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Was ist faul am Medizinstudium?

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Begonnen von Groucho, 10. März 2017, 18:15:26

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Groucho

Immer wieder gibt es massives Unverständnis, wie man denn als studierter Mediziner an Quackmethoden wie z.B. Homöopathie glauben kann trotz naturwissenschaftlicher Ausbildung.
Genau das fragt ein Kommentator, und Natalie Grams gibt darauf Antwort:

http://die-erde-ist-keine-scheibe.de/2017/03/10/was-hat-mich-ueberzeugt-mit-der-homoeopathie-aufzuhoeren/#comment-41

Erstaunlich ehrlich und nachvollziebar. Was stimmt am heutigen Studium nicht? Ist es das bulimische  Lernen (Telefonbuch auswendig lernen, nach der Prüfung vergessen)? Der Mangel an Wissenschaftstheorie, Verständnis von Statistik?

Ok, Grams gibt Antworten in die Richtung. Aber was muss man ändern? Muss man überhaupt was ändern? Noch mehr Stoff ins Studium packen kann ja auch nicht die Lösung sein.

Gamma

ZitatDas homöopathische ,,Wissen" wird als ,,so ist es" präsentiert, genauso wie das medizinische Wissen.

Wenn das so ist, gibt es zwei Möglichkeiten: Die Lehrenden wissen es auch nicht besser, oder sie wissen es besser und erzählen trotzdem Quatsch. Beides ist gruselig.

Peiresc

Frau Grams sagt:
ZitatAber leider besteht das Medizin-Studium, aufgrund der großen Fülle an zu Wissendem, vor allem aus Auswendiglernen und nicht aus Verstehen.
Das ist richtig, und das wird auch so bleiben müssen. Faktenwissen ist unverzichtbar.

ZitatNaturheilkunde und Homöopathie werden im Studium vorgestellt, es gibt Studentengruppen und Zusatzfortbildungen. Ich hatte während des Studiums wirklich das Gefühl, hier ginge es um eine akzeptierte Ergänzung des normalen medizinischen Wissens. Die Unvereinbarkeit der Grundsätze war mir damals nicht so augenscheinlich. Das homöopathische ,,Wissen" wird als ,,so ist es" präsentiert, genauso wie das medizinische Wissen. Welch krasser Unterschied in der Qualität des Wissens dabei vorhanden ist, ist mir erst bei der Recherche zum Buch aufgefallen.
Das ist ein wesentlicher Punkt. Mit einer Erweiterung des Statistik-Teils im Studium wird es kaum zu ändern sein. Die Wissenschaft muss in den Köpfen der Lehrenden verankert sein, sie müssen in den Lehrveranstaltungen das kritische Denken kultivieren. ,,Die XY-Studie sagt dies, aber aufgrund von Schwächen im Design muss man vermuten, dass ...". Ich hatte mal eine Innere-Vorlesung, in der der Prof (ich weiß seinen Namen noch) über 20 Minuten die Studienlage zur Prophylaxe der Gicht referiert hat. Sein letzter Satz war: ,,Das alles ist völliger Unsinn. Wenn eine Krankheit Symptome macht, kann man ja immer noch behandeln." – Ketzerisch. Mit der herrschenden Gesundheitsideologie unvereinbar.

Die Normalisierung der Quacksalberei als ,,integrative Medizin", das ,,Dialogforum Pluralismus in der Medizin"  oder die aufkommende ,,Spiritualität in der Medizin" tragen zur Entwaffnung des kritischen Geistes bei. Sie sind politisch gewollte Trends. Sie müssen marginalisiert und nicht integriert werden.

Rincewind

Ich denke auch, dass den Studenten (und auch vielen Anderen) klar gemacht werden muss, wie man Studien und deren Ergebnisse beurteilt und hinterfragt.
Möglicherweise wäre hier sogar mehr Praxis/Erfahrung wünschenswert.

Ansonsten ist ein weiterer Punkt die 'Akademisierung' der Homöopathie, also die ganzen Diskussionen in denen versucht wird Homöopathie mit wissenschaftlichen Mitteln zu plausibilisieren sowie die Untewanterung der Universitäten durch Homöopathie-Lobbyisten (s. Ringvorlesung an der LMU in München und gesponsorte Lehrstühle zu diesem Thema).

Natürlich darf das gute alte Motiv Geld nicht fehlen. Wenn ich nen Patienten abrechnen kann und ihm nach 5 Minuten was empfehle was für mich als Arzt in den meisten Fällen keine Risiken hat, ist das doch super, schafft ne Menge an freien Kapazitäten (sehr ganzheitlich). Und wenn sich das ganze nach ner Fortbildung (eher "Fortbildung") auch noch über ein Privatrezept abrechnen lässt ...

