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Epochales Scheitern

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Begonnen von Typee, 27. August 2015, 08:32:22

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Typee

Zitat von: Groucho am 28. August 2015, 20:40:49
Zitat von: sumo am 28. August 2015, 20:20:40
@Groucho, Dein Zitat erinnert mich an die Kritiker moderner Kunst:
http://www.amazon.de/Picasso-Scharlatan-Randbemerkungen-modernen-Kunst/dp/3784421024/ref=sr_1_1?s=books&ie=UTF8&qid=1440789606&sr=1-1&keywords=picasso+war+kein+scharlatan

Wobei ich da Kishon für einen gnadenlosen Ignoranten halte  ;D

Oh ja, ganz recht. Aber etwas mehr Problembewusstsein hinsichtlich der überall drohenden Beliebigkeit wäre innerhalb der Szene auch nicht schlecht.
The universe is under NO obligation to make sense to us
(Neil deGrasse Tyson)

Groucho

Zitat von: Typee am 28. August 2015, 21:13:23
Oh ja, ganz recht. Aber etwas mehr Problembewusstsein hinsichtlich der überall drohenden Beliebigkeit wäre innerhalb der Szene auch nicht schlecht.

Mit Sicherheit. Die alten Modernen konnten das Handwerk im klassischen Sinne. Sie wollten nur was Anderes. Moderne Moderne können das Handwerk oft noch nicht mal und können nicht anders. Es ist verzwickt und Problembewusstsein tatsächlich Mangelware.

Ladislav Pelc

Einerseits finde ich Le Corbusiers "Kreationen" auch ausnehmend hässlich. Und sie sind teilweise offensichtlich an der Benutzbarkeit vorbei geplant. (Ja, man kann darin wohnen. Aber man will irgendwie nicht wirklich.) Ich habe ein bisschen den Eindruck, dass manche Architekten (und je berühmter, desto größer ist die Wahrscheinlichkeit) sich in erster Linie als Künstler sehen, und infolge dessen aus den Augen verlieren, dass jemand in diesen Gebäuden wohnen (oder sie sonst ihrem Zweck entsprechend nutzen) will. Bei anderen Künstlern erwartet man ja auch nicht, dass die Kunstwerke irgendwie benutzbar sind, aber bei Architekten erwarten die Leute, auch noch darin wohnen zu können ... Sicher lassen sich solche Architekten gerne lang und breit über den vermeintlichen Alltag der künftigen Bewohner usw. aus. Aber das sind doch meist eher abstrakte Konzepte. Was kann Le Corbusier dafür, dass die Bewohner nicht sein Konzept des "Modulor-Menschen" erfüllen, der sich am liebsten im Räumlichkeiten mit exakt 2,26 m Höhe und 1,83 m Breite aufhalten? Sollen die Bewohner doch froh sein, wenn sie die Ehre haben, mit dem Akt des Bewohnens dem Kunstwerk auch noch einen Aspekt der Performance abzugewinnen, und nicht banale Forderungen wie die nach einem gemütlichen Zuhause stellen. Dafür täte es schließlich auch ein Fertighaus von der Stange.

Mir fällt da das Haus "Fallwater" vom Architekten Frank Lloyd Wright ein. Sein Kunde, ein gewisser Herr Kaufmann, beauftragte ihn ursprünglich, ein Haus mit Blick auf einen Wasserfall zu errichten. Das war natürlich deutlich zu banal, also bequatschte er ihn, das Haus doch lieber direkt auf den Wasserfall zu stellen. Damit wählte er nicht nur zielsicher den Punkt, von dem aus man den Wasserfall garantiert nicht sehen konnte, sondern ruinierte auch noch den von seinem Auftraggeber so geschätzten Anblick des Wasserfalls. Oder wie er sich ausdrückte:  "Ich möchte, dass Sie mit dem Wasserfall leben, nicht, dass Sie ihn bloß anschauen. Er soll Bestandteil Ihres Lebens werden." Sowas ist Kunst!

Ein solcher Künstler lässt sich natürlich nicht von so langweiligen Dingen sie Statik einschränken:

Zitat von: https://de.wikipedia.org/wiki/FallingwaterDer Baukörper von Fallingwater weist eine Anzahl auskragender Balkone aus Stahlbeton auf, die von Anfang an Probleme verursachten. Vor allem bei den Balkonen vor dem Wohnraum und im ersten Geschoss fielen noch während der Bauzeit deutliche Absenkungen auf. Nachforschungen aus Anlass der im Jahre 2002 vollendeten Restaurierungsarbeiten ergaben, dass die ursprünglichen statischen Berechnungen unzureichend und im Ergebnis die Bewehrung so stark unterdimensioniert war, dass die Balkone noch nicht einmal ihr eigenes Gewicht hätten tragen können. Der Bauunternehmer, selbst Ingenieur, empfahl nach eigenen Berechnungen, die Bewehrung zu verstärken. Der Vorschlag wurde jedoch von Wright zurückgewiesen und Kaufmann folgte seinem Rat. Trotzdem verdoppelte der Bauunternehmer im Stillen die Menge an Bewehrungsstahl, was zwar immer noch nicht genügte, wahrscheinlich aber den Bau vor dem Einsturz bewahrte.

