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skeptiker 4/2013 und der Binnenkonsens

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Begonnen von celsus, 25. Dezember 2013, 16:58:59

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celsus

Martin Lambeck schreibt im aktuellen "skeptiker" über "Die Placebo-Republik".

Interessanter Punkt am Rande: Wie kamen eigentlich die "Besonderen Therapieformen" zu ihrem Persilschein?

"Das Homöopathische Arzeibuch wurde am 25. Juli 1978 zur amtlichen Ausgabe bestimmt" ...

"Der nächste politische Schritt folgte 1997. Bis dahin hieß es im § 135 des Sozialgesetzbuches V: "Neue medizinische Verfahren können nur dann von Krankenkassen bezahlt werden, wenn ihre Wirksamkeit nach dem jeweiligen Stand der wissenschafltichen Erkenntnisse anerkannt ist."

So weit so gut, könnte man denken. Grob unwissenschaftlicher Unfug ist damit außen vor.

Doch dann:
"Auf Initiative von Beatrix Philipp (CDU) beschloss der Bundestag nun, in diesem Satz vier Wörter einzufügen: Nach "Erkenntnisse" wird eingefügt "in der jeweiligen Therapieform". Das heißt: Über die Homöopathika entscheiden die Homöopathen, über die Antrhoposophika die Anthroposophen. Damit spielt sich das Zulassungsverfahren in einem reinen "Binnenkonsens" ab."

Großartiger Lobbyismus-Erfolg. Durch eine winzige Ergänzung wird jegliche Privatrealität zum Gesetz.

Noch mal zum Vergleich:

Zitat"Neue medizinische Verfahren können nur dann von Krankenkassen bezahlt werden, wenn ihre Wirksamkeit nach dem jeweiligen Stand der wissenschafltichen Erkenntnisse anerkannt ist."
Zitat"Neue medizinische Verfahren können nur dann von Krankenkassen bezahlt werden, wenn ihre Wirksamkeit nach dem jeweiligen Stand der wissenschafltichen Erkenntnisse in der jeweiligen Therapieform anerkannt ist."

Es wird also unterstellt, dass es unterschiedliche Formen von medizinisch-naturwissenschaftlicher Realität gibt.
The best thing about science is that it works - even if you don't believe in it.

Robert

Hier steht auch was dazu:

http://www.awmf.org/medizin-versorgung/stellungnahmen/aenderung-des-sgb-v.html

ZitatDer Präsident der AWMF, Prof. Dr. Hans Reinauer, hat am 18. 4. 1997 folgendes Schreiben an den Bundesgesundheitsminister und die Gesundheitsminister der Länder gerichtet:

Resolution zur Drucksache des Deutschen Bundestages Nr. 13/7264 vom 19.03.97 - Änderung des SGB (V)

Nach § 135 Abs. 1 SGB (V) dürfen neue Untersuchungs- und Behandlungsmethoden in der vertragsärztlichen Versorgung zu Lasten der Krankenkassen nur erbracht werden, wenn die Bundesausschüsse der Ärzte und Krankenkassen Empfehlungen abgegeben haben über die Anerkennung des diagnostischen und therapeutischen Nutzens nach dem jeweiligen Stand der wissenschaftlichen Erkenntnisse.
In dem vorliegenden, vom Deutschen Bundestag bereits verabschiedeten Änderungsentwurf wurde nach dem Wort "Erkenntnisse" der Zusatz "in der jeweiligen Therapierichtung" angeführt. Dieser Zusatz, der sich offenbar auf die Methoden der Beurteilung bezieht und die Forderungen nach einer "Binnenanerkennung" beinhaltet, hebt die in dem vorangehenden Satzteil ausgedrückten Bemühungen um eine wissenschaftlich fundierte Medizin auf.

Kein Bereich der Medizin kann eigene Gesetze der Methodologie wissenschaftlicher Überprüfung erlassen. Die allgemein verbindlichen Gesetze der Logik und der Erkenntnistheorie sind präexistent. Wenn die sogenannten "besonderen Therapierichtungen" die gültigen Methoden des Erkenntnisgewinns, die die Möglichkeit der Falsifizierbarkeit einschließen, nicht anerkennen und eigene Regeln der Wirksamkeitsprüfung aufstellen, verlassen sie den gemeinsamen Boden der Wissenschaftlichkeit. Ein Ersatz eines wissenschaftlichen Wirksamkeitsnachweis durch Rückzug auf eine "Binnenanerkennung" als Schutz vor wissenschaftlichen Überprüfungen darf nicht akzeptiert werden. Jeder Bereich der Medizin muß von allen anderen Bereichen anerkannt und akzeptiert sein.

Unwissenschaftliche medizinische Verfahren beanspruchen zunehmend für sich den Begriff der "besonderen Therapierichtung". Für diesen Begriff gibt es keinen definierbaren Inhalt außer dem Verzicht auf wissenschaftliche Überprüfbarkeit. Wenn allen selbsternannten "besonderen Therapierichtungen" das Recht zuerkannt würde, diese Methoden für den wissenschaftlichen Erkenntnisgewinn selbst zu definieren, ließen sich keine allgemein verbindlichen Grenzen mehr festlegen. Jedes Sektierertum, jede noch so absurde medizinische Behauptung und sogar in betrügerischer Absicht erfundene neue Verfahren könnten sich unter der Schutz der "Binnenanerkennung" mit dem falschen Mantel einer wissenschaftlich überprüften Methode behängen. Die Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften (AWMF) tritt einer solchen Perversion des Wissenschaftsbegriffs mit aller Deutlichkeit entgegen.

Nicht nur im Interesse des Patientenschutzes, sondern insbesondere auch aus ökonomischen Gründen ist solchen Tendenzen frühzeitig entgegen zu wirken. Alle Bemühungen um eine Begrenzung der Kosten im Gesundheitswesen werden durch die Aufgabe von allgemein verbindlichen Grenzen und Maßstäben sehr ernsthaft gefährdet. Die Einbeziehung wissenschaftlich nicht überprüfter Methoden in die vertragsärztliche Versorgung widerspricht dem Solidaritätsprinzip. Die 107 in der AWMF zusammengeschlossenen wissenschaftlichen Vereinigungen fordern daher den Bundesrat auf, dem im vorliegenden Änderungsentwurf des § 135 Abs. 1 Satz 1 eingefügten Satz "in der jeweiligen Therapierichtung" nicht zuzustimmen.

gez.

Prof. Dr. med. H. Reinauer
- Präsident der AWMF -

celsus

ZitatKein Bereich der Medizin kann eigene Gesetze der Methodologie wissenschaftlicher Überprüfung erlassen. Die allgemein verbindlichen Gesetze der Logik und der Erkenntnistheorie sind präexistent. Wenn die sogenannten "besonderen Therapierichtungen" die gültigen Methoden des Erkenntnisgewinns, die die Möglichkeit der Falsifizierbarkeit einschließen, nicht anerkennen und eigene Regeln der Wirksamkeitsprüfung aufstellen, verlassen sie den gemeinsamen Boden der Wissenschaftlichkeit.

Tja, das hat der Herr Reinauer schön geschrieben.
Warum machen die Kassen das eigentlich mit? Klar, neue Mitglieder aus den weniger kritischen Bevölkerungsschichten sind toll, aber wiegen die Vorteile wirklich die zusätzlichen Kosten plus Folgekosten auf?
The best thing about science is that it works - even if you don't believe in it.

Habra

Zitat von: celsus am 25. Dezember 2013, 16:58:59

Großartiger Lobbyismus-Erfolg. Durch eine winzige Ergänzung wird jegliche Privatrealität zum Gesetz.


War dazu wirklich soviel Lobbyismus erforderlich? Wenn ich die Bundestagsdebatte ( http://dipbt.bundestag.de/doc/btp/13/13138.pdf#P.12432 ) zur Änderung des Arzneimittelgesetztes 1996 richtig verstehe, war keiner der Redner wirklich gegen Scharlatanerie im Arzneimittelbereich.  Demzufolge scheint es mir logisch, dass auch im Sozialgesetzbuch der Passus "in der jeweiligen Therapieform" ohne Probleme durchging. Die Abgeordneten hatten halt Angst vor dem großen auf Neudeutsch "shitstorm" in der Presselandschaft und fürchteten deshalb um ihre Wiederwahl. Je esoterischer das Thema im Gesundheitsbereich, desto eher erhält es eine (leider positivierte) Aufmerksamkeit in der Presse und im Radio/TV, die es garnicht verdient hat.
(btw.: Ich erinnere mich noch vage an die Zeitungsartikel und Fernsehsendungen in dieser Zeit (1996), die davor warnten, dass der Beweis der Wirksamkeit viele "natürliche" Heilmittel vom Markt verschwinden lassen würde und nur noch die Medikamente der bösen Pharmafirmen künftig erhältlich seien.)

Und die Kassen?
Nachdem es fast keine PKV mehr gibt, die Scharlatanerie (Heilpraktiker, Homöopathie etc. etc.) nicht im Leistungskatalog hat, müssen sich die gesetzlichen Krankenkassen was einfallen lassen, um junge und gutverdienende Mitglieder zu halten. Und diese scheinen halt mehrheitlich an diese Scharlatanerie zu glauben. Zumindest kurzfristig sind hier die Erlöse wohl höher als die Ausgaben.

Robert

Zitat von: Habra am 26. Dezember 2013, 12:15:56
Zitat von: celsus am 25. Dezember 2013, 16:58:59

Großartiger Lobbyismus-Erfolg. Durch eine winzige Ergänzung wird jegliche Privatrealität zum Gesetz.


War dazu wirklich soviel Lobbyismus erforderlich? Wenn ich die Bundestagsdebatte ( http://dipbt.bundestag.de/doc/btp/13/13138.pdf#P.12432 ) zur Änderung des Arzneimittelgesetztes 1996 richtig verstehe, war keiner der Redner wirklich gegen Scharlatanerie im Arzneimittelbereich.  Demzufolge scheint es mir logisch, dass auch im Sozialgesetzbuch der Passus "in der jeweiligen Therapieform" ohne Probleme durchging. Die Abgeordneten hatten halt Angst vor dem großen auf Neudeutsch "shitstorm" in der Presselandschaft und fürchteten deshalb um ihre Wiederwahl. Je esoterischer das Thema im Gesundheitsbereich, desto eher erhält es eine (leider positivierte) Aufmerksamkeit in der Presse und im Radio/TV, die es garnicht verdient hat.
(btw.: Ich erinnere mich noch vage an die Zeitungsartikel und Fernsehsendungen in dieser Zeit (1996), die davor warnten, dass der Beweis der Wirksamkeit viele "natürliche" Heilmittel vom Markt verschwinden lassen würde und nur noch die Medikamente der bösen Pharmafirmen künftig erhältlich seien.)

Und die Kassen?
Nachdem es fast keine PKV mehr gibt, die Scharlatanerie (Heilpraktiker, Homöopathie etc. etc.) nicht im Leistungskatalog hat, müssen sich die gesetzlichen Krankenkassen was einfallen lassen, um junge und gutverdienende Mitglieder zu halten. Und diese scheinen halt mehrheitlich an diese Scharlatanerie zu glauben. Zumindest kurzfristig sind hier die Erlöse wohl höher als die Ausgaben.

Ganz so unbedarft war die Politik nicht: http://www.spiegel.de/spiegel/print/d-8716404.html


celsus

Sehr interessanter Text, danke Robert.

ZitatHinter dem harmlos klingenden Textzusatz verbirgt sich das Destillat jahrelanger juristischer Expertisen der Lobby alternativer Heiler. Den Kassenjuristen ist die Formulierung aus zähen Prozessen schmerzhaft bekannt.

Ursprünglich entstammen die vier Wörter einem Rechtsgutachten, das der Stuttgarter Jurist Rüdiger Zuck 1991 angefertigt hat. Bezahlt wurde es vom "Europäischen Verbraucher-Verband für Naturmedizin", einer Einrichtung der Anthroposophen, die stets beklagten, daß ihre Heileurythmie, Kunsttherapie und rhythmische Massage nicht von den Kassen bezahlt werden.

Letztendlich heißt das aber auch, dass eine Menge Leute in Parlament, Wissenschaft und Pharmalobby gepennt haben.
Wie die Kassen selbst dazu stehen würde mich wirklich interessieren. Die haben das ja offenbar nicht forciert sondern müssen halt löhnen.
The best thing about science is that it works - even if you don't believe in it.

sumo

ich glaube, daß das an mangelndem Hintergrundwissen liegt.
Als ehemaliger Abonnent des SPIEGELs erinnere ich mich an den Artikel, der sich um die Zulassung und die Bezahlung der sogenannten Alternativmethoden drehte.
Mein damaliger Gedanke war "...warum so ein Brimborium um solch harmloses Zeug...."
Es ging auch um Bachblüten, die wurden im Artikel explizit genannt, und ich habe mir gedacht, daß das harmloses Zeug ist, wenig kostet, und dann kam der klassische Gedanke "...wer heilt, hat recht..."
Daß ich da einer klassischen Fehleinschätzung aufgesessen bin, wurde mir erst später klar. (Nur nebenbei, Auslöser war ein kleines Buch von Professor Lambeck von der GWUP, nachfolgender Internetrecherche und dem dann nahezu zwangsläufigen Kontakt mit esowatch)
Bei antivegan sprechen sie immer vom Bildungsauftrag des Forums und des Wikis, hier bei esowatch/psiram hat der Bildungsauftrag bei mir mustergültig funktioniert.

Ein Abgeordneter kann keinerlei Überblick behalten über das, worüber er abstimmen darf, und so nehme ich an, daß diese vier kleinen Wörter von vielen einfach durchgewinkt wurden, ohne die Konsequenzen nur zu erahnen, und das mit dem möglichen Hintergedanken, daß es schon nicht schaden wird.

Die Schäden, die durch alternative "Medizin" verursacht wurden und werden, sind mir auch erst hier richtig klar geworden. Wer diese regividerm-schei§§e verfolgt hat oder die Vorgänge um Olivia Pilhar, der wird wissen, daß ohne gründliches Hintergrundwissen kaum eine sachgerechte Beurteilung solcher Dinge möglich ist, und woher kam solche Aufklärung VOR den Zeiten des Internets?