchtlichen Aufwertung in der öffentlichen Wahrnehmung verbunden.

Rein äußerlich ist der Heilpraktiker etwa das, was der pseudo-traditionell-chinesische Heilkundige der Mao-Ära in China war.
Titel: Re: Wie war das wirklich mit den Nazis und den Heilpraktikern?
Beitrag von: ajki am 05. Januar 2015, 15:04:14
Vorhin schon wieder vergessen. Aber was man nich' im Koppe hat, muß man halt inne Dauerpostingfinger ham.

Im schon weiter oben verlinkten WP-Artikel zur "Neuen Deutschen Heilkunde (http://de.wikipedia.org/wiki/Neue_Deutsche_Heilkunde)" findet sich wenigstens mal *eine* mickrige netzzugängliche Zusammenfassung einer Diss - über Wayback (lol).

siehe hier (http://web.archive.org/web/20050817041647/http://www.dr-bothe.de/Praxisteam/Praxisbilder/Bothe/Dissertation_Bothe/body_dissertation_bothe.html) - und insofern brauchbar zum Thema, weil ein bißchen Background zu diversen Strömungen aufsummiert wird.
Titel: Re: Wie war das wirklich mit den Nazis und den Heilpraktikern?
Beitrag von: ajki am 05. Januar 2015, 15:08:28
Zitat von: Typee am 05. Januar 2015, 14:45:08
Dazu gehört wenig Phantasie.

Aber der OP will hinsichtlich der Fragestellung eben gar keine. Es wird nach "Wahrheit" gefahndet. Belege, Belege, Belege und so. ;-)
Titel: Re: Wie war das wirklich mit den Nazis und den Heilpraktikern?
Beitrag von: pelacani am 05. Januar 2015, 16:54:16
Ich zitiere aus:
Thom A, Caregorodcev, GI (Hg.): Medizin unterm Hakenkreuz. Volk und Welt, Berlin 1989, S. 264f:
ZitatDer wachsenden Bedeutung der naturwissenschaftlich fundierten Medizin wurde auch mit einer weiteren staatlichen Maßnahme Rechnung getragen, die eine unkontrollierte Entfaltung der Laientherapie verhindern sollte. Der Weg zu einer »Neuen Deutschen Heilkunde« war von Wagner schon immer an eine Einschränkung der Kurierfreiheit geknüpft worden. Eine solche erweise sich dann gegenüber der Naturheilkunde als gerechtfertigt, ».. .wenn die ärztliche Kunst durch die natürliche Heilweise erweitert und wenn es dem deutschen Arzt zur Pflicht gemacht wird, sich führend der Laienbewegung anzunehmen...«.37 In einer Art Handel wurde hier von der Schulmedizin für die teilweise Aufhebung der Kurierfreiheit eine Gegenleistung gefordert, die den offiziellen Stellenwert der Naturheilkunde festigen konnte. Das sogenannte »Heilpraktikergesetz« wurde am 18. 2. 1939 verabschiedet und hob das Recht auf freie Heilkunde in Deutschland auf. Der große Zeitraum zwischen der Auflösung der Reichsarbeitsgemeinschaft und der endgültigen Begrenzung der Tätigkeit der Laientherapeuten läßt auf einen innerparteilichen Disput über die Rolle der Naturheilkunde schließen. Beide Entscheidungen fielen jedoch zugunsten der Schulmedizin aus. Den Heilpraktikern versprach man als Alternative den Titel »Arzt für Naturheilkunde«, der unter bestimmten Bedingungen ohne Hochschulabschluß zuerkannt werden sollte.38 Dieses Versprechen geriet angesichts der dann einsetzenden Kriegsbedingungen zu einer Fiktion.

Quelle 38 ist die hier:
K Blome: Zur Aufhebung der Kurierfreiheit.
Zeitschrift für die gesamte Neurologie und Psychiatrie • Volume 167, Issue 1 , pp 209-213
(Der Text ist offenbar in mehreren Zeitschriften erschienen, auch im Dt. Ärzteblatt, aber wenn man dort nach ,,Kurierfreiheit" sucht, ist der älteste Treffer von 1984)
Zitat[...]
M. H., ich kann Ihnen als Teilnehmer an den ganzen Beratungen versichern, daß niemals das jetzige Gesetz ohne Schaffung der neuen deutschen Heilkunde zustande gekommen wäre. Solange es in Deutschland rund 10 Millionen Menschen gibt, die auf dem Standpunkt der naturgemäßen Lebensweise und der natürlichen Heil weise stehen, ist es psychologisch und politisch wie auch sachlich abwegig, auf dem Standpunkt einer einseitigen Heilkunde fußen zu wollen. Ich persönlich glaube auch nicht, daß die Zahl der Anhänger einer natürlichen Heilweise in Deutschland jemals geringer werden wird, und halte es auch keineswegs für nötig. Bewährte natürliche Heilweisen, im Volke allgemein als biologische Methoden bekannt, haben noch niemals der Volksgesundheit geschadet, insbesondere dann nicht, wenn man — wie wir es stets getan haben — die exakte naturwissenschaftliche Medizin als die Grundlage jeder hochwertigen Heilkunde herausstellt.

