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Religiöser Atheismus??

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Begonnen von sweeper, 28. Mai 2014, 17:19:05

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Typee

Zitat von: Peiresc am 25. Dezember 2019, 22:27:53
Kein Atheist wird sie zwingen wollen, am Karfreitag zu tanzen.

Sie leidet unter dem Fensterbrett-Syndrom. Wie die Dame, die sich über den Nachbarn im Haus gegenüber beklagte, der nackt in seiner Wohnung herumlaufe. Auf den Umstand hingewiesen, das sie das aus ihrem Fenster heraus gar nicht sehen könne, insistierte sie: "Ja, aber wenn Sie aufs Fensterbrett steigen!"

Solche kruden Debatten sind die Frucht einer Missgeburt namens "positiver" Religionsfreiheit. Ihrer hätte es im Grunde nie bedurft, alles was an Religionsausübung als schützenswert betrachtet werden kann, passt zwanglos in Meinungs-, Presse- und Versammlungsfreiheit. Selbständig schützenswert ist allenfalls das, was quasi als Anhängsel mitschwimmt: die negative Religionsfreiheit, also die Freiheit, entweder keinen bestimmten Glauben oder gar keinen Glauben zu haben und zu praktizieren. Die positive Variante führt automatisch zur Übergriffigkeit. Sie ist der Quellcode aller Theokratien.



The universe is under NO obligation to make sense to us
(Neil deGrasse Tyson)

Typee

Zitat von: sweeper am 28. Mai 2014, 17:19:05
Im Brights-Blog wird aktuell auf einen Artikel in der ZEIT verlinkt:

http://www.zeit.de/2014/22/glaube-atheismus-ronald-dworkin
Zitat... Schweigen der Räume? Das erinnert an den faszinierenden Religionsphilosophen, Physiker und Mathematiker Blaise Pascal (1623 bis 1662), doch leider nur auf den ersten Blick. Pascal war absolut modern, er traute den menschlichen Gefühlen nicht und wollte lieber auf Gott wetten. Ganz anders Dworkin in seinen Einstein-Vorlesungen, die er in Bern gehalten und die er noch kurz vor seinem Tod zu diesem Buch ausgearbeitet hat: Für ihn sind die Gefühle, die uns beim Anblick des Erhabenen ergreifen, transsubjektive Empfindungen; das Numinose des Universums ist für Dworkin also weder eine Täuschung noch ein Produkt unserer Sinnesorgane – es ist die innere Repräsentation einer äußeren Wirklichkeit. Die "Ehrfurcht gebietenden Gefühle" bezeugten eine Macht, "die größer ist als wir", und diese "Macht des Wunderbaren" wohne hinter den Erscheinungen und sei genauso real wie Planeten oder Kopfschmerzen...

Die Ableitung von (Selbst-)Verantwortung aus dem kosmisch Schönen? So etwas hat schon lange kein Philosoph mehr behauptet, aber genau das tut Dworkin. Er verstand sich als religiöser Atheist, das heißt: Er glaubte zwar nicht an Gott, wohl aber an die sinnhafte Einheit des Kosmos und die Versöhnung von Glauben und Wissen. Auf keinen Fall wollte er den Naturwissenschaften das Feld überlassen, denn angenommen, diese würden eines Tages kalt lächelnd verkünden, unsere Abscheu vor Grausamkeit gehöre einer entwicklungsgeschichtlich überholten Stufe der Menschheit an, dann stünde ein säkularer Geist mit leeren Händen da. Nicht aber der religiöse Atheist. Sein "Werterealismus" könne zeigen, dass unsere moralischen Überzeugungen nichts Erfundenes seien, sondern etwas Objektives und von uns Entdecktes – sie seien real und gehörten gleichsam zur Hintergrundstrahlung des Universums. Unsere ethischen Überzeugungen, schreibt Dworkin den postmodernen Relativisten ins Stammbuch, "könnten wir nicht haben, ohne zu denken, dass sie objektiv wahr sind"...

Mich interessiert eure Meinung dazu.
Persönlich finde ich es ja aufrichtiger, auf religiöse Gefühle zu verzichten, wenn man sich als "Atheist" versteht...

Die Realität müssen wir nehmen, wie sie ist - nicht umgekehrt. Insbesondere haben wir keinen Anspruch darauf, dass die Welt schön, ethisch korrekt oder sonst angenehm beschaffen ist. Dworkin könnte aber in einem Punkt, der ihm womöglich so nur herausgerutscht ist, etwas Zutreffendes gesagt haben: "...ohne zu denken, dass sie objektiv wahr sind". Denken wir es also, weil es uns aufrecht erhält. Ob es der Fall ist, steht auf einem ganz anderen Blatt.

