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Ist Falsifikation Wissenschaft oder kann das weg?

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Begonnen von pelacani, 01. Oktober 2014, 18:46:28

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pelacani

Tobias Hürter und Max Rauner schreiben in der ZEIT (Nr 41, 01.10.14, S. 35f)  über Pseudowissenschaft und Wissenschaft; lesenswert. Ich konzentriere mich hier auf einen Nebenaspekt:

ZitatIst das Forschung oder kann das weg?
nachdem sie feststellen, dass die Abgrenzung zwischen Wissenschaft und Pseudowissenschaft bisweilen schwierig und ,,nur retrospektiv" zu leisten ist, behaupten sie:

ZitatDem Philosophen Karl Popper galt vor knapp hundert Jahren die Psychoanalyse als Paradebeispiel einer Pseudowissenschaft. Heute hat sie den Segen von Expertengremien.
Es scheint ihnen entgangen zu sein, dass die große Zeit der Psychoanalyse längst wieder vorbei ist. Jetzt hätte ich doch gern mal einen Hinweis auf ein Expertengremium außerhalb der Psychoanalyse, welches selbiger die Wissenschaftlichkeit bescheinigt. Ich glaube kaum, dass der Gemeinsame Bundesausschuss, der Analyse als kassenfähig akzeptiert, dafür in Beschlag genommen werden sollte. Schließlich hat ebenjener Ausschuss aus den nämlichen (historischen, politischen) Gründen auch die Akupunktur als kassenfähig akzeptiert.

ZitatPopper entwickelte ein Kriterium für Wissenschaftlichkeit, das weit über die Philosophie hinaus populär wurde: Falsifizierbarkeit. ... Einstein traf auf Basis der Relativitätstheorie die mutige Vorhersage, dass das Licht entfernter Sterne im Gravitationsfeld der Sonne um einen bestimmten Winkel abgelenkt wird. Während einer Sonnenfinsternis im Jahr 1919 wurde die Vorhersage überprüft — und bestätigt. Hätten die Beobachtungen etwas anderes ergeben, hätte Einstein laut Popper seine Theorie überarbeiten oder aufgeben müssen. Das klingt plausibel, passt aber nicht zur Wirklichkeit. Auch Einstein hielt sich nicht an Poppers Kriterien. Auf die Frage, was er getan hätte, wenn die Messungen von 1919 seine Theorie nicht bestätigt hätten, antwortete er: »Das hätte mir leidgetan für den lieben Gott — die Theorie ist korrekt.«

Natürlich hätte Einstein seine Theorie überarbeitet und modifiziert, wenn sie sich in Experimenten reproduzierbar nicht bestätigt hätte – es ist doch einfach abwegig, etwas anderes zu unterstellen. Andernfalls hätte er sich wie Pauling, Tesla oder Montagnier zum Crank entwickelt, lt. Definition ,,a man who cannot be turned".  Obige Passage war die Beweisführung für den folgenden Satz:

ZitatWissenschaftler denken nicht so, wie Popper sich das vorstellte. Sein Falsifikationismus gilt unter Philosophen als gescheitert.
Philosophen, jedenfalls eine ganze Menge von ihnen, sind nicht kompetent zu beurteilen, wie Wissenschaftler denken.  Es gibt aber auch Philosophen, die noch über andere Dinge als Heidegger, Hegel oder den Konstruktivismus nachdenken und die Popper nicht für gescheitert halten.
Eigentlich erwartet man hier einen Hinweis auf empirische Untersuchungen über die Art des Denkens von Wissenschaftlern, bei denen die popperschen Annahmen in eine handhabbare, operationalisierte Form gebracht worden sind und diese dann nicht bestätigt gefunden haben – Untersuchungen also, die Popper falsifiziert haben. :teufel

ZitatDeshalb suchten andere Philosophen wie Thomas Kuhn und Paul Feyerabend nach Alternativen. ... War Popper der Spießer unter den Wissenschaftsphilosophen, so war Feyerabend der Punk. Nach dem Scheitern Poppers und nach Feyerabends lauten Tönen scheuten die meisten Wissenschaftsphilosophen den Versuch, seriöse gegen unseriöse Wissenschaft abzugrenzen.
Das sind nun wirklich die am wenigsten geeigneten Gewährsleute, Popper zu widerlegen. Aber wenigstens hier haben Hürter und Rauner recht: in der Diagnostik der paralysierenden Wirkung, die Feyerabend auf das kritische Denken hatte. Diese Wirkung scheint bis heute anzuhalten.