Um gerade in der jetzigen Zeit keinen Zweifel auf kommen zu lassen, betone ich hier ausdrücklich: Wir halten an der Synthese von Erfahrungs- und Schulmedizin für alle Zeiten fest. Es wird Aufgabe eines jeden einzelnen deutschen Arztes und insbesondere der Wissenschaft sein, niemals von diesem Grundsatz abzugehen, sondern im Gegenteil sich in den Dienst der Förderung der neuen deutschen Heilkunde zu stellen. Wer dies nicht tut, macht sich eines Verbrechens an der Volksgesundheitspflege schuldig, denn er rüttelt damit an den Fundamenten des jetzigen Gesetzes und trägt — ob gewollt oder nicht — dazu bei, daß eines Tages die Forderung nach der Kurierfreiheit aus dem Volke heraus von neuem erhoben wird. Es hieße die Augen verschließen, wollte man nicht zugeben, daß gerade die sog. biologischen Heilmethoden nicht immer die notwendige Pflege seitens der Ärzte gefunden haben. Man mag mir sagen, daß durch die bisherige Kurierfreiheit der Volksgesundheit ein unendlicher Schaden zugefügt wurde. Dies stimmt, hat jedoch letzten Endes mit der Forderung nach natürlicher Lebens- und Heilweise seitens eines großen Teiles des Volkes, welcher infolge Vernachlässigung dieser Methoden duroh den approbierten Arzt in die Arme des nichtapprobierten Heilbehandlers getrieben wurde, nichts zu tun.

Wenn Sie das Gesetz betrachten, so müssen Sie einige wesentliche Punkte besonders erwägen, auf die ich hier kurz eingehen will. In absehbarer Zeit ist der Stand der Heilpraktiker ausgestorben. Von etwa 12000 bisher unter den möglichsten und unmöglichsten Bezeichnungen tätig gewesenen nichtärztlichen Heilbehandlem bleiben etwa 4000 Heilpraktiker über, von denen neben anderen Voraussetzungen ganz bestimmte Fähigkeiten auf heilerischem Gebiete verlangt werden, und die zur Ausübung ihres Berufes einer besonderen ,,Erlaubnis" bedürfen. Diese Heilpraktiker werden in der deutschen Heilpraktikerschaft zu einer Standesorganisation mit einer straffen Führung und einer besonderen Berufsordnung zusammengefaßt, nachdem der bisherige Heilpraktikerbund sich in jahrelanger Arbeit von üblen Elementen gereinigt oder diese gar nicht in seine Reihen auf genommen hatte. Der Heilpraktiker ist also jetzt — so wie es auch seine Führung wünschte — unter eine straffe Aufsicht gestellt. Wir haben daher keine Veranlassung, von seiten der Ärzteschaft die verbleibenden Heilpraktiker abzulehnen oder gar verächtlich zu behandeln. Genau so wie der Arzt unter einer strengen staatlichen Aufsicht steht, ist dies in Zukunft beim Heilpraktiker der Fall. Unsaubere und unlautere Elemente werden nicht geduldet. Bis zu dem Augenblick, wo wir in Deutschland nur noch den approbierten Arzt als anerkannten Heilbehandler haben, wird eine vernünftige noch näher festzulegende Zusammenarbeit auf dem Gebiete der Volksgesundheitspflege statthaben müssen.
[...]