The universe is under NO obligation to make sense to us
(Neil deGrasse Tyson)

Peiresc

Zitat von: sailor am 27. Dezember 2019, 09:21:46
Kann mir jemand erklären, was Lenin nun damit zu tun hat?

Über die Leninsche Materiedefinition:
ZitatDie Materie ist eine philosophische Kategorie zur Bezeichnung der objektiven Realität, die dem Menschen in seinen Empfindungen gegeben ist, die von unseren Empfindungen kopiert, fotografiert, abgebildet wird und unabhängig von ihnen existiert. Davon zu reden, daß ein solcher Begriff ,,veralten" kann, ist daher kindisches Geschwätz, [...]

Es fragt sich nun, gibt es umfassendere Begriffe, mit denen die Erkenntnistheorie operieren könnte, als die Begriffe Sein und Denken, Materie und Empfindung, Physisches und Psychisches? Nein. Das sind die weitestgehenden, die umfassendsten Begriffe, über die die Erkenntnistheorie dem Wesen der Sache nach (wenn man von den stets möglichen Änderungen der Nomenklatur absieht) bis jetzt nicht hinausgegangen ist.

W.I. Lenin. Band 14. Materialismus und Empiriokritizismus. Dietz Verlag Berlin 1971, S. 124, 141

Es ist gar nicht so leicht, damit fertig zu werden. Die meisten Philosophen, die ich gelesen habe, haben sich damit nicht abgeplagt.

sailor

Ach Gott (sic), so weit habe ich den alten Russendiktator gar nicht gelesen... Kein Wunder, dass es mit der Revolution nicht so geklappt hat wie gewünscht... Danke für den Querverweis.

Ich verstehe nicht, warum man sich derart an der "Schöpfung" hochzieht, egal auf welcher Seite. Man wird in nächster Zeit keine Theorie beweisen können, wobei die wissenschaftliche Seite dabei eindeutig auf der Innenbahn läuft, schliesslich kann man dort die Bücher selbst schreiben und muss nicht auf irgendwelche Römer Rücksicht nehmen ;)

Nogro

Zitat von: Peiresc am 27. Dezember 2019, 11:49:46
Über die Leninsche Materiedefinition:
...
W.I. Lenin. Band 14. Materialismus und Empiriokritizismus. Dietz Verlag Berlin 1971, S. 124, 141

So kommt es, dass ich ...zig Jahre nach Stabü und ML-Vorlesung wieder mal (freiwillig!) Lenin lese  :grins2:
Es genügt nicht, keine Ahnung zu haben. Man muss auch dagegen sein (Hermann Hinsch)

Peiresc

Zitat von: Nogro am 27. Dezember 2019, 14:56:30
So kommt es, dass ich ...zig Jahre nach Stabü und ML-Vorlesung wieder mal (freiwillig!) Lenin lese  :grins2:

Bei meiner unsystematischen Lektüre ist mir Gustav A Wetter begegnet. Seine Kritik des Materiebegriffs entzündet sich bei Engels, dem er vorwirft, ,,das Denken" und ,,den Geist" miteinander vermengt zu haben, eine Konfusion das. Das diagnostiziert er auch bei Lenin: sein breiter Materiebegriff würde auch Gott einschließen (,,außerhalb und unabhängig von unserem Bewusstsein"). Unmittelbar verständlich: man muss nur bedenken, dass Wetter Jesuit ist und deswegen eine thomistische Philosophie vertritt. Er schwenkt dann auch gleich zu Stalin über, alles eine Soße (man muss ihm aber zugute halten, dass Wetters Buch von 1952 ist).

Nicht wirklich brauchbar. Mein Problem mit der Lenin-Definition war immer ein anderes, ich musste ja nicht den lieben Gott retten. Was heißt eigentlich ,,außerhalb und unabhängig von unserem Bewusstsein"? Dein Bewusstsein ist außerhalb und unabhängig von meinem – ist es damit Materie? Auf diese Frage gibt ... Mario Bunge eine Antwort. Die Philosophie Lenins ist letztlich dualistisch, auch wenn der selber das nicht geglaubt hätte. Die Materie-Definition von Bunge kommt ohne die Relation zum Bewusstsein aus und grenzt trotzdem klar ab.

Schwuppdiwupp

Ach, was weiß denn ich ...

