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Sinn und Notwendigkeit von Staatsschulden

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Begonnen von Scipio 2.0, 30. November 2019, 22:47:19

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Scipio 2.0

Hallo Leute,

ich habe mal wieder was zum diskutieren ausgegraben. Diesmal beschäftigt mich das Thema Staatsschulden.

Soweit ich das mitbekommen habe scheint die aktuelle Bundesregierung sehr daran interessiert zu sein den Schuldenstand der Bundesrepublik Deutschland zu senken, Stichwort "Schwarze Null". Leider werden dabei wohl auf wichtige Investitionen verzichtet.

Ich steck da etwas in der Zwickmühle. Zum einen bin ich der Meinung das ein hoher Schuldenstand nicht gut ist, denn irgendwann muss man dafür wieder Zinsen zahlen und das Geld fehlt dann wieder an anderer Stelle. Auf der anderen Seite bin ich der Meinung, es ist keine Gute Idee die Schuldenrückzahlung mit dem Aufschub dringend benötigter Investitionen zu erkaufen.

Wie denkt ihr darüber?
 

duester

Dass das Thema sehr viel komplexer als ein einfaches "Entweder, oder" ist.

Im Studium hatte ich einen Wirtschaftsprofessor, der ein überzeugter Vertreter des Keynesianismus war. Lieber ein paar Prozentpunkte mehr Inflation als höhere Arbeitslosigkeit und Staatsschulden sind irrelevant, weil es sich nicht "klassische" Kreditaufnahme handele, sondern um Millionen von einheimischen Sparern, die ihre Notgroschen in Staatsanleihen parken. (Der letzte Halbsatz stimmt übrigens nicht.)

Ich persönlich bin gegen die "schwarze Null", weil sie nur autoritär bis diktatorisch durchzusetzen ist und ich mehrfach in Gebieten gelebt habe, die "kaputtgespart" wurden. Da eine strenge Austeritätspolitik erhebliche Verteilungswirkungen hat (Sozialleistungen werden überwiegend steuerfinanziert), weiß ich, das sowas nicht schön abgeht. Und sie ist noch nicht mal notwendig: Das berühmte Reinhart-/Rogoff-Paper, welches die Austeritätspolitik begründet, enthält so heftige Fehler, dass zu vermuten ist, dass sich die zentrale Schlussfolgerung sogar umdreht (hohe Staatsausgaben wirken sich nicht negativ auf das Wirtschaftswachstum aus, sondern das WW ist geringer, wenn die SA zu niedrig sind). Sogar Staatsbankrotte sind sehr viel weniger disruptiv,  als man lange Zeit angenommen hatte (trotzdem würde ich auf die Erfahrung gerne verzichten).

Gleichzeitig weiß ich, wie gefährlich es ist, wenn nicht der Daumen auf den Staatsschulden gehalten wird. Politiker sind weit überwiegend keine Ökonomen und schon gar keine Volkswirte. Das und die Notwendigkeit von Wiederwahlen verleitet zu kurzsichtiger Ausgabenpolitik. Die europäische Geldpolitik, die mit der EZB verhindert, dass ein Land die Geldpresse anschmeißen kann, um angehäufte Staatsschulden loszuwerden, war vor diesem Hintergrund schon eine recht schlaue Idee. Vor Kurzem habe ich die "Idee" gelesen, dass wir doch auch die Notenbankchefs wählen könnten, was so ziemlich das Dümmste war, was ich in letzter Zeit gelesen habe. Es kam von diesen beiden "Spezialisten":

https://friedrich-weik.de/

(BWL-Bachelor von der FH Aalen, aus dem "renommierten Studiengang" International Business & ich finde, das sind heiße Wiki-Kandidaten - schon allein, weil der dm-Gründer sie Supa findet).

In Summe ist es wie mit dem Klimawandel: es gibt Handlungsbedarf, insbesondere eine Neu-Ausrichtung der Politik, aber weder Welt noch Wirtschaftssystem werden in absehbarer Zeit untergehen.

sailor

Die Mär von "Investitionsverzicht" finde ich immer wieder toll.

1) Deutschland investiert eine Menge, könnte sogar nochmehr investieren, aber irgendwer muss auch planen, vorbereiten und letztendlich bauen. Der Flaschenhals in Deutschland liegt auf allen Ebenen vom Bund bis runter zur Kommune eben nicht bei den verfügbaren Geldern, sondern bei den Ressourcen, die zum Verwenden des Geldes notwendig sind. Hier macht insbesondere der Bund es sich leicht, weil er die Ausführung von Infrastrukturprojekten an andere (bspw. die Länder) weitergibt und am Ende nur die Schecks ausstellt. Autobahnen bspw. werden oft  von den Landesbehörden gebaut/geplant.

