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postfaktisch

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Begonnen von Groucho, 03. Dezember 2016, 12:52:50

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Groucho

Das neue Modewort "postfaktisch" scheint einen Nerv zu treffen. Vielleicht ist eine Diskussion darüber sinnvoll. Ich bin ja eher Jörg Wipplingers Meinung, dass das alles Quatsch ist: Es gab nie ein "faktisches" Zeitalter. Das, was man damit benennen möchte, ist eigentlich etwas ganz anderes.

Ein m.M. guter Ansatz von Andrea Schaffar:

http://scienceblogs.de/sociokommunikativ/2016/12/02/postfaktische-filterblasen/?all=1

ZitatFazit: Wir leben in keinem postfaktischen Zeitalter. Wir waren niemals in einem faktischen. Das nicht-faktische wird inzwischen einfach sichtbarer und die adäquaten Strategien um damit umzugehen, wurden noch nicht entwickelt.

Was den Menschen auszeichnet als Besonderheit, mag das sein, was Popper "die dritte Welt" genannt hat - das umfangreiche Weitergeben bisheriger Erkenntnissen bzw die Fähigkeit dazu, was man dann Kommunikation nennt. Mit dem Netz hat sich nicht der Mensch geändert, sondern seine Möglichkeiten. Wir spielen gerade mit einem Werkzeug rum, dessen Mächtigkeit wir noch gar nicht einschätzen können, gleichzeitig aber die Schlüsselkompetenz des Menschen massiv in andere Bahnen lenkt. Es ist gerade eine Art pubertärer Phase, die ein typisches Merkmal für Pubertierende eben auch durchzieht, das Verweigern der Einsicht in eigene Fehlerhaftigkeit und Gefährlichkeit seines Tuns.

Mag wer weiter spekulieren?

celsus

Das mag ein Teil der Geschichte sein, sehe ich auch so.

Aufklärung und Gegenaufklärung sind immer im Wechsel "modern". Die letzten Jahrzehnte, eigentlich die letzten 100 Jahre, haben eine Menge Entzauberung mit sich gebracht. Immer mehr scheinbare Mysterien wurden erklärbar, aber die Erklärungen wurden natürlich auch oft verworfen und durch bessere oder sogar gegensätzliche Erklärungen ersetzt. Wer jetzt nicht gerade ein besonderes Interesse für die wissenschaftliche Methode entwickelt, sieht darin Beliebigkeit und sucht sich einen anderen Halt.

Religion bietet diesen Halt bei uns immer weniger. Scharlatanerie, Quacksalberei und Esoterik haben zumindest etwas im Angebot, das man kaufen kann, um sich daran festzuhalten.  Das ist attraktiv.

Dann kommt dazu, dass naturwissenschaftliche Bildung in der Schule weit hinter ihren Möglichkeiten und Notwendigkeiten hinterher hinkt. Da hätte es schon vor 50 Jahren eine riesige, bundesweite Initiative geben müssen. Stattdessen Unterrichtsausfall, Schnellabitur und Bachelor.

Es gibt aber noch viel mehr "postfaktische" Aspekte in der Gesellschaft. Politik wird - zumindest gefühlt - immer schwerfälliger und immer schwerer beeiflussbar. Das Internet bietet eine Menge an Gegenmeinungen zum gesellschaftlichen Konsens, der in der klassischen Presse kaum abgebildet wird. Das führt zu der Auffassung, dass Presse und Rundfunk etwas verschweigen, anstatt nur Sinn von Unsinn zu trennen.

Also, Internet alleine reicht sicher nicht als Erklärung. Höchstens als Verstärker, ein wenig. Und vielleicht als Verteiler, so dass regionale und nationale Ausprägungen sich eher als globaler Trend äußern.

Wenn man mal über den Industrieländer-Tellerrand schaut, sieht es sowieso düster aus. Da ist die Realität eher präfaktisch statt postfaktisch. Interessant sind solche Mischungen wie etwa in Südafrika, wo das Spektrum von medizinischen Höchststandards bis zu den Medizinmann-'Apotheken' mit getrockneten Pavianpenissen auf engstem Raum nebeneinander existiert, ohne dass das als Widerspruch wahrgenommen wird.
The best thing about science is that it works - even if you don't believe in it.

eLender

Postfaktisch ist eigentlich nur ein anderes Wort für postmodern, nur das es eben negativ belegt ist. In der Postmoderne gibt es eigentlich keine Fakten (objektiv feststellbare Tatsachen) bzw. absolute Wahrheiten. "Anything goes" (wie man es postmodern deutet) sagt genau das: "Fakten" sind nur sozial konstruierte Ideen, auf die man sich sozusagen geeinigt hat. Einigen im doppelten Sinn. Es einigt bestimmte soziale Gruppen (z.B. Reichsbürger) in einer einheitlichen Vorstellung von Realität. An sich nichts neues, nur scheint es historisch Phasen zu geben, in denen das stärker ausgeprägt ist und plötzlich als Problem erkannt wird. Natürlich sind immer die Ansichten der Anderen das Problem, nicht meine Weltsicht.