(Schrecklich, diese Banausen von Bauingenieuren, die den Architekten heimlich die beeindruckende Ästhetik einstürzender Balkone ruinieren! Aber womöglich hätte der gute Herr Kaufmann eh nicht das nötige Kunstverständnis besessen, um das nachvollziehen zu können.)

Dass das Haus aufgrund des leicht suboptimalen Bauplatzes zudem feucht und von Schimmel befallen ist, ist da eigentlich gar nicht mehr erwähnenswert.

Aber andererseits denke ich, das die Architektur wie die Mode starken zeitlichen Änderungen unterworfen ist. Was heute in ist und als schön gilt, ist schon morgen out und gilt als hässlich. Sicher, Le Corbusier ist ein Extrembeispiel. Aber ich kann mir nicht vorstellen, dass man vor einigen Jahrzehnten graue, unförmige Betonklötze in die Gegend klatschte, möglichst noch in die Altstadt oder an sonstige Stellen, wo sie so gar nicht hin passen (Beispiele dafür gibt es ja genug), weil man das so hässlich fand. Sicher, bei Plattenbauten etc. ging es vor allem darum, dass sie schnell und wirtschaftlich zu errichten waren. Aber im allgemeinen empfand man die schlichte, schnörkellose Beton-Optik als modern, und konnte sich vermutlich gar nicht vorstellen, das künftige Generationen das nicht ebenso sehen würden. Womöglich fand man sogar die Platzierung in der Altstadt als interessanten Kontrast oder so.

Der Geschmack wandelt sich eben. Nur gibt es bei der Architektur das Problem, dass so ein Gebäude recht lange hält und daher auch noch dann steht, wenn es längst aus der Mode gekommen ist. Und ein Gebäude nur deswegen abzureißen und durch einen Neubau zu ersetzen, weil es nicht mehr dem Zeitgeschmack entspricht, verbietet sich in aller Regel angesichts der damit verbundenen Kosten.

Das hat durchaus Vorteile. Viele Altbauten, die wir heute wieder als schön empfinden, wären sonst sicherlich zwischenzeitlich als unmodern entsorgt werden. Aber es führt halt auch dazu, dass wir auf absehbare Zeit mit grauen Betonklötzen werden leben müssen. Und wer weiß, vielleicht kommen die ja irgendwann wieder in Mode. (Aber hoffentlich nicht zu meinen Lebzeiten, denn ich kann mir schwer vorstellen, mich irgendwann damit anzufreunden, in einem Modulator-Klotz á la Le Corbusier zu leben.)

Aber vielleicht geht der Trend ja auch in eine ganz andere Richtung. Negativ-Architektur wäre doch mal was: Statt das Gebäude zur Landschaft hinzuzufügen, wird alles entfernt, was kein Gebäude ist. Das würde gewissermaßen eine Brücke schlagen zu der Zeit, wo wir noch in Höhlen hausten. Und es gibt unbestritten schon sehr ansprechende Beispiele: https://de.wikipedia.org/wiki/Salzbergwerk_Wieliczka ;D

pelacani

Zitat von: Ladislav Pelc am 29. August 2015, 15:19:01
Ein solcher Künstler lässt sich natürlich nicht von so langweiligen Dingen sie Statik einschränken:
[...]
(Schrecklich, diese Banausen von Bauingenieuren [...])
Auch das ist überhaupt keine Neuigkeit. Der geniale Bernini, der Baumeister des barocken Roms, setzte zwei Türme auf die Fassade des Petersdoms. Anschließend zeigten sich in der Fassade bedrohliche Risse. Der kleinkarierte, miesepetrige Borromini, der zwar im Gegensatz zu Bernini das Handwerk von der Pieke auf gelernt hatte, aber dennoch der ewige Zweite war, hätte ihm gleich sagen können, dass das schief gehen wird. Aber er war den Päpsten nicht großartig genug.

Groucho

Zitat von: Ladislav Pelc am 29. August 2015, 15:19:01
Ein solcher Künstler lässt sich natürlich nicht von so langweiligen Dingen sie Statik einschränken:

"Was, Schwerkraft? Ich bin Architekt!"

forenschlaefer

ich erinner mich noch mit Grausen an den Kunstunterricht in der Oberstufe, da wurden diesen Plattenbauten, pardon unité d'habitation, in Marseilles als großes Meisterwerk gefeiert und das Scheitern der Plattenbauten in Berlin damit begründet, dass Le Corbusiers zu viele Kompromisse wie wegen der Deckenhöhe eingehen musste sowie die Bewohner aus niedrigeren sozialen Milieus kamen. War grausam.