EDIT:
Ich möchte den Ärzten hier nicht unterstellen, dass Sie ihre Erträge über das Patientenwohl stellen, dass überlasse ich lieber den Kollegen bei den Impfgegnern.
Ich kann mir nur vorstellen, dass es durchaus seinen Reiz haben kann.

lanzelot

Da macht es sich die gute Frau Grams etwas einfach. Liest sich eher wie ein Versuch eines Erklärungsmodells für falsch Abbiegen.
Natürlich wird Naturheilkunde und Homöopathie vorgestellt. Aber es gibt schon in der Vorklinik auch reichlich Chemie, Biochemie, Physiologie...
Da muss man in 6 Jahren und 3 Monaten (incl. Blockpraktika, Famulaturen, PJ) schon oft nicht nachdenken oder aufpassen.

Wenn dann jemand, nach einem erfolgreich abgeschlossenen Medizinstudium, trotzdem noch in die Homöopathie wandert, wird er seine Gründe haben.
Die liegen gewiss nicht in der Qualität, Aufbau, Ablauf, Schwerpunkten eines Studiums.
Dieses ist ganz klar und unmissverständlich auf medizinisch-relevante Inhalte fokussiert. Egal was dam am Rande noch so präsentiert wird
Und es sind nun mal reichlich Inhalte. Daran ändern auch die vielen Modellierungen und Reformen nichts.

Die Breite und Tiefe alleine des Grundlagenwissens und des Grundverständnisses ist enorm und notwendig.
Auf Homöopathie könnte allerdings mangels Relevanz verzichtet werden, das wäre doch ein erster Schritt zur Entlastung und Straffung.

Ansonsten kann nichts davon kann ruhigen Gewissens weggelassen werden. Die Medizin ist im Wesen schon immer ganzheitlich, alles was die Alternativen so gerne für sich reklamieren.
Auch wenn ich dann nur in einem oder auch mancher auch zwei  Bereichen Facharzt bin. Basics und Grundlagen müssen für das ganze Paket vermittelt werden.
Zitat
ZitatFrau Grams sagt:
Zitat
Aber leider besteht das Medizin-Studium, aufgrund der großen Fülle an zu Wissendem, vor allem aus Auswendiglernen und nicht aus Verstehen.
Das ist richtig, und das wird auch so bleiben müssen. Faktenwissen ist unverzichtbar.
Absolut

Die Tatsache das Mediziner dann homöopathische Mittel oder Methoden anwenden hat in der Regel ökonomische Gründe.
Oder der Arzt versucht auf diese Weise den Patienten zu halten um Zugriff auf die Situation zu haben, wenn es denn ernst wird und tatsächlich wirksame Methoden indiziert sind.
Dazu wird es ihnen von den Kassen und auch von den eigenen Verbänden nicht einfach gemacht. Wie soll ein Mediziner das Betroffenen vermitteln?
Wenn die Ärztekammern schon so viele Jahre Ausbildungen anbieten und offizielle Zusatzbezeichnungen vergeben.
   
Und es gibt natürlich einige Mediziner, die den Pfad komplett verlassen und ihre eigenen Methoden und Geschäftsmodelle etablieren wollen.
Da gibt es dann überhaupt keine gemeinsame Ebene der Diskussion mehr.

Mit der Qualität und Quantität des Studiums hat das meines Erachtens herzlich wenig zu tun.

ZitatDie Normalisierung der Quacksalberei als ,,integrative Medizin", das ,,Dialogforum Pluralismus in der Medizin"  oder die aufkommende ,,Spiritualität in der Medizin" tragen zur Entwaffnung des kritischen Geistes bei. Sie sind politisch gewollte Trends. Sie müssen marginalisiert und nicht integriert werden.
Perfekt formuliert. :2thumbs:

Scipio

Ich würde zum Thema Medizinstudium gerne mal eine Frage los werden, wenn das Thema hier schon auf dem Tisch liegt.

Für nahe zu allen (Human-)Medizinstudiengängen an den Universitäten etc. wird ein Abiturschnitt von 1.2-1.0 gefordert. Da stellt sich mir doch die Frage, ob es in Deutschland genügend Abiturienten mit diesem Schnitt gibt um die Studiengänge in ausreichender Teilnehmerzahl zu belegen? Ich gehe mal davon aus, dass sich da nicht nur 1er-Kandidaten tummeln, sonder auch eine Auswahl weniger guter Abiturienten die über die Wartesemester reingekommen sind.

