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Medizinkritiker Ben Goldacre - FR 30. März 2010

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Begonnen von twister, 08. April 2010, 21:07:21

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twister

"Die Patienten sind verwirrt" - Medizinkritiker Ben Goldacre über schädliche Vitamine und wirkungslose Homöopathie

Quelle: Frankfurter Rundschau - 30. März 2010

http://www.fr-online.de/in_und_ausland/wissen_und_bildung/aktuell/?em_cnt=2481970&em_cnt_page=1 :

"Mr. Goldacre, Sie haben eine Vollzeit-Stelle als Arzt, unterrichten Studenten und betreiben nebenher für Ihre Kolumne "Bad Science" in der Zeitung Guardian einen immensen Recherche-Aufwand, um die Öffentlichkeit über schlechte Forschung aufzuklären - sind Sie von Wissenschaft besessen?

Ich wollte nicht schreiben, aber ich wurde dazu geprügelt durch den täglichen Mist in Werbung und Medien. Da werden Viren als Bakterien bezeichnet, erfundene Statistiken veröffentlicht und so weiter. In Großbritannien gab es eine mächtige Kampagne gegen die kombinierte Mumps-Masern-Röteln-Impfung, die viele ethische Grenzen überschritten hat. Ein Arzt hatte in einer völlig unzureichenden Studie mit zwölf Kindern eine Verbindung zwischen der Impfung und Autismus hergestellt.

Diese Studie war vom renommierten Medizinjournal "The Lancet" veröffentlicht worden - vor wenigen Wochen wurde sie als fehlerhaft zurückgezogen.

Ja, endlich. Wegen der Studie machten die Medien neun Jahre Panik, obwohl es wertvolle Untersuchungen mit tausenden Probanden gab, die den Autismus-Verdacht widerlegten. Die Impfrate in Großbritannien ist daraufhin gesunken. Kinder wurden gefährdet, jemand musste etwas tun.

Jetzt wurde die Kampagne als Unsinn entlarvt, Ihr gerade auf Deutsch erschienenes Buch "Die Wissenschaftslüge" ist in Großbritannien ein Bestseller. Welche Ziele haben Sie noch?

Es wird noch genügend Bockmist verzapft, Alternativmediziner, Pharmaunternehmen, Hersteller von Vitamin-Präparaten, die Kosmetik-Industrie, sie alle überschütten uns mit Lügen, Halbwahrheiten und Unsinn.

Sie beschäftigen sich mit der Nahrungsergänzungsmittel-Industrie. In einem Beipackzettel eines Vitaminpräparats lese ich: "Der Zusammenhang von freien Radikalen und der Entstehung unterschiedlicher gesundheitlicher Störungen ist inzwischen unbestritten. Vor allem Gruppen mit erhöhtem Bedarf (Stress, Raucher, Schwangerschaft) haben einen Mehrbedarf."

Das beruht auf einer längst veralteten Theorie. Freie Radikale sind sehr reaktive Moleküle, die zum Beispiel unsere Erbsubstanz schädigen können. Antioxidantien wie zum Beispiel die Vitamine C, E und A können freie Radikale im Reagenzglas binden und unschädlich machen. Vor 20 Jahren dachte man: Prima, dann wird es also gegen Krebs und Alterserscheinungen helfen, wenn man Antioxidantien schluckt. Heute wissen wir: Antioxidantien können das Krebsrisiko erhöhen.

Den Verbrauchern werden Pillen verkauft, die vorbeugend gegen Krebs sein sollen - und diese sind in Wirklichkeit schädlich?

Wenn man sich alle wissenschaftlich sauberen Studien anschaut, die jemals zu Antioxidantien gemacht wurden - das umfasst 230000 Menschen, an denen man vor allem den Effekt von Vitamin-A- und Vitamin-E-Tabletten untersucht hat - dann zeigt sich, dass die Vitamingaben das Sterberisiko nicht etwa herabsetzen, sondern sogar erhöhen.

Das wäre ein Skandal!