Hinweis: Da wir im Dorozän leben, ist oben Gesagtes natürlich genauso richtig wie falsch. Ist nur richtig für Menschen, die das genauso sehen ;)
Wollte ich nur mal gesagt haben!

Sauropode

Postfaktisch empfinde ich als eine Art Kampfbegriff. Damit kann man wunderbar die Sachebene verlassen. Deswegen mag ich diesen Begriff nicht.

RächerDerVerderbten

Zitat von: Sauropode am 03. Dezember 2016, 17:19:20
Deswegen mag ich diesen Begriff nicht.

Ich hab ihn kurzzeitig geliebt. Auf einmal schien die Welt wieder etwas übersichtlicher (die ganzen Postfaktiker und ich). Aber laßt es uns wieder verfitzen. 8)
If the only thing keeping a person decent is the expectation of divine reward, brother, that person is a piece of shit. Rusty Cohle

Scipio

Ich halte es da auch eher mit Jörg Wipplinger. Dennoch finde ich die Entwicklung in der Politik beunruhigend.

Omikronn

Ich denke Andrea Schaffar bringt es gut auf den Punkt. Wir nehmen einfach nur mehr wahr und stehen mit komplett neuen Möglichkeiten da mit denen wir aber insgesamt noch umgehen lernen müssen.

Das ganze ist aus meiner Sicht ein Lernprozess und bis kollektiv ein gewisses Erfahrungslevel oder besser ausgedrückt die Entwicklungen eine gewisse normalität in der gesellschaftlichen Wahrnehmung erreichen, wird es halt entsprechende Auswüchse geben.

Don't try to argue with idiots, first they tear you down to their level, then they beat you with their experience.

Groucho

Sorry, meine Inkompetenz, ein Thema tatsächlich rüber zu bringen, vom Adler zu sprechen, obwohl man Federn meint, ... blöd irgendwie.

Zitat von: Groucho am 03. Dezember 2016, 12:52:50
Wir spielen gerade mit einem Werkzeug rum, dessen Mächtigkeit wir noch gar nicht einschätzen können, gleichzeitig aber die Schlüsselkompetenz des Menschen massiv in andere Bahnen lenkt.

Bestätigt sich ja gerade. Auch sorry für den Zynismus.  Bis auf den letzen Kommentar ging alles, obwohl geistreich, völlig am Thema vorbei. Ich suche dieses Unvermögen erst mal bei mir selbst.

celsus

Zitat von: RächerDerVerderbten am 03. Dezember 2016, 17:39:47
Ich hab ihn kurzzeitig geliebt. Auf einmal schien die Welt wieder etwas übersichtlicher (die ganzen Postfaktiker und ich). Aber laßt es uns wieder verfitzen. 8)

Genau mein Gedanke.
The best thing about science is that it works - even if you don't believe in it.

Peiresc

Auch ich glaube eher, dass es sich um ein neues Erscheinungsbild eines alten Phänomens handelt.

Köbberling und Seifert schreiben über ,,Die Argumentationsstrukturen von Anhängern paramedizinischer Verfahren" (Abstract hier, Kurzfassung hier):
ZitatGrundlage für diese Analyse sind die Leserbriefe, die als Reaktion auf einen in der Wochenzeitung ,,DIE ZEIT'' am 25. April 1997 erschienen Artikel ,,Trug der Sanften Medizin'' bei der Redaktion oder beim Autor eingegangen sind. Dieser Artikel stellte eine leicht gekürzte Fassung der Präsidentenrede von Johannes Köbberling bei der Eröffnungsveranstaltung des 103. Kongresses der Deutschen Gesellschaft für Innere Medizin dar [2]. Der Titel des Vortrages, ,,Der Wissenschaft verpflichtet'', war für die Zeitschriftenfassung leider in populistischer Richtung verändert worden.
Die wenigen Zuschriften (n=14), in denen eine Zustimmung zu den in dem Vortrag geäußerten Thesen signalisiert wird, werden für die vorliegende Analyse nicht berücksichtigt. Es verbleiben 107 Briefe, die dieser Analyse zugrunde liegen.
[...]
Bemerkenswert ist, wie stark diese einseitigen Meinungsäußerungen oder Repliken emotional geprägt sind. Dies gilt auch für Briefe, die erkennbar von Akademikern oder anderen Intellektuellen stammen. Auffallend ist, dass rund ein Drittel der kritischen bzw. ablehnenden Zuschriften von Autoren stammen, die eindeutig der Berufsgruppe der Mediziner angehören.
(meine Hervorhebung)

eLender

Zitat von: Peiresc am 04. Dezember 2016, 15:15:34
Auch ich glaube eher, dass es sich um ein neues Erscheinungsbild eines alten Phänomens handelt.
:prosit

Schillipaeppa hat übrigens einen postfaktischen Adventkalender. Ersetzt man das Wort "postfaktisch" durch "die Fakten ignorierend" wird so manches vll. auch klarer.

ZitatGestern trudelte die alljährliche Spendentüte von Brot für die Welt, dem Hilfswerks der evangelischen Kirchen, bei uns ein. Diese Tüte wird leer bleiben. Das liegt unter anderem daran, dass Brot für die Welt einen aus meiner Sicht postfaktischen Ansatz bei der Hilfe zur Selbsthilfe für Menschen in Entwicklungsländern verfolgt.
https://schillipaeppa.net/2016/12/03/postfaktischer-adventskalender-teil-4-satt-ist-nicht-genug/
Wollte ich nur mal gesagt haben!

eLender

Passt hier gut rein:

ZitatDie Mondlandung war gefälscht, der Islam übernimmt Deutschland, und Barack Obama ist kein Amerikaner? Der Glaube an Verschwörungstheorien wächst und gewinnt auch politisch an Einfluss: Ein Gespräch mit dem Amerikanisten Michael Butter
http://www.zeit.de/2016/48/verschwoerungstheorien-populismus-einfluss-politik

Wenn man dem Wort eine Existenzberechtigung zugestehen will, dann nur so. Neu ist das ganze nicht, aber wenn das Filterblasensyndrom langsam so eine Bedeutung gewinnt, dass damit Wahlen uns sonstige wichtige politische Entscheidungen entschieden werden, dann kann man vll. von einem (neuen) Zeitalter sprechen. Manche meinen ja, es hätte mit dem Brexit begonnen.
Wollte ich nur mal gesagt haben!

eLender

Es ist jetzt wissenschaftlich bewiesen und amtlich bestätigt, dass das Wort "postfaktisch" das postfaktischste Wort seit dem faktischen Zeitalter ist. Hörtmanso.

Zitat"Postfaktisch": wenn die gefühlte Wahrheit wichtiger ist als die auf Fakten basierende. Ein Begriff, der das Jahr 2016 geprägt hat - und nun von der Gesellschaft für deutsche Sprache zum Wort des Jahres gekürt wurde.
https://www.tagesschau.de/inland/wort-des-jahres-101.html
Wollte ich nur mal gesagt haben!

Peiresc

Fakten, Wahrheit, so was Altmodisches, an so was glauben nur Loser. Erfolg sieht anders aus.
ZitatOther Trump surrogates, like Scottie Nell Hughes, openly embrace Trump's role as the first president operating in a post-factual world.
"There's no such thing, unfortunately, anymore of facts," Hughes said recently on The Diane Rehm Show. "And so Mr. Trump's tweets, amongst a certain crowd, a large — a large part of the population, are truth."
http://www.npr.org/2016/12/12/505205197/is-donald-trump-a-threat-to-democracy
Man hat nicht das Gefühl, dass Scottie da wirklich unglücklich drüber ist, sondern man stellt sich da eher ein zufriedenes Lächeln vor. Auch sagt Karl Rove dazu: wenn man sich darüber aufregt, dann ist das
Zitatnothing more than left-wing hyperventilation.

Typee

Zitat von: Peiresc am 12. Dezember 2016, 22:12:32
ZitatOther Trump surrogates, like Scottie Nell Hughes, openly embrace Trump's role as the first president operating in a post-factual world.
"There's no such thing, unfortunately, anymore of facts," Hughes said recently on The Diane Rehm Show. "And so Mr. Trump's tweets, amongst a certain crowd, a large — a large part of the population, are truth."
http://www.npr.org/2016/12/12/505205197/is-donald-trump-a-threat-to-democracy
Man hat nicht das Gefühl, dass Scottie da wirklich unglücklich drüber ist, sondern man stellt sich da eher ein zufriedenes Lächeln vor. Auch sagt Karl Rove dazu: wenn man sich darüber aufregt, dann ist das
Zitatnothing more than left-wing hyperventilation.


Wenn zwischen kreierten "Wahrheiten" und Realitäten ein Unterschied besteht, dann ist das eine Differenz. Eine Differenz ist ein offenes Konto. Ein offenes Konto lässt sich in der Form einer Rechnung ausdrücken. Rechnungen haben einen Zahltag:aetsch:
The universe is under NO obligation to make sense to us
(Neil deGrasse Tyson)