RächerDerVerderbten

Zitat von: Scipio am 12. März 2017, 10:26:31
Ich gehe mal davon aus, dass sich da nicht nur 1er-Kandidaten tummeln, sonder auch eine Auswahl weniger guter Abiturienten die über die Wartesemester reingekommen sind.

Warum nicht, soll tatsächlich welche geben, die nutzen die Wartesemester, und lernen erst mal Krankenpfleger, Physiotherapeut, Sanitäter, mit soner Motivation, und der Erfahrung dürften sie etlichen Karrieristen sogar was voraus haben.
If the only thing keeping a person decent is the expectation of divine reward, brother, that person is a piece of shit. Rusty Cohle

Scipio

Zitat von: RächerDerVerderbten am 12. März 2017, 10:34:13
Zitat von: Scipio am 12. März 2017, 10:26:31
Ich gehe mal davon aus, dass sich da nicht nur 1er-Kandidaten tummeln, sonder auch eine Auswahl weniger guter Abiturienten die über die Wartesemester reingekommen sind.

Warum nicht, soll tatsächlich welche geben, die nutzen die Wartesemester, und lernen erst mal Krankenpfleger, Physiotherapeut, Sanitäter, mit soner Motivation, und der Erfahrung dürften sie etlichen Karrieristen sogar was voraus haben.
Stimmt, dass erwerben praktischer Erfahrung und die sich daraus ergebenden Vorteile hatte ich gar nicht auf dem Schirm. Das hätte mir als Ingenieur auch gut getan! Ich war leider so naiv mich direkt an der Uni einzuschreiben. Diese Entscheidung würde ich, mit den Erfahrungen die ich gemacht habe, heute anders treffen.

Tezcatlipoca

Zitat von: Groucho am 10. März 2017, 18:15:26
Was stimmt am heutigen Studium nicht? Ist es das bulimische  Lernen (Telefonbuch auswendig lernen, nach der Prüfung vergessen)? Der Mangel an Wissenschaftstheorie, Verständnis von Statistik?
Aber was muss man ändern? Muss man überhaupt was ändern? Noch mehr Stoff ins Studium packen kann ja auch nicht die Lösung sein.
Du weißt doch:
Drück einem Medizinstudenten das Telefonbuch von Berlin in die Hand, und er wird fragen: "bis wann"?  ::)

Richard Feynman hat in einem seiner Bücher (sehr zu empfehlen!) einen Besuch an einer südamerikanischen Universität geschildert. Er unterhielt sich mit Physikstudenten und musste feststellen, dass die zwar alles wussten, aber nichts begriffen hatten. Stures Auswendiglernen...

Oder dieser türkische Junge, der den kompletten Koran auf Arabisch auswendig konnte. Enorme Gedächtnisleistung...  Aber der Knabe kann nicht Arabisch und versteht daher kein einziges Wort von dem, was er da gespeichert hat. Sinnlos wie sonst was. >:(

Ich kann 7000 chemische Reaktionen stur auswendig lernen. Dann habe ich 7000 Schemata im Kopf, und wenn ich auf eine Reaktion stoße, die genau auf eine auswendig Gelernte passt, dann kann ich sie identifizieren. Wenn nicht, dann nicht.
Wenn ich aber stattdessen begriffen habe, nach welchen Prinzipien Reaktionen ablaufen (das sind nur ein paar Handvoll), dann kann ich beliebige chemische Abläufe klären, ohne jede Variation lernen zu müssen. So halte ich das. Aus purer Faulheit...   :laugh:

Also:
Den Lernenden muss das Begreifen beigebracht werden. Dazu muss der Lehrer aber selbst begriffen haben, was er da von sich gibt. Und da hängt es leider immer wieder...
Gruß, T.


Nichts, was ein Mensch sich auszudenken in der Lage ist, kann so unwahrscheinlich, unlogisch oder hirnrissig sein, als dass es nicht doch ein anderer Mensch für bare Münze halten und diese vermeintliche Wahrheit notfalls mit allen ihm zur Verfügung stehenden Mitteln verteidigen wird.

Gefährliche Bohnen

Zitat von: Scipio am 12. März 2017, 10:26:31
Ich würde zum Thema Medizinstudium gerne mal eine Frage los werden, wenn das Thema hier schon auf dem Tisch liegt.

Für nahe zu allen (Human-)Medizinstudiengängen an den Universitäten etc. wird ein Abiturschnitt von 1.2-1.0 gefordert. Da stellt sich mir doch die Frage, ob es in Deutschland genügend Abiturienten mit diesem Schnitt gibt um die Studiengänge in ausreichender Teilnehmerzahl zu belegen? Ich gehe mal davon aus, dass sich da nicht nur 1er-Kandidaten tummeln, sonder auch eine Auswahl weniger guter Abiturienten die über die Wartesemester reingekommen sind.