Meine Zwischenbilanz: Um den Preis des Einverständnisses mit der ,,Integration" der Naturheilkunde in die naturwissenschaftliche Medizin konnte sich die ärztliche Standesvertretung unter den speziellen Bedingungen Ende der 30er Jahre gegen die Heilpraktiker weitgehend durchsetzen.
Titel: Re: Wie war das wirklich mit den Nazis und den Heilpraktikern?
Beitrag von: Hildegard am 07. Januar 2015, 00:26:31
Danke Pelacani für den Blome. Meiner Meinung nach belegt die Quelle eindeutig, dass Naturheilkunde auch künftig vom NS-Regime gewollt war, nur eben unter staatlicher Kontrolle. Klar freuten sich die "deutschen Ärzte" über die Abschaffung der Konkurrenz, und nur zu gern wurden sie dafür "neue deutsche Mediziner", die "Erfahrungsmedizin" wertschätzten.
Titel: Re: Wie war das wirklich mit den Nazis und den Heilpraktikern?
Beitrag von: pelacani am 07. Januar 2015, 07:13:27
Zitat von: Hildegard am 07. Januar 2015, 00:26:31
Danke Pelacani für den Blome. Meiner Meinung nach belegt die Quelle eindeutig, dass Naturheilkunde auch künftig vom NS-Regime gewollt war, nur eben unter staatlicher Kontrolle. Klar freuten sich die "deutschen Ärzte" über die Abschaffung der Konkurrenz, und nur zu gern wurden sie dafür "neue deutsche Mediziner", die "Erfahrungsmedizin" wertschätzten.

Vielleicht stimmt  das in erster Näherung, aber sicher war die Beziehung zwischen Nazis, ,,Naturheilkundlern" und Ärzten komplex. Ärzte sind immer akademische Schnösel gewesen, auch übrigens später in der DDR. Und ob Kötschau und Konsorten wirklich den Kern der deutschen Ärteschaft in dieser Frage repräsentierten, halte ich für offen. Ein wenig spricht der aggressive Unterton in dem Blome-Statement dagegen.  Auch hatten sich die Natur-Heinis zu diesem Zeitpunkt offenbar untereinander schon heftig verstritten.

Einen Eindruck gibt der Donner-Bericht:
http://www.kwakzalverij.nl/view/DownloadFile.php?iPkDownloadId=436
ZitatNunmehr hielt der Präsident des Reichsgesundheitsamtes, Prof. Reiter, die Zeit für gekommen, den jahrelangen Vorbereitungen für eine Überprüfung der Homöopathie die Tat folgen zu lassen. In feierlicher Sitzung im großen Saale des Reichsgesundheitsamtes fand im Herbste des Jahres  1937 der Beginn der Überprüfung statt, der 'größte Augenblick in der Geschichte der Homöopathie', wie mir A. Stiegele beim Betreten des Saales zuflüsterte. Vor einem Gremium führender Vertreter der deutschen Medizin, es waren u.a. anwesend die Abteilungsdirektoren des Reichsgesundheitsamtes, des Institutes für Infektionskrankheiten 'Robert Koch', Ordinarien verschiedener Universitäten, vor allem Internisten und Pharmakologen [....]

Hier erfolgte ein Zwischenruf von homöopathischer Seite von H. Rabe, in dem behauptet wurde, daß die Homöopathie auf einer ganz anderen Ebene liege. So würde beispielsweise Digitalis in immateriellen Verdünnungen, also einer C200 oder Cl000 an Menschen geprüft, die dann die für die Anwendung des Mittels wertvollen Symptome an sich entwickeln...

Eine peinliche Pause folgte, bis der neben mir sitzende Pharmakologe Wolfgang Heubner aufstand und zu dem Zwischenrufer gewandt sagte, daß die Digitalis die pharmakologisch am intensivsten erforschte Droge ist. Er würde gerne Neues dazu lernen. Er und seine Mitarbeiter brennen darauf, die nach vergeistigten Potenzen auftretenden Symptome an ihrem eigenen Körper kennenzulernen. Auch möchte er gern nachlesen, was bei derartigen Prüfungen einwandfrei festgestellt wurde, und bitte um Literaturangabe. Der auf ein 'hic Rhodos, hic salta' keineswegs vorbereitete Zwischenrufer mußte vor allen Anwesenden einen peinlichen Rückzug antreten.

Heubner war ein bedeutender Wissenschaftler (1952 Großes Verdienstkreuz der Bundesrepublik Deutschland und 1954 die Paracelsus-Medaille der deutschen Ärzteschaft).
Titel: Re: Wie war das wirklich mit den Nazis und den Heilpraktikern?
Beitrag von: Typee am 13. Januar 2015, 15:04:07
Das Thema hat auch Edzard Ernst umgetrieben:

http://edzardernst.com/2015/01/rudolf-hess-hitlers-deputy-on-alternative-medicine/

Aus dem Abstract eines dort erwähnten älteren Aufsatzes:

ZitatTo re-unify German medicine under the banner of 'Neue Deutsche Heilkunde', the Nazi officials created the 'Heilpraktiker' – a profession which was meant to become extinct within one generation.

Vielleicht schaue ich sein Buch  demnächst einmal an:
http://www.amazon.co.uk/Scientist-Wonderland-Searching-Finding-Trouble/dp/1845407776/ref=sr_1_3?ie=UTF8&qid=1420549767&sr=8-3&keywords=edzard+ernst