Wie gesagt, das ist nur ein Nebenaspekt aus dem insgesamt durchaus lesenswerten Artikel.

Groucho

Zitat von: Pelacani am 01. Oktober 2014, 18:46:28
ZitatPopper entwickelte ein Kriterium für Wissenschaftlichkeit, das weit über die Philosophie hinaus populär wurde: Falsifizierbarkeit. ... Einstein traf auf Basis der Relativitätstheorie die mutige Vorhersage, dass das Licht entfernter Sterne im Gravitationsfeld der Sonne um einen bestimmten Winkel abgelenkt wird. Während einer Sonnenfinsternis im Jahr 1919 wurde die Vorhersage überprüft — und bestätigt. Hätten die Beobachtungen etwas anderes ergeben, hätte Einstein laut Popper seine Theorie überarbeiten oder aufgeben müssen. Das klingt plausibel, passt aber nicht zur Wirklichkeit. Auch Einstein hielt sich nicht an Poppers Kriterien. Auf die Frage, was er getan hätte, wenn die Messungen von 1919 seine Theorie nicht bestätigt hätten, antwortete er: »Das hätte mir leidgetan für den lieben Gott — die Theorie ist korrekt.«

Das ist doch Unsinn. Wenn die Beobachtungen das nicht hergeben, ist das keine Widerlegung und die Hypothese hinfällig. Was Popper fordert, ist doch lediglich, dass eine Hypothese falsifizierbar formuliert sein muss.

Davos

Zitat von: Pelacani am 01. Oktober 2014, 18:46:28
ZitatWissenschaftler denken nicht so, wie Popper sich das vorstellte. Sein Falsifikationismus gilt unter Philosophen als gescheitert.
Philosophen, jedenfalls eine ganze Menge von ihnen, sind nicht kompetent zu beurteilen, wie Wissenschaftler denken.  Es gibt aber auch Philosophen, die noch über andere Dinge als Heidegger, Hegel oder den Konstruktivismus nachdenken und die Popper nicht für gescheitert halten.

Sowohl das Zitat als auch dein Kommentar sind zu verallgemeinernd.

"Philosophen sind nicht kompetent zu beurteilen ..."

wirkt auf mich wie

"Die Wissenschaft/Wissenschaftler hat/haben festgestellt, dass ..."

"jedenfalls eine ganze Menge" ist nur eine scheinbare Einschränkung der Verallgemeinerung.

Selbst wenn es eine scharfe Grenze zwischen Philosophie und Wissenschaft gäbe, wären Wissenschaftler nicht unbedingt kompetenter zu beurteilen, wie Wissenschaftler denken, als Philosophen.

pelacani

Zitat von: Davos am 02. Oktober 2014, 10:47:48Sowohl das Zitat als auch dein Kommentar sind zu verallgemeinernd.
Ich habe die Verallgemeinerung in polemischer Absicht aufgenommen und anschließend eingeschränkt.

Zitat"jedenfalls eine ganze Menge" ist nur eine scheinbare Einschränkung der Verallgemeinerung.
Wie kommst Du darauf, dass die Einschränkung nur scheinbar ist? Mir fallen für beide Seiten Beispiele ein, und zwar jeweils mehrere.

ZitatSelbst wenn es eine scharfe Grenze zwischen Philosophie und Wissenschaft gäbe, wären Wissenschaftler nicht unbedingt kompetenter zu beurteilen, wie Wissenschaftler denken, als Philosophen.
Jedenfalls kompetenter als Journalisten.

Worauf ich hinaus will, ist: man kann es herausfinden, wie Wissenschaftler denken - aber nicht durch geistige Höhenflüge im stillen Kämmerlein oder durch die hunderttausendste Ventilation der Causa Galilei nebst Kantschem Imperativ, sondern durch empirische Untersuchungen. Wenn die Philosophen so etwas tun, her mit den Ergebnissen!