Andersherum wird ein Schuh draus. Der NC ist kein künstlich festgelegter Wert. Es gibt eine bestimmte Anzahl von Studienplätzen (genauer: ein bestimmter Prozentsatz der zur Verfügung stehenden Studienplätze) und die werden aufgefüllt, und zwar zuerst mit den 1,0-Kandidaten, dann die 1,1-Kandidaten usw.
Der restliche (deutlich kleinere) Prozentsatz wird dann mit Wartekandidaten und per Los besetzt.

Deshalb ist es ja auch Quatsch zu sagen, man setzt den NC hoch.
Der NC ergibt sich durch Angebot und Nachfrage.
"Ich muss an dieser Stelle gestehen: Ich mag Karpfen gar nicht." - Groucho
RIP

eLender

Zitat von: Tezcatlipoca am 12. März 2017, 13:16:00
Drück einem Medizinstudenten das Telefonbuch von Berlin in die Hand, und er wird fragen: "bis wann"?  ::)

Da hätte ich auch noch ein Geschichtchen :grins

Der Physikprof erzählte mal aus dem Nähkästchen: Frage an den Medizinstudenten: Nennen sie mir bitte mal das Ohm'sche Gesetzt. Medi: Welches der drei?

(soll ich das noch erklären..?)
Wollte ich nur mal gesagt haben!

Peiresc

Zitat von: Tezcatlipoca am 12. März 2017, 13:16:00
Den Lernenden muss das Begreifen beigebracht werden.

Ich stelle mal hier die Antithese dar (natürlich ist Durchblick auch ein Wert an sich, der hilft, Nonsens zu vermeiden). Das klingt intuitiv, löst aber das Problem nicht. Das geht nicht ganz auf. Die Denkweise eines Klinikers ist anders. Wichtiger als die Symptome zu erklären ist, sie nicht zu verkennen. Wichtiger als die Nebenwirkungen - vielleicht noch im Nachhinein - abzuleiten ist, sie parat zu haben; und zwar genau in dem Moment, in dem man ein Medikament verabreicht/verordnet. Pathogenese von Symptomen oder Wirkungsmechanismus von Arzneimitteln sind geeignet, sie zu behalten, einfacher wieder abzurufen und gewähren ein Gefühl der intellektuellen Befriedigung; ansonsten sind sie Gimmicks, nice-to-have; nur manchmal wichtig.

Die pathogenetischen Vorstellungen über Erkrankungen sind stark im Fluss. Die Schemata und Blockbilder von vor 10 Jahren haben keine Ähnlichkeit mit den heutigen. Im täglichen Leben werden Wirkungsmechanismen von den Werbe-Abteilungen Industrie instrumentalisiert (,,Dualer Wirkungsmechanismus" – soll heißen: hilft doppelt so gut).

Medizin ist auch Handwerk. Ferdinand Schirach hat irgendwo formuliert: in Krimis geht es immer um die Motive zu Straftaten. Für den Staatsanwalt ist das aber völlig zweitrangig. Wichtig sind allein Indizien und Beweise.

Dunkelzahn

"Was ist der pH-Wert?"
"Der negative dekadische Logarithmus der Ionenkonzentration".
"Ja, und was ist das?"
"Uh,  der negative dekadische Logarithmus der Ionenkonzentration?"
"Ja, erklären Sie mir das"
"Es ist der negative dekadische Logarithmus der Ionenkonzentration".
...

Die Studentin war am Ende ziemlich verärgert, weil sie ja die korrekte Anwort mehrfach gegeben hat und trotzdem ständig dumm nachgefragt wurde. Sie hat nicht einmal nach Erklärung verstanden, warum die Antwort nicht ausreichend war.

eLender

Zitat von: Dunkelzahn am 12. März 2017, 14:01:38
"Es ist der negative dekadische Logarithmus der Ionenkonzentration".

Ich hätte ja noch nachgefragt: Welcher Ionen?

(wie jetzt, da gibt es unterschiedliche :o)
Wollte ich nur mal gesagt haben!

Peiresc

Ist der rote Fleck da am Unterschenkel, der seit gestern da ist und furchtbar juckt, ein Arzneimittelexanthem? Ja/Nein/vielleicht. Ist es gefährlich (wird gar ein Lyell-Syndrom draus, jeder Absolvent kennt die schrecklichen Bilder und Geschichten), oder reicht Prednison-Salbe? Medikament absetzen, sicherheitshalber. Aber welches der 6 Medikamente, die der Patient einnimmt, ist am ehesten verantwortlich?

Oder ist es vielleicht ein beginnendes Erysipel?