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ADHS – das Feuilleton und die Philosophie, Christoph Türcke

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Begonnen von Wolleren, 12. Juni 2011, 22:29:02

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Wolleren

Oder: Wo kommt die Scheiße eigentlich immer her?

An der prominentesten Stelle des Feuilletons der SZ am vergangenen Freitag (10.6.2011) schreibt Thomas Steinfeld über die ADHS-Rezeption des Philosophen Christoph Türcke. Der Artikel ist auch online einsehbar.
Bevor uns der Autor zur ,,jüngsten Ausgabe des Jahrbuchs der Psychoanalyse (Heft 62/2011)" führt, stimmt er uns medizinhistorisch ein, und zwar mit einem Vergleich von ADHS- zu Hysteriediagnosen. Leider versäumt er es, das Krankheitsbild nach ICD10 auch nur zu erwähnen. Stattdessen arbeitet er sich an dem Wort ,,Syndrom" ab, das Ratlosigkeit suggeriere.1 So weit, so naja. Bevor der Autor schlussendlich seine Haltung zur Sache eröffnet mit ,,Aber klüger als Ritalin ist dieser erste Versuch allemal, einem grassierenden Defizit der modernen Gesellschaften mit den2 Mittel der Philosophie beizukommen."3, gibt es noch ein paar Ausflüge in die feuilletonistische Welt der ADHS-Kritik.

ZitatGewiss, eines kann als gesichert gelten, eine erbliche Disposition in manchen Fällen etwa.
Wie großzügig! Eine Recherche nach der Quote hätte vielleicht 90% ergeben. ,,In manchen Fällen" ist in seiner Faktenignoranz eine Beleidigung.

ZitatUnd selbstverständlich gibt es physiologisch manifeste Störungen oder traumatische Erfahrungen, die eine klare Diagnose erlauben. Aber beim übergroßen Rest ...  greifen solche diagnostischen Muster nicht.
Wieder eine bodenlose Frechheit. Was für ein übergroßer Rest, und wie groß ist er denn? Und welche Störungen und Erfahrungen gehören denn zur Krankheitsdefinition und ihrer Diagnose?

Türcke habe Thesen zur ,,Aufmerksamkeitsdefizitkultur" verfasst. Er setze voraus, dass zu einem Scheiden von Norm und Krankheit eine deutliche Diskrimination gehöre, die es im Fall von ADHS aber nicht gebe, denn die normentsprechende Welt unterliege selbst einem Aufmerksamkeitsdefizit. Dazu wird der Fernsehkonsum angeführt (was ja tatsächlich laut Spitzer bei Schulkindern die gesunde Reizverarbeitung stark, auch neurochemisch, stört) und die Störung der Arbeit durch hereintröpfelnde E-Mails. Warum Mobiltelefone und Smartphones, die m.E. die besten Zeugen für diese These darstellen, nicht erwähnt werden, kann ich mir nicht erklären.  Doch dies ist einer der guten Teile des Artikels.

Nach einer in ihrer Idiotie (wahlweise: Perfidie) kaum überbietbaren Zwischenüberschrift ,,Was muss geschehen sein, dass kleine Menschen zu Rumpelstilzchen werden?" setzt nun die Schwurbelei über ,,das Kind" ein. Hier wird der uns bereits bekannte – hier als Kinderanalytiker apostrophierte –  Wolfgang Bergmann (siehe auch Konferenz ADHS) angeführt: Am Computer, wohin es das Rumpelstilzchen zieht, reichten ,,wenige Handbewegungen aus, um ein gewünschtes Objekt in den Bereich der Verfügbarkeit zur2 holen, oder einen Kommunikationspartner für den Austausch dieser oder jener Phantasie, dieser oder jener Kontakte anzurufen." Türcke nennt den Computer durchaus treffend das Medium der konzentrierten Zerstreuung schlechthin, doch wäre es gut gewesen klarzumachen, welche Applikationen in der Vorstellung unserer Philosophen eigentlich auf dem Rechner laufen: Textverarbeitung, Mailclient, Soziales Netzwerk, Musik, Spiel, alles gleichzeitig? Sonst könnte man nämlich auch einen Staubsauger (ein monoapplikatives Gerät...) als Zerstreuungsgerät für Kinder verdächtigen, doch wer interessiert sich schon für Details, für empirische Belastbarkeit?