Nahrungsergänzungsmittel sind längst nicht so gefährlich wie Tabak. Aber es ist schon bemerkenswert, dass Pillen die bestenfalls wirkungslos und vielleicht sogar schädlich sind, von so vielen Menschen unkritisch geschluckt werden. Man sieht daran, wie eine überzogene Ernährungseinstellung missbraucht wird, um uns überteuerte Pillen anzudrehen. Die braucht man bestimmt nicht um gesund zu leben. Bewegung, viel Obst und Gemüse, nicht rauchen, wenig Alkohol trinken, Übergewicht vermeiden, das sind die wichtigsten Zutaten für die Gesundheit.

Wie kommt es, dass der Glaube an die segensreiche Kraft der Antioxidantien so verbreitet ist?

Die Nahrungsmittelergänzungs-Industrie setzt weltweit 55 Milliarden Dollar pro Jahr um und hat eine enorme Vermarktungsmaschinerie.

In diesem Zusammenhang kritisieren Sie auch die Homöopathen - warum?

Der Erfolg von Homöopathen zeigt, dass es einen Markt für diese altmodische Medizin gibt. Die Leute zahlen, um von einer vermeintlichen Autoritätsperson belogen zu werden. Die Patienten sind verwirrt, aber glücklich.


Hört sich an, als gäbe es Schlimmeres - besonders bei weniger ernsten Erkrankungen.


Man darf eines nicht vergessen: Der Placebo-Effekt ist wirklich stark. Wir wissen, dass vier Zuckerpillen effektiver ein Magengeschwür behandeln, als zwei! Der Placebo-Effekt beruht auf unserem Glauben an eine Therapie.

Aber wenn der Arzt genauso dran glaubt wie der Patient?


Dann haben wir ein ganz anderes Problem: Die Ignoranz gegenüber Beweisen. Betrachtet man alle fairen Studien, die je über Homöopathie gemacht wurden, also ausgenommen diejenigen, die allein schon durch ihr Studiendesign die Wahrscheinlichkeit eines falsch positiven Ergebnisses erhöhen, dann findet man, dass homöopathische Zuckerpillen nicht besser wirken als normale Zuckerpillen. Das ist keine Überraschung, denn sie unterscheiden sich von normalen Zuckerpillen nur dadurch, dass sie in einer Zeremonie behandelt wurden.

Warum nehmen wir so gerne Tabletten?


Es gibt einen sehr tief sitzenden Trieb, mechanische Lösungen für Probleme zu finden, die eher soziale, kulturelle, politische oder persönliche Gründe haben. In Großbritannien wurden Kindern an Problemschulen Fischöl-Kapseln gegeben, damit sie sich besser benehmen und bessere Leistungen in der Schule erzielen sollten. Und ich frage mich: Jesus, denkt ihr wirklich, das Problem von schlechtem Benehmen und schlechten Leistungen kann man mit einer Pille lösen?

Eine solche Argumentation wird man aber nicht von einem Homöopathen hören.


Das ist ein krasses Beispiel, aber im Prinzip funktioniert Homöopathie doch genauso: Für jedes Zipperlein gibt es Pillen. Das ist eben viel einfacher, als nach den wahren Ursachen von Problemen zu suchen.

Die Alternativmediziner werfen der Pharmabranche vor, dass sie genau dieses Denken schürt: gegen jedes Unwohlsein ein Medikament.

Pharmaunternehmen machen einige furchtbare Dinge. Sie halten Beweise zurück, sie verstecken missliebige Daten, sie führen Ärzte in die Irre darüber, welche Therapien gut sind und welche nicht. Viele Menschen haben ein ungutes Gefühl angesichts der ungeheuren Macht der multinationalen Arzneimittelkonzerne. Häufig leitet sich daraus folgende Argumentation ab: Die pharmazeutische Industrie ist böse, dagegen helfen homöopathische Pillen - und das ist absoluter Unsinn. Die Alternativmediziner haben die gleichen Methoden. Das ist das wahre Verbrechen dieser Quacksalber: Sie tun so, als ob sie Rebellen sind - und in Wirklichkeit sind sie Geschäftsleute, die versuchen ihr Zeug zu verkaufen. Sie lenken uns ab, von der viel wichtigeren Kritik an der Pharmaindustrie.

Interview: Frederik Jötten