Peiresc

(editiert)
Zitat von: Schwuppdiwupp am 27. Dezember 2019, 20:19:28
Lang---weil---lig!  :police:

:grins:

War mir ein Vergnügen!  ;D

PS. Graham Hoyle sagt in einer Rezension zu Bunge, The Mind-Body Problem, 1980:
ZitatNeuroscientists in general have a level of interest in the title topic of this book which is directly proportional to the number of years that have elapsed since they obtained their Ph.D. degree or equivalent. Some have had an interest in it as adolescents, but have put it aside until they shall be in the grip of neo-senescence, when they can be expected to take it up again in earnest.
- Junger Spund!  8)

Sauropode

Puh, Lenin. Ich kann nur sagen, dass ich das ganze, was daraus erwuchs, vollumfänglich ablehne. Im Übrigen hat die Zwangsbeschäftigung mit dieser Philos.... ähm, Sichtweise dazu geführt, dass ich mich gänzlich der Philosophie abgewandt habe. War so ähnlich wie mit der Literatur. Pawel Kortschagin hat mir das Lesen von Romanen für immer madig gemacht.

Peiresc

Zitat von: Sauropode am 27. Dezember 2019, 22:37:32
Puh, Lenin. Ich kann nur sagen, dass ich das ganze, was daraus erwuchs, vollumfänglich ablehne. Im Übrigen hat die Zwangsbeschäftigung mit dieser Philos.... ähm, Sichtweise dazu geführt, dass ich mich gänzlich der Philosophie abgewandt habe. War so ähnlich wie mit der Literatur. Pawel Kortschagin hat mit das Lesen von Romanen für immer madig gemacht.

ZitatDas Gegenteil eines Fehlers ist ein Fehler - Johannes R. Becher
(aus dem Gedächtnis zitiert).  8)

PS. bezgl. Lenin: so haben so gut wie alle reagiert. Hans Albert macht irgendwo die Bemerkung, er sei düster dogmatisch, und damit war er schon durch mit ihm.

Sauropode

Das Positive daran ist, dass ich mich schon in frühester Jugend den Naturwissenschaften zugewandt habe.

Peiresc

Aber um Lenin nun endlich zur letzten Ruhe zu betten, den noch:
ZitatIronically, the most vehement critic of the new idealism was neither a scientist nor a philosopher, but a professional politician: Lenin (1908). His book on this subject, Materialism and Empiriocriticism, was a clever onslaught on positivism and conventionalism. Lacking a scientific background, Lenin confined his attention to second-hand sources. Yet, he was basically right, though for the wrong reason: because the opinions he criticized clashed with Engels's.

Bunge, Matter and Mind
Eine durchgreifende Idealismus-Kritik bietet inzwischen auch David Stove: The Plato Cult and Other Philosophical Follies, Basil Blackwell, Oxford 1991.

Sauropode

Zitat von: Peiresc am 27. Dezember 2019, 22:40:06
Zitat von: Sauropode am 27. Dezember 2019, 22:37:32
Puh, Lenin. Ich kann nur sagen, dass ich das ganze, was daraus erwuchs, vollumfänglich ablehne. Im Übrigen hat die Zwangsbeschäftigung mit dieser Philos.... ähm, Sichtweise dazu geführt, dass ich mich gänzlich der Philosophie abgewandt habe. War so ähnlich wie mit der Literatur. Pawel Kortschagin hat mit das Lesen von Romanen für immer madig gemacht.

ZitatDas Gegenteil eines Fehlers ist ein Fehler - Johannes R. Becher
(aus dem Gedächtnis zitiert).  8)

PS. bezgl. Lenin: so haben so gut wie alle reagiert. Hans Albert macht irgendwo die Bemerkung, er sei düster dogmatisch, und damit war er schon durch mit ihm.

Ich weiß. Ich finde da aber keinen Zugang mehr.

Peiresc

Zitat von: Sauropode am 27. Dezember 2019, 22:58:57
Ich weiß. Ich finde da aber keinen Zugang mehr.

Bei den Romanen solltest Du Dich aber noch mal beraten lassen :grins2: (auch wenn ich selber so gut wie keine mehr lese).

sailor

Och, Romane sind ganz gut, auch als Annäherung an geisteswissenschaftliche Abhandlungen: Dank Richard Morgan (Altered Carbon und viele mehr) hab ich mich mal mit theoretischem Anarchismus/Syndikalismus (Bakunin et al) beschäftigt. Dabei kam für mich keine neue Erkenntnis, aber zumindest eine Horizonterweiterung bei rum.

Zum Glauben hat mich bisher kein Buch gebracht, weder Bibel, noch Koran, noch anderes. Was wirklich toll ist, wenn man ein wenig vergleichendes Lesen macht: die moralischen Grundregeln sind universell und so manche religiös verbrämte Ernährungs- und Verhaltensregel erhöht die Lebenserwartung im vorzeitlich-antiken Setting ungemein :D