Auch wenn Türcke es sich, wie Steinfeld versichert, nicht einfach macht, denn bspw. ,,insistiert er darauf, dass die Unruhe der Medien sich nicht schlicht in der kindlichen Unruhe spiegele", bleibt immer noch die Frage, was diese Kulturkritik mit ADHS zu tun hat. Wer glaubt, dass ADHS eine Befindlichkeitsstörung darstellt, die von Eltern und Ärzten zu ihrer Bequemlichkeit erfunden worden ist, also keine behandlungsbedürftige Krankheit, für den ist ADHS ein rein kulturelles Problem, über das sich trefflich schwurbeln lässt. Wie angenehm, damit sein Brot verdienen zu können, doch etwas unangenehmer ist die Realität betroffener Eltern und Kinder. Naja, irren ist philosophisch.

Das Krönung zum Schluss:
ZitatAber man müsse davon ausgehen, dass ein Defizit an Aufmerksamkeit zuerst einmal erlebt werde, bevor es im Kind wiederholt werde, in Gestalt ein2 Umwelt, die ihrerseits von einer tiefen Unruhe geprägt werde, von ständigen Springen zwischen den Medien und Ereignissen: Fände nicht ein vitaler Entzug statt, gäbe es nicht die motorische Dauerunruhe, die unablässige Suche nach etwas, was die Gestalt eines verlorenen Objekts noch gar nicht angenommen hat.
Vielleicht macht es dem Feuilleton ja einmal Spaß, diese Argumentationsweise für andere Erkrankungen anzuwenden: Kurzsichtigkeit, Masern, bipolare Störung, Leukämie. Von hier ist der Weg zu Hamer nicht weit.

Die einleitende Frage nach dem Woher der Scheiße dürfte beantwortet sein.

1Die lexikalische Herangehensweise an die Analyse ist stets ein Zeichen für Schwurbelitis. Gibt es auch nur einen Schwurbler, der bspw. Andenken nicht An-Denken buchstabieren würde? ,,Syndrom" einfach mit ,,Krankheitsbild nach ICD 10" zu übersetzen, ist intellektuell wohl zu wenig anspruchsvoll für die philosophische Korona.
2Fehler im Original
3Dass MPH Kindern konkret hilft, blendet er hier aus. Sonst wäre der Artikel ja ganz falsch.

Warze

Manchmal frage ich mich, woher diese Denker ihre Weisheiten haben.
Vielleicht sollten sie, ehe sie ohne Unterlaß Papier mit ihren Ergüssen bedrucken lassen selbst zunächst die passende Literatur wälzen. Insofern hat der Autor selbst ein Aufmerksamkeitsdefizit und muß auf die Alm, um die von ihm ignorierten Transportproteine zurechtzuschütteln.

Ich empfinde ADHS für mich selbst weniger als Krankheit, sondern eher als Anomalie, die allerdings lästig sein kann. Aber ich leide nicht darunter. Anderen geht das jedoch weniger gut damit.

Und: Was habe diese Menschen alle gegen MPH? Ich kenne etliche, die es seit Jahren essen und damit überhaupt keine Probleme haben. Aber ohne. Und wieso sträuben sich alle gegen oder ignorieren die Wissenschaft? Wettern gegen die pöhse Pharmamafia? Aus Uneigennutz? Bestimmt völlig selbstlos, denn sie verdienen ja keinen Cent an der jahrelangen Wirkungslosen Behandlung.

Schlimm wird es immer wieder, wenn Denker über Sachen denken, von denen sie nicht die leiseste Ahnung haben.
"One thing's sure: Inspector Clay is dead- murdered- and somebody's responsible!"

rincewind

Finde, das sollten wir bloggen. Wolleren, einverstanden?

Warze

"One thing's sure: Inspector Clay is dead- murdered- and somebody's responsible!"