Davos

Die Einschränkung ist nur scheinbar, weil du die Gruppe der Philosophen durch eine beinahe beliebige andere Gruppe von Menschen ersetzen kannst und der Satz dadurch nichts von seinem Wahrheitsgehalt verliert.

Beispiele:

Wissenschaftler, jedenfalls eine ganze Menge von ihnen, sind nicht kompetent zu beurteilen, wie Wissenschaftler denken.

Psychologen, jedenfalls eine ganze Menge von ihnen, sind nicht kompetent zu beurteilen, wie Psychopathen denken.

Menschen, jedenfalls eine ganze Menge von ihnen, sind nicht kompetent zu beurteilen, wie Menschen denken.

Entweder die Sätze sind Verallgemeinerungen oder sie sind selbstverständlich, also überflüssig. Und wenn sie überflüssig sind, stellt sich die Frage nach dem Motiv, aus dem sie geäußert wurden. Ab einer gewissen Heterogenität der Gruppe dient die Einschränkung der Verallgemeinerung der Verschleierung der Verallgemeinerung.

ZitatWorauf ich hinaus will, ist: man kann es herausfinden, wie Wissenschaftler denken - aber nicht durch geistige Höhenflüge im stillen Kämmerlein oder durch die hunderttausendste Ventilation der Causa Galilei nebst Kantschem Imperativ, sondern durch empirische Untersuchungen. Wenn die Philosophen so etwas tun, her mit den Ergebnissen!

Dass es nicht auch etliche bodenständige, sich an der außerhalb ihrer selbst und ihres stillen Kämmerleins liegenden Wirklichkeit orientierende Philosophen gibt, halte ich für ein Gerücht. Die Wissenschaftstheorie ist doch ein Teilgebiet der Philosophie. Sie kann nicht selbst Naturwissenschaft sein. Also muss sie Geisteswissenschaft sein. Da bleibt nur die Philosophie. Okay, vielleicht auch noch die Psychologie. Aber die ist auch nicht exakter als die Philosophie. Wenn Naturwissenschaftler die Theorie weiterentwickeln, betreiben sie Philosophie, sind also nicht nur Naturwissenschaftler, sondern auch Philosophen.

pelacani

Zitat von: Davos am 02. Oktober 2014, 13:07:39
Die Einschränkung ist nur scheinbar, weil du die Gruppe der Philosophen durch eine beinahe beliebige andere Gruppe von Menschen ersetzen kannst und der Satz dadurch nichts von seinem Wahrheitsgehalt verliert.

Beispiele:
...
Tut mir leid, auch bei mehrmaligem Lesen habe ich keinen Sinn in der Passage entdecken können. Was war es denn nun, was Du sagen wolltest? Haben die/einige/alle Philosophen nun Popper abserviert, die Wissenschaftstheorie - eingeschüchtert durch Kuhn und Feyerabend - aufgegeben, oder haben sie es nicht? Siehst Du einen Unterschied zwischen der Aussage von Hürter & Rauner und meiner Aussage, oder ist ein solcher Unterschied unter der Verallgemeinerung, die Du hier wie da zu erkennen glaubst, verschütt gegangen?

pelacani

Zitat von: Davos am 02. Oktober 2014, 13:07:39
Wissenschaftler, jedenfalls eine ganze Menge von ihnen, sind nicht kompetent zu beurteilen, wie Wissenschaftler denken.
ZitatSalzburg ist die Hauptstadt von Salzburg
- Egon Erwin Kisch

Zitat von: Davos am 02. Oktober 2014, 13:07:39Psychologen, jedenfalls eine ganze Menge von ihnen, sind nicht kompetent zu beurteilen, wie Psychopathen denken.
Das würde dann schon bedeuten, dass sie ihren Beruf nicht gelernt hätten (jedenfalls gilt das für klinische Psychologen/Psychotherapeuten).

