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EU-Regulationswut - diesmal im Gemüsegarten

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Begonnen von sweeper, 23. April 2013, 15:40:06

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sweeper

http://deutsche-wirtschafts-nachrichten.de/2013/04/23/eu-will-anbau-von-obst-und-gemuese-in-gaerten-verbieten/
Zitat
Die EU-Kommission arbeitet an einer Neuregelung des europäischen Saatgut-Marktes in Form einer Verordnung. Damit wird eine Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs vom Juli 2012 verrechtlicht: Landwirte dürfen nur mehr amtlich zugelassenes Saatgut verkaufen. Bisher waren alte und seltene Saatgut-Sorten ausgenommen, die in althergebrachter Tauschwirtschaft gezüchtet und in meist kleinen Mengen gehandelt wurden. Geht es nach den Plänen der Kommission, dürfen Kleinbauern oder Privatleute  ihr selbst gezüchtetes Saatgut in Zukunft nicht einmal mehr verschenken...

Panikmache, oder was ist dran?

Damit wären wir wieder bei diesem treffenden Kommentar:

ZitatEs ist schon merkwürdig: Wir regulieren den Krümmungsgrad der Gurke, den Wasserverbrauch von Duschbrausen und den Energieverbrauch von Lampen. Aber wir sind nicht in der Lage, die Qualität der "Heilberufe" sowohl im Human- als auch im Veterinärmedizinischen Bereich vernünftig zu regulieren. Ich denke, das ist der Kern des angesprochenen Problems.

Im ORF ist/war das Thema einer Science-Sendung:

http://orf.at/stories/2177429/2177431/
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Omikronn

ZitatZiel ist die Kontrolle der gesamten Lebensmittelproduktion durch einige wenige Großkonzerne
Aus meiner sicht disqualifiziert sich aber der Artikel mit solchen Aussagen für die er auch keine Belege liefert selbst. Sorry aber das hört sich für mich sehr nach einer klassischen Monsanto-VT an mit der EU als Rosinenzugabe.
Don't try to argue with idiots, first they tear you down to their level, then they beat you with their experience.

zwingenberger

Vor allem passen die Sätze in den DWN nicht zusammen, sie sind zumindest nicht folgerichtig:

ZitatLandwirte dürfen nur mehr amtlich zugelassenes Saatgut verkaufen....
Geht es nach den Plänen der Kommission, dürfen Kleinbauern oder Privatleute  ihr selbst gezüchtetes Saatgut in Zukunft nicht einmal mehr verschenken

In dem ORF-Beitrag sieht das wieder etwas anders aus. Zumindest unausgegoren ist die Berichterstattung.

sweeper

http://www.bmelv.de/SharedDocs/Standardartikel/Landwirtschaft/Pflanze/Acker-Pflanzenbau/SaatguturteilEuGH.html
Zitat
Regelung zum Saatguthandel alter Pflanzensorten bleibt bestehen

Das Bundesverbraucherministerium begrüßt das Urteil des Europäischen Gerichtshofs vom 12. Juli 2012 zum Saatguthandel.

Der Europäische Gerichtshof (EuGH) bestätigt mit seinem Urteil das geltende gemeinschaftliche Saatgutrecht. Das gilt auch für die im Gemeinschaftsrecht spezielle Ausnahmeregelung für alte Sorten, sogenannte Erhaltungssorten.

Nach den Saatgutrichtlinien der Europäischen Union darf nur Saatgut von amtlich zugelassenen Pflanzensorten vermarktet werden. Da alte Pflanzensorten überwiegend die strengen Anforderungen der Sortenzulassung nicht erfüllen können, gibt es seit dem Jahr 2008 im Gemeinschaftsrecht spezielle Ausnahmeregelungen für sog. Erhaltungssorten, nach denen diese Sorten nach vereinfachten Kriterien zugelassen werden können.

Diese Regelungen sind auch in Deutschland entsprechend in nationales Recht umgesetzt worden.

Das Bundesverbraucherministerium begrüßt das Urteil des Europäischen Gerichtshofs. Es ist eine Entscheidung für den Erhalt der Sortenvielfalt und für die Verbraucher. Damit bleibt gewährleistet, dass nur qualitativ hochwertiges Saatgut in der EU in Verkehr gebracht werden darf. Das Urteil sichert die Wettbewerbsfähigkeit der Landwirtschaft im Hinblick auf die Herausforderungen der Zukunft und den Schutz und den Erhalt pflanzengenetischer Ressourcen. Damit wird der Vertrieb von alten Sorten wie bisher möglich sein

Der nachfolgende Text ist ein bisschen kompliziert in der Wortwahl:
http://curia.europa.eu/jcms/upload/docs/application/pdf/2012-07/cp120097de.pdf

Immerhin geht daraus hervor, dass es tatsächlich in Frankreich zu einer Art Präzedenzfall gekommen ist:

ein nicht kommerzieller Züchter "alter Sorten" wurde von einem Saatgutkonzern gerichtlich wegen angeblichen Verstoßes gegen die EU-Richtlinie belangt und in erster Instanz zu Schadensersatzleistungen verurteilt.
Das Berufungsgericht wandte sich daraufhin an die entsprechende EU-Behörde:

ZitatMit Urteil vom 14. Januar 2008 verurteilte das Tribunal de grande Instance de Nancy (Frankreich) die Vereinigung ohne Erwerbszweck Kokopelli dazu, dem Saatgutunternehmen Graines Baumaux Schadensersatz wegen unlauteren Wettbewerbs zu zahlen. Dieses Gericht stellte fest, dass Kokopelli und Baumaux im Bereich alten oder Kollektions-saatguts tätig seien, in 233 Fällen identische oder ähnliche Erzeugnisse vertrieben und sich an dieselbe Kundschaft von
Hobbygärtnern wendeten und daher in Wettbewerb mit einander stünden. Das Gericht kam infolgedessen zu dem Schluss, dass Kokopelli unlautere Wettbewerbshandlungen dadurch vornehme, dass sie Saatgut für Gemüsepflanzen zum Verkauf anbiete, das weder im französischen Katalog noch im gemeinsamen Katalog für Gemüsesorten enthalten sei.
Kokopelli legte gegen dieses Urteil Berufung bei der Cour d'appel de Nancy ein, die den Gerichtshof nach der Gültigkeit der Richtlinie über den Verkehr mit Gemüsesaatgut und der Richtlinie mit Ausnahmeregelungen für ,,Erhaltungssorten" und ,,für den Anbau unter besonderen Bedingungen gezüchtete Sorten" fragt...
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sweeper

Mit den Inhalten und Implikationen der oben verlinkten Stellungnahme bzw des Urteils setzt sich nun wieder dieses doc auseinander:

http://www.saatgutkampagne.org/PDF/Einschaetzung_EuGH_Urteil.pdf

Zitat3. Einschätzung des Urteils

Der EuGH hatte in diesem, wie auch in anderen Fällen, eigentlich zwei Fragen zu entscheiden. Einerseits, die inhaltliche Frage, ob die genannten Richtlinien gegen höherrangige Rechtsprinzipien verstoßen und deswegen nicht gültig ist; andererseits und implizit aber auch die Frage, inwieweit der EuGH als Gericht dazu berufen ist, die vom Gesetzgeber getroffenen politischen Entscheidungen zu überprüfen und durch eine eigene zu ersetzen.

Im Ergebnis ist das Urteil bedauerlich. Die Schwächen in der Argumentation des EuGH finden sich allerdings in meinen Augen stärker auf der tatsächlichen Ebene als auf der rechtlichen.
In faktischer Hinsicht argumentieren Erhaltungsinitiativen ja gerade seit Jahren, dass die Ausnahmeregelungen für Erhaltungssorten so eng sind, dass es de facto schwierig ist, entsprechende Sorten zu erhalten und damit die Erhaltungsarbeit schwieriger wird und die landwirtschaftliche Vielfalt potentiell gefährdet ist. Darauf geht der EuGH gar nicht ein.
Generalanwältin Kokott hatte demgegenüber in ihrem Antrag – allerdings ohne weitere Nachweise – die Ansicht vertreten, dass die Sortenv ielfalt in der Landwirtschaft zurückgeht; dies könne z. B. angesichts des Klimawandels Probleme bereiten und die Auswahl der Endverbrauchers an Agrarprodukten sei eingeschränkt . Der Verlust an Sortenvielfalt sei teilweise auf die EU-Regelungen zurückzuführen. Das spielt aber weder in der Argumentation des EuGH noch derjenigen der Generalanwältin im Endeffekt eine wichtige Rolle.

Das EuGH-Urteil verweist letztlich darauf, dass auf der EU-Ebene politisch die falschen Prioritäten gesetzt werden – (vermeintliche) ,,Produktivitätssteigerung" statt genetische Vielfalt, Einheitlichkeit von Saatgut statt lokal angepasster Sorten, Wirtschaftsfreiheit statt Vorrang des Umweltschutzes. Es ist aber nicht in erster Linie Aufgabe eines Gerichts, diese falschen Prioritäten zu korrigieren. Leider legt der EuGH eine entsprechende Zurückhaltung nicht immer an den Tag.
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sweeper

Ein engagierter und ausgewogener Bericht:

http://www.freitag.de/autoren/der-freitag/die-saat-des-guten
Zitat
Das Kokopelli-Verfahren

Doch erst kürzlich hat der Europäische Gerichtshof (EuGH) die Gültigkeit der Richtlinien in einer Vorabentscheidung, die ein französisches Gericht im sogenannten Kokopelli-Verfahren angefordert hatte, bestätigt. Kokopelli, eine gemeinnützige Organisation in Frankreich, setzt sich für die Wiedereinführung alter Gemüse-, Blumen- und Getreidesorten in Europa ein, verkauft Biosaatgut alter Kulturpflanzen und gibt Samen seltener oder gefährdeter Sorten an ihre Unterstützer unentgeltlich ab. Im Dezember 2005 klagte das mittelständische, französische Saatgutunternehmen Graines Baumaux gegen sie wegen unlauterem Wettbewerb und forderte einen Schadensersatz von 50.000 Euro. Die Entscheidung des EuGH hatte in den Medien für großen Wirbel gesorgt, denn die Generalanwältin, deren Gutachten sich die Richter normalerweise anschließen, war