2) Gelder aus den Haushalten sind zweckgebunden. Wenn man nun ankommt und bspw. "Digitalisierung" fördern will, dann braucht man dazu ein Gesetz, was diese Aufgabe definiert. "Einfach so" mal ein paar Mrd. lockermachen geht nicht. Neue Herausforderungen müssen immer erstmal ihren Weg in codifiziertes Recht finden, ansonsten hätten wir einen Selbstbedienungsladen.

3) Staatsschulden sind so eine Sache. Duester hat es angerissen, die allein seelig machende Wahrheit gibt es dort nicht. Fakt ist, dass egal welche Person/Körperschaft man ansieht, Investition aus "eigener" Kraft sind selten möglich. Also muss man sich verschulden. Die Frage dabei ist, wie diese Schulden im Verhältnis zu den langfristigen Einnahmen stehen und wo man sie macht. Früher haben Staaten sich das Geld bei den eigenen Bürgern "geliehen", da konnte man durch div. Tricks einfach wieder runterkommen. Mittlerweile sind Staatsanleihen oft frei international handelbar, womit solche Tricks wie ne kleine Inflation oder ein Staatsbankrott ganz anders wirken. Der Vorteil von Staaten ist dabei, dass sie deutlich längere Laufzeiten bekommen und mit ihrer Gesamtperformance in die Bewertung einfließen. Deshalb bekommt Deutschland ja auch auf Staatsanleihen Negativzinsen (darüber freut sich übrigens die BRD GmbH, die Firma über die die deutschen Schulden verwaltet werden). Aber: Die Schulden haben Laufzeiten, da kann man sich nicht einfach so rauskaufen (wenn dann nur mit Aufschlägen). Damit ist selbst in fetten Jahren der Schuldendienst zwangsläufig. Auch kann man über Schulden die Bezahlung von Investitionen strecken und bspw. in der doppischen Rechnung (Haushaltsführung der öffentlichen Hand) mit den Abschreibungen verrechnen und so deutlich "angenehmer" investieren.

4) Schwarze Null: War eine Reaktion auf die Finanzkrise. So gesehen ist ein ausgeglichener Haushalt gar nicht so übel, jedoch bindet sich der Staat damit extrem an die Wirtschaftszyklen. Wenns bergab geht muss der Staat sparen, gehts hoch muss er die Kohle rausdrücken. Antizyklisches Handeln (aka Keynes) ist damit nur bedingt möglich. Gleichzeitig verhindert es (hoffentlich) auch zu große Spendierhosen in guten Zeiten (wie jetzt). Deutschland verteilt sehr viel um, das meiste geht jedoch über Personal- und Sozialausgaben in den Konsum (was wiederum die Konjunktur stützt, ca. 0,5% des BIP wurden in den letzten Jahren MEHR an staatlichen Sozialleistungen in die Wirtschaft gepumpt, was wohl dieses Jahr ein Minus beim Wachstum verhindert hat). Konsum ist wichtig, ohne Frage, aber in der VWL gibts die einfache Rechnung, dass Konsum und Investition voneinander abhängen: Was konsumiert wird, wird nicht investiert und andersherum.

5) Bundesausgaben/Förderprogramme: Sehe ich ambivalent. Meist wirken diese Gelder wie Anfixen durch den Drogendealer. Ein Programm wird gestartet, es regnet warm, Beschaffungen kommen und nach 5 Jahren wird der Hahn plötzlich zugedreht. Gleichzeitig müssen andere Akteure wie Länder und Kommunen einen Teil der Startkosten mittragen und bleiben hinterher auf den laufenden Kosten sitzen. Beispiel Digitalpakt. Da werden 5 Mrd vom Bund und nochmal soviel von den Ländern reingepumpt, aber umsetzen, warten/pflegen und vor allem bei Obsolesenz nachbeschaffen dürfen die Kommunen. Gut gemeint, schlecht gemacht.

PeterPan

Ich weiß nicht genau worauf du hinaus möchtest. Zurzeit sind Jens Südekum und Michael Hüther bestrebt ausreichend Zeitungsartikel, Essays und Paper zu veröffentlichen um genug Informationen und Argumente zu bieten warum und wann staatliche Investitionen auch schuldenfinanziert mehr Vor- als Nachteile bieten. Da kannst du dich gerne einlesen.

Da du die Gefahr siehst, dass die Zinsen wieder steigen könnten. Wann denkst du passiert das? So gesehen gab es nachdem 2.WK nur eine höhere Inflations- und Zinsphase die eng mit den Ölkrisen zusammenhing. Die EZB unter Trichet hat als der Ölpreis 2010/11 anstieg ihre Leitzinsen angehoben. Siehst du solch einen Moment? Nicht vergessen dieser Moment ging für die Eurozone als double-dip recession ein. Auch ist im historischen Hinblick die Zinsleistung Deutschland gering - unter 16 Jahre Kohl sind die Schulden und Zinsleistungen gestiegen, aber was wäre die Alternative Ostdeutschland den Bach untergehen lassen oder 1zu1 die Staatsschulden mit Steuererhöhungen umzulegen, Sozialversicherungen belasten und das trägt die Bevölkerung mit.

Warum findest du einen hohen Schuldenstand für den Staat schlecht? Und welchen genau meinst du? Auch den der Länder und Kommunen und wie steht es mit zukünftigen Verpflichtungen? Wie stehst du zur Verschuldung in anderen Ländern USA, China, Italien, Frankfreich, Japan. Sollten die auch eine Schuldenbremse einführen.
In Japan wurde neulich die Mehrwertsteuer angehoben (wieder) um die Verschuldung zu verringern. Leider siehst es eher danach aus das der Konsum wieder zurückgeht und Japans Wirtschaftswachstum und Inflationserwartungen dadurch schwächeln und dadurch die Verschuldung in -% des BIP steigen könnte.

Falls die Staatsschulden interessieren gibt es eine Seite des Bundes der die Emission von Staatsanleihen erklärt und aufzeigt:
https://www.deutsche-finanzagentur.de/de/institutionelle-investoren/primaermarkt/auktionsergebnisse/
Am 20.11.2019 hat der Bund eine 30-jährige Anleihe aufgenommen mit einer Durchschnittrendite von 0,14% mit einem Emissionsvolumen 1,5 Milliarden.

Noch ein kleiner Punkt - Deutschland emittiert immer weniger Neuschulden. Versicherungen und andere finanzielle Institutionen die rechtlich dazu gezwungen sind Schuldtitel/Kredite/Anleihen von hoher Kreditwürdigkeit zu halten sind nicht in der Lage dies effektiv in Deutschland zu tun, da es diese im Inland immer weniger gibt.

MrSpock

Darüber hinaus werden die bereitgestellten Fördergelder nicht abgerufen. Einer der Gründe ist die unsägliche Bürokratie:

Zitat,,Der bürokratische Aufwand ist inzwischen so erheblich, dass viele Betriebe sich sagen, lohnt sich dieser Aufwand überhaupt? Man hat hinterher Verwendungsnachweise zu erbringen mit allen möglichen Originalbelegen und Rechnungen. Und dann gibt es Rückforderungen, weil die eine oder andere Formalie nicht erfüllt wurde. Die Betriebe sagen sich: warum soll ich das machen? Ich ärgere mich nur. Und das Geld, das ich bekomme, ist für mich unbefriedigend. Das ist in einigen Bereichen inzwischen weit verbreitet. Viele Fördermittel werden gar nicht in Anspruch genommen."

https://www.deutschlandfunk.de/investitionsstau-warum-foerdermittel-nicht-abgerufen-werden.769.de.html?dram:article_id=462798
Von allen Seelen, die mir begegnet sind auf meinen Reisen, war seine die menschlichste. (In Memoriam Groucho)

Zitat aus Star Trek II.

sailor

Naja, die Bürokratie und der Formalismus ist eine Folge der Erfahrungen mit dem "Aufbau Ost". Keiner in der Exekutive will wieder so mit der Giesskanne rangehen, genausowenig wie man die ganzen Projekte aus dem Aufbau Ost nachträglich gern durchleuchten würde... da ist nach meinem persönlichen Gefühl sehr viel Sprengstoff drin.

Verwendungsnachweise machen durchaus Sinn, genauso wie die Dokumentation. Aber es wird in der Regel alles doppelt erbracht: Bei der Planung muss dezidiert dargelegt werden, was man wie plant, mit Vorkalkulation auf Heller und Cent und im Nachklapp das Ganze nochmal mit den Originalrechnungen. Letzteres hat sich spätesteens mit der eRechnung erledigt, aber die Prüfstellen wollen das noch nicht wahrhaben.

Was ebenfalls negativ ist: Der Aufwand steht in keinem Verhältnis zum Nutzen, bzw. zu den Eigenleistungen, aber bei Fördergeldern schreien alle, die sich nicht damit auskennen "Hier!". Da wird schonmal für eine Förderung von unter 20% ein komplettes Sanierungs- und Neubauprojekt für ne Grundschule von der Politik aus dem Boden gestampft, bei Minushaushalt :(