Zitat von: Davos am 02. Oktober 2014, 13:07:39
Menschen, jedenfalls eine ganze Menge von ihnen, sind nicht kompetent zu beurteilen, wie Menschen denken.
Dieser Kunstgriff ist ein wenig zu simpel: erst die Aussage ins Maßlose überdehnen und sie dann für absurd erklären. Außerdem ist er alt:
ZitatKunstgriff 1: Die Erweiterung. Die Behauptung des Gegners über ihre natürliche Grenze hinausführen, sie möglichst allgemein deuten, in möglichst weitem Sinne nehmen und sie übertreiben; seine eigne dagegen in möglichst eingeschränktem Sinne, in möglichst enge Grenzen zusammenziehn: weil je allgemeiner eine Behauptung wird, desto mehreren Angriffen sie bloß steht. Das Gegenmittel ist die genaue Aufstellung des puncti oder status controversiae.
- Schopenhauer, Eristische Dialektik.

Zitat von: Davos am 02. Oktober 2014, 13:07:39
Entweder die Sätze sind Verallgemeinerungen oder sie sind selbstverständlich, also überflüssig.
ZitatWenn diese Schriften der Griechen mit dem Buch Gottes übereinstimmen, sind sie überflüssig und müssen nicht aufbewahrt werden; wenn sie nicht übereinstimmen, sind sie bösartig und müssen vernichtet werden.
- Kalif Omar befiehlt die Verbrennung der Bibliothek von Alexandria (zugeschrieben/legendär)

Zitat von: Davos am 02. Oktober 2014, 13:07:39Dass es nicht auch etliche bodenständige, sich an der außerhalb ihrer selbst und ihres stillen Kämmerleins liegenden Wirklichkeit orientierende Philosophen gibt, halte ich für ein Gerücht.
Ich war es nicht, der dieses Gerücht aufgebracht hat.

Zitat von: Davos am 02. Oktober 2014, 13:07:39Die Wissenschaftstheorie ist doch ein Teilgebiet der Philosophie. Sie kann nicht selbst Naturwissenschaft sein. Also muss sie Geisteswissenschaft sein. Da bleibt nur die Philosophie. Okay, vielleicht auch noch die Psychologie. Aber die ist auch nicht exakter als die Philosophie. Wenn Naturwissenschaftler die Theorie weiterentwickeln, betreiben sie Philosophie, sind also nicht nur Naturwissenschaftler, sondern auch Philosophen.
Ich finde schon, dass solche Sätze mehr bedeutungsvolle Stimmung als Bedeutung transportieren.

eLender

Damit klar wird, worüber wir reden:

http://img1.myimg.de/page101872.jpg

http://img1.myimg.de/page20f187.jpg

Finde den Artikel auch ein wenig widersprüchlich. Pelacani hat auch genau die Punkte angesprochen, die ich merkwürdig finde. Popper sei überholt und dafür jetzt Feyerabend das Maß aller Dinge? Demnach gäbe es gar keine Pseudowissenschaft bzw. einen Unterschied zu "echter" Wissenschaft. Bin zwar kein Philosoph, aber die aktuelle Mode in den Sozial- und Geisteswissenschaften: der postmoderne Konstruktivismus, spielt in den Naturwissenschaften keine Rolle. Ich kenne beide Seiten aus eigener Anschauung. In den Naturwissenschaften geht es sehr nach den Vorstellungen Poppers zu. Popper hat ja sein Wissenschaftsmodell als evolutionär bezeichnet, bessere Theorien verdrängen die schlechteren (die besseren brauchen weniger Postulate und erklären Phänomene besser).

Merkwürdig am Artikel ist auch die Unterscheidung Pseudowissenschaft und Pseudowissenschaftler. Ersteres gäbe es gar nicht, nur Letzteres. Ist jetzt müßig, das argumentativ auseinander zu nehmen. Zumal es der Artikel im Weiteren ja selbst macht. Im letzten Teil ist der Artikel dann auch recht widerspruchslos und trifft den Nagel auf den Kopf. Aber warum vorher so rumschwadroniert wird, ist mir immer noch nicht klar. Am besten man diskutiert die Pseudowissenschaft am konkreten Beispiel, dann wird schnell klar, dass es sowas wirklich gibt.
Wollte ich nur mal gesagt haben!