Wolleren

Der Forumsbeitrag kann meinetwegen gebloggt werden. Allerdings mag ich diesen Blogstil (einen fremden Artikel nach Schweinereien zu durchsuchen und sich daran abzuarbeiten) nicht besonders, es macht einem nur als Verfasser mehr Spaß, und es ist relativ einfach. Die kommentierenden Fußnoten sollten vielleicht auch noch verschwinden (einarbeiten oder streichen).

Irgendetwas sollte als Gegengewicht zum SZ-Artikel schon bei EW erscheinen, denn die Kommentare in der SZ sind teils von einer schrecklichen Unbedarftheit: vill Fernsehn = ADHS. Solche Kommentatoren haben ja noch nicht einmal den SZ-Beitrag richtig verstanden, dessen reduzierte Botschaft schließlich lautet: Unsere Gesellschaft leide an einem Aufmerksamkeitsdefizit, daher stelle ADHS keine Normabweichung dar und müsse dementsprechend auch nicht behandelt werden. ADHS-Kinder übten das gesellschaftlich exerzierte Defizit lediglich ein, wozu der Medienkonsum allerdings beitrage.
Passend dazu lautet ja auch der Titel: "Die Unruhe und ihr Kind", Untertitel: "Warum gibt es das 'Aufmerksamkeitsdefizit'? Der Philosoph Christoph Türcke gibt eine Antwort.

Wenn sich der Elfenbeinturm am Thema ADHS abarbeitet, beweist er regelmäßig sein eigenes Unvermögen, frei verfügbare Fakten zu recherchieren und wahrzunehmen. Hoffentlich liegt das nur an seinem immanenten Aufmerksamkeitsdefizit.

rincewind

Ich bin mal so frech und mach das einfach. Zumal Wollerens Beitrag 1:1 übernehmbar ist, hier wie dort Esowatch, beides öffentlich und somit nur eine Dupplizierung und gehe deswegen von Wollerens Einverständnis aus.

http://blog.psiram.com/?p=3372

rincewind

Zitat von: Wolleren am 13. Juni 2011, 11:27:22
Der Forumsbeitrag kann meinetwegen gebloggt werden. Allerdings mag ich diesen Blogstil (einen fremden Artikel nach Schweinereien zu durchsuchen und sich daran abzuarbeiten) nicht besonders, es macht einem nur als Verfasser mehr Spaß, und es ist relativ einfach. Die kommentierenden Fußnoten sollten vielleicht auch noch verschwinden (einarbeiten oder streichen).

Sorry, war schneller :)
Ich habs mir erlaubt, weil es hier genauso öffentlich ist wie im Blog. Und exakt nichts zu ändern war. Fußnoten sind doch ok.

Edit: Habs so eilig gehabt, weil ich dann weg bin, dann hätte es wieder lange gedauert, und ein gewisser Zeitbezug ist in dem Artikel; insofern möglichst flott.



Wolleren

ok, was solls. Dann ist der Blogbeitrag eben nicht perfekt, Eile ist auch ein Argument.

rincewind

Zitat von: Wolleren am 13. Juni 2011, 11:42:23
ok, was solls. Dann ist der Blogbeitrag eben nicht perfekt, Eile ist auch ein Argument.

Auf die Schnelle kann ich ihn nochmal zurückziehen, wenn Du das willst, halbe Std hab ich noch.
Wobei anzumerken ist, dass Blogs eben fast nie perfekt sind - Blog ist spontan.

niedlich

ZitatDazu wird der Fernsehkonsum angeführt (was ja tatsächlich laut Spitzer bei Schulkindern die gesunde Reizverarbeitung stark, auch neurochemisch, stört)
Was heißt hier denn "auch"?
Wenn die gesunde Reizverarbeitung gestört ist, dann natürlich "auch neurochemisch". Oder gibt es irgendeine Reizverarbeitung im Gehirn, die auf einer nicht-neurochemischen Grundlage passiert?
Weiterhin:
Wenn das Gehrin "neurochemisch" aus den Fugen geraten ist, dann heißt das noch lange nicht, dass dem prinzipiell nur medikamentös beizukommen wäre.
Jede gelungene Psychotherapie krempelt das Gehirn auch neurochemisch um (z.B. systematische Desensibilisierung).
Ich reagiere irgendwie allergisch, wenn ich von Ärzten, Psychologen oder Esowatchern "auch neurochemisch" lese. Denn das  impliziert einen wie auch immer gearteten Dualismus.





Warze

Ich bin immer wieder erschüttert, daß sich jemand Philosoph schimpfen darf, der ohne jegliche Sachkenntnis herumschwafelt. Furchtbar. Und dafür zahlen wir noch Geld!
"One thing's sure: Inspector Clay is dead- murdered- and somebody's responsible!"

PB

naja, Philosoph darf sich jeder schimpfen. Schützt auch nicht vor Sprung in der Schüssel, was man am Beispiel Slotterdyk ganz gut erkennen kann...
Die Frage ist warum man eine medizinische Sache auf die Philosophie herunterbrechen möchte! Kann doch nur schiefgehen.

P.Stibbons

ZitatDie Frage ist warum man eine medizinische Sache auf die Philosophie herunterbrechen möchte!
Weil es Gruppierungen in unserer Gesellschaft gibt, die alle Kanäle benutzen, um der Öffentlichkeit zu suggerieren, bei dieser weit verbreiteten Störung (die u.U. die neuropsychologische Disposition für  andere Störungen darstellt oder mit dazu beiträgt, dass diese schlecht behandelbar verlaufen...) handele es sich um ein "gesellschaftspolitisches Konstrukt", welches dazu benutzt werde, schulisch und sonstwie aus dem Rahmen fallende Individualisten mit Hilfe von Medikamenten ("Psychopillen") dem System gefügig zu machen.

http://www.psiram.com/ge/index.php?title=Konferenz_ADHS

http://www.adhs-schweiz.ch/Bilder/Matthias_Wenke.pdf

Diesen selbstgefälligen und oft selbst ernannten "Vordenkern" ist es schnurzpiepegal, was die "Schulmedizin" zu dem Störungsbild sagt oder ob den Betroffenen dringend benötigte Hilfe  - ggfs auch medikamentöse Behandlung - aufgrund gezielter Desinformation vorenthalten wird - alles selbstverständlich unter dem Deckmäntelchen, nur das Wohl "unserer" Kinder im Auge zu haben

Warze

Zitat von: Baustelle am 14. Juni 2011, 13:02:51
naja, Philosoph darf sich jeder schimpfen. Schützt auch nicht vor Sprung in der Schüssel, was man am Beispiel Slotterdyk ganz gut erkennen kann...
Die Frage ist warum man eine medizinische Sache auf die Philosophie herunterbrechen möchte! Kann doch nur schiefgehen.
Vielleicht ist dieses "Gesundphilosophieren" das "Gesundbeten" der Atheisten? Obwohl, der Dingsda ist doch Theolüge...
"One thing's sure: Inspector Clay is dead- murdered- and somebody's responsible!"

Janus

Kennt jemand hier EDGE?
Das Problem sind, dass es in der Kultur zwei Arten von "Intellektualität" gibt. Da haben wir einerseits die harte Wissenschaft mit Experimenten, Studien etc. aber dann haben wir eben auch die aus der Literaturkritik geborene Schule, die aus ideologischen Überlegungen die Wissenschaft implizit ablehnt indem sie alles als sozial "konstruiert" (intelligent design? ;) ) ansieht und alles aus dieser radikalen sozialen Schiene sieht. Das Problem ist nun, wenn sich diese soziale Schiene, die bei komplexen Gesellschaftsphänomen ja durchaus legitim und richtig ist, versucht die Natur zu erklären. Heraus kommt dann so eine Schwurbelei wie Gender Studies von Money (der mit der zwangsgeschlechtsumwandlung) oder Freudsche Psychoanalyse (Wobei ich Freud zugute halten muss, dass man damals noch nichts über das Gehirn wusste).