Belbo

Ich dachte die Bewohner der unité d'habitation in Marseille würden sich da äusserst wohl fühlen, wahrscheinlich bin ich nicht mehr auf dem neusten Stand.

Corbusiers grösstes Problem war wohl dass er ein Ideologe seines eigenen Genies und eines befremdlichen menschenverachtenden Kollektivismus war, zusammen mit einem Mangel an Kenntnissen in Bauphysik und dem so noch nicht verwendeten Baustoff Beton keine gute Mischung.

Was nichts an der Grossartigkeit einiger seiner Bauten und Architekturkonzepte ändert.

Groucho

Zitat von: Belbo am 30. August 2015, 15:24:09
Was nichts an der Grossartigkeit einiger seiner Bauten und Architekturkonzepte ändert.

Sicher nicht. Apropos Hässlichkeit:

RächerDerVerderbten

Zitat von: Groucho am 30. August 2015, 15:38:44
Apropos Hässlichkeit:

Wollt ich grade fragen, was haltet ihr eigentlich von des Meister Goetheanum? ;D

Finds eigentlich gar nicht schlecht, von jeder Seite was anderes, und wenn noch die Sonne draufscheint...

Ich kann Architektenleistungen nun nicht wirklich einschätzen, aber das is zumindest schon was anderes, als son oller Quader, die Handwerker werden gut geflucht haben.

https://de.wikipedia.org/wiki/Goetheanum
If the only thing keeping a person decent is the expectation of divine reward, brother, that person is a piece of shit. Rusty Cohle

Sauropode

Da fällt mir spontan Stephen Kings Rose Red ein.

Nicht_Peter

Die Architektur des Goetheanums selbst soll es wie einen esoterischen Tempel wirken lassen. Durch die vielen Wölbungen und den exponierten Standort ist das recht gut gelungen. Ob es deshalb schön ist- na ja.

Btw: Auch ein schlichter Würfel muss nicht unbedingt hässlich sein. Das hier wäre ein schönes Gegenbeispiel: https://de.wikipedia.org/wiki/Zollverein-Kubus

RächerDerVerderbten

Zitat von: Nicht_Peter am 30. August 2015, 16:23:23
Die Architektur des Goetheanums selbst soll es wie einen esoterischen Tempel wirken lassen.

Es wird wohl noch stehn, wenn die Anthros längst pleite gegangen sind, da kann man bestimmt auch ne Oper oder ne Uni draus machen.

ZitatBtw: Auch ein schlichter Würfel muss nicht unbedingt hässlich sein. Das hier wäre ein schönes Gegenbeispiel: https://de.wikipedia.org/wiki/Zollverein-Kubus

Vielleicht isses ja innen ganz eindrucksvoll, aber wenn ich die Fassade in 5 min mit Lineal auf Kästchenpapier nachzeichnen kann, versteh ich nicht, was daran "architektonisch innovativ" sein soll.

Hat sich vorher außer Bunkerbauern diesen "Würfel mit quadratischen-Schießscharten"-Minimalismus keiner getraut?
If the only thing keeping a person decent is the expectation of divine reward, brother, that person is a piece of shit. Rusty Cohle

Nicht_Peter

Zitat von: RächerDerVerderbten am 30. August 2015, 17:18:06
Vielleicht isses ja innen ganz eindrucksvoll, aber wenn ich die Fassade in 5 min mit Lineal auf Kästchenpapier nachzeichnen kann, versteh ich nicht, was daran "architektonisch innovativ" sein soll.
Gerade das ist ja das Schöne am Minimalismus: Man reduziert das Design auf wenige, einfache Formen herunter. So eine Schlichtheit finde ich persönlich wesentlich ästhetischer als den Dekonstruktivismus etwa beim berühmten Konzerthaus in Los Angeles.
Zitat
Hat sich vorher außer Bunkerbauern diesen "Würfel mit quadratischen-Schießscharten"-Minimalismus keiner getraut?
Die Stilrichtung des Minimalismus gibt´s in der Architektur schon seit den 20er Jahren.

Belbo

Zitat von: Groucho am 30. August 2015, 15:38:44
Zitat von: Belbo am 30. August 2015, 15:24:09
Was nichts an der Grossartigkeit einiger seiner Bauten und Architekturkonzepte ändert.

Sicher nicht. Apropos Hässlichkeit:


Wenn ich mir den Steiner wegdenke, und es skulptural sehe bauen würde ich es nicht wollen, in seiner Zeit mit dem neuen Umgang mit dem Baustoff Beton.....