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Nicht immer sind die bösen Ärzte Schuld

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Begonnen von rincewind, 17. November 2010, 13:29:09

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rincewind

ein sehr lesenswerter Kommentar von einem Arzt, gefunden hier:

http://www.scienceblogs.de/geograffitico/2010/11/studie-homoopathie-hilft-aber-sie-wirkt-nicht.php?utm_source=feedburner&utm_medium=feed&utm_campaign=Feed%3A+ScienceBlogs%2FKommentare+%28ScienceBlogs+%2F+Kommentar-Feed%29&utm_content=Google+Reader#c159876
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noch'n Flo· 16.11.10 · 16:24 Uhr

@ miesepeter3:

Also erst einmal: in meinem Schlusssatz war keierlei Drohung implementiert, wie kommst Du nur darauf? Und ich kenne auch keinen Arzt, der seinen Patienten jemals in der von Dir genannten Weise gedroht hätte. Aber: als Schulmediziner weiss man oft um die Notwendigkeit einer adäquaten Therapie und kennt die Gefahren einer pseudomedizinischen Behandlung, also wird eine kritische Warnung ja wohl erlaubt sein. Letztlich muss aber der Patient selbst entscheiden - und auch die Verantwortung für seine Entscheidung übernehmen.

Bei Gürtelrose und offenen Beinen gibt es gute und wirksame schulmedizinische Behandlungen, wobei es bei letzterem vor allem darauf ankommt: was ist die Ursache für die offenen Beine. Liegt z.B. ein schwerer Diabetes zugrunde, so ist dieser sicherlich nicht heilbar und bei manchen Patienten auch nicht wirklich gut einstellbar, so dass es immer wieder zu Problemen kommen wird. Was aber auch manchmal daran liegt, dass die Patienten die Anweisungen des Arztes nicht einhalten (Diät, regelmässige Medikamenteneinnahme etc.)!

Was die Schmerzen angeht: schon einmal etwas vom "chronischen Schmerzsyndrom" gehört? Das ist eine Erkrankung, bei der der Patient ständig bzw. oft Schmerzen hat, für die in den Untersuchungen (Röntgen, CT, Labor, Ultraschall etc.) keine eindeutige bzw. hinreichende Ursache gefunden werden kann. Diese Krankheiten fallen in den Bereich der Psychosomatik - weil meistens psychische Ursachen zugrunde liegen (z.B. Depressionen, Angst- oder Stresserkrankungen oder psychische Traumata). Die Zeiten, in denen diese Patienten als "Spinner" abgetan wurden, sind aber lange vorbei, weil man mittlerweile (dank ausführlicher Forschung in den letzten 30 Jahren) sehr genau um die Entstehungsmechanismen weiss.

Oftmals gab es irgendwann einmal tatsächlich eine körperliche Ursache für die Schmerzen, aber weil der Patient sich nicht frühzeitig in Behandlung begeben hat bzw. die ärztlichen Anweisungen nicht einhielt, hat das Gehirn den Schmerz quasi "gelernt". Das heisst, obwohl die Ursache für den Schmerz mittlerweile abgeheilt ist, meldet die für die entsprechende Körperregion zuständige Stelle im Gehirn immer noch permanent "Schmerz!".

In der Praxis läuft das dann meistens so ab: ein Patient geht zu seinem Hausarzt, weil er schon seit Monaten Schmerzen im rechten Bein hat. Der Hausarzt untersucht den Patienten gründlich und kann erst einmal nichts Auffälliges oder Richtungsweisendes finden. Also schickt er den Patienten zum Orthopäden, der untersucht noch etwas mehr, macht Röntgenbilder und stellt fest, dass er auch nichts finden kann. Der Hausarzt schickt den Patienten daraufhin zum Neurologen, der nach seinen Untersuchungen zur Sicherheit noch ein MRT der Lendenwirbelsäule machen lässt (könnte ja ein bisher unerkannter Bandscheibenvorfall sein), aber auch er findet nichts. Auch ein hinzugezogener Rheumatologe kann nichts Besonderes feststellen.
Wieder beim Hausarzt, erklärt dieser dem Patienten, dass es sich wahrscheinlich um eines chronisches Schmerzsyndrom handelt, und will ihn zum Psychosomatiker oder Psychiater schicken. In diesem Augenblick sagt der Patient "Ich bin doch nicht verrückt, ich habe Schmerzen im Bein" und bricht die weitere Behandlung ab.
So kurz vorm Ziel. Dem Patienten hätte wirklich geholfen werden können, durch Verhaltenstherapie und Antidepressiva (die bei chron. Schmerzen richtig gut wirksam sind).

Ich habe jahrelang in einer psychosomatischen Reha-Klinik mit chronischen Schmerzpatienten gearbeitet. Viele von diesen kamen zu uns nach dem Grundsatz "Reha vor Rente", d.h. sie hatten wegen ihrer Schmerzen einen Antrag auf Erwerbsunfähigkeitsberentung gestellt, und der Rentenversicherer hatte ihnen aufgetragen, erst einmal eine spezialisierte Reha zu machen. Die Patienten waren dann auch oft entrüstet, in eine "Psychoklinik" zu müssen, und es dauerte oft lange, sie davon zu überzeugen, dass es einen Versuch wert sein könnte, sich auf unser Therapiekonzept einzulassen. Manche haben dies getan, andere haben sich weiter verweigert - sie wollten die Reha nur hinter sich bringen, um endlich ihre Rente zu bekommen. Dass bei solchen Patienten die Schuld nun wirklich nicht bei der Schulmedizin zu suchen ist, dürfte wohl unstrittig sein.

Interessant waren die Behandlungserfolge.
Bei den Patienten, die ohne laufendes oder bevorstehendes Rentenverfahren zu uns kamen, gaben in Nachbefragungen 1 Jahr nach dem Reha-Aufenthalt rund 30% an, ganz schmerzfrei zu sein, bei etwa 60% waren die Schmerzen immer noch besser als vor der Reha und lediglich 10% hatten keine Besserung oder gar eine Verschlechterung erlebt.
Bei den Patienten, die nach dem Grundsatz "Reha vor Rente" bei uns gewesen waren, gaben in der Nachbefragung weniger als 5% an, ganz schmerzfrei zu sein, bei etwa 15% waren die Schmerzen immerhin gebessert, bei etwa 50% waren sie gleich geblieben und bei 30% waren die Schmerzen schlimmer geworden.
Hierbei ist besonders interessant, dass bei denjenigen Patienten, denen inzwischen die EU-Rente gewährt wurde, der Anteil derer, deren Schmerzen zugenommen hatten, überproportional hoch war (fast 50%), während diejenigen, bei denen der Rentenantrag abgelehnt wurde, und die durch Wiedereingliederungsmassnahmen ins Berufsleben zurückgekehrt waren, fast komplett die Gruppe derer stellten, bei denen sich die Schmerzen gebessert hatten.

Also: bevor Du wieder einmal auf die "inkompetenten Schulmediziner" schimpfst, die auch nach Jahren oft nichts finden, frag Dich doch einmal, ob es nicht vielleicht auch an den Patienten liegen könnte. Der Arzt ist immer nur so gut, wie der Patient bzw. dessen Bereitschaft zur Zusammenarbeit (man nennt das: Compliance).

In diesem Sinne ist auch Deine Frage

    Für wie blöde haltet Ihr eigentlich eure Mitmenschen?

beantwortet.

Übrigens: der Deutsche geht ja auch sehr gerne zum Arzt - im Schnitt 18,1 Mal im Jahr. Damit sind die Deutschen "Weltmeister" im Arztbesuch. Viele sind oft ganz schön sauer, dass der Doktor sie wegen ihres Schnupfens nicht gleich einen Monat krank schreibt - dann gehen sie halt zu einem anderen Arzt und verursachen damit enorme Kosten im Gesundheitswesen. Und sie sind damit mitschuldig daran, dass die Ärzte in Deutschland heutzutage so wenig Zeit für den einzelnen Patienten haben. Leider haben die Kassenärztlichen Vereinigungen beschlossen, dass 5 Minuten Gespräch mit dem Patienten ausreichend sind, mehr wird nicht bezahlt. Aber bitte: wenn Du mir die vollen 2-3 Stunden aus eigener Tasche bezahlst, die Du sonst zum Homöopathen gehst (wo Du ja auch selber zahlen musst), kann ich Dir auch gerne so lange zuhören.

Ganz anders in der Schweiz (wo ich seit 2.5 Jahren lebe): da werden bis zu 35 Minuten Gespräch von der Kasse vergütet. Wo in Deutschland die Ärzte 40 bis 60 Petienten pro Tag sehen, sind es in der Schweiz gerade einmal 25 bis 30. Aber der Schweizer geht auch nur 3.6 Mal im Jahr zum Arzt - damit sind die Schweizer das positive Schlusslicht in ganz Europa. Und der Krankenstand in der Schweiz ist nur halb so hoch, wie in Deutschland, die Chronifizierungsrate von Erkrankungen 40% niedriger und das Gesundheitswesen ist gesund, stabil und die Krankenkassenbeiträge niedriger als in Deutschland - obgleich man in der Schweiz (netto) fast das Doppelte verdient.
Aber der Schweizer hat auch mehr Gemeinsinn - er will nicht auf Kosten der Gemeinschaft leben, seinen Teil beitragen und tut gerne alles, was der Arzt ihm sagt, um gesund zu werden.

heterodyne


Grey

ein guter Kommentar, den sollte man Einrahmen und an den Eingang stellen damit ihn jeder liest.

Skepsis

Zitat von: Grey am 17. November 2010, 23:17:50
ein guter Kommentar, den sollte man Einrahmen und an den Eingang stellen damit ihn jeder liest.

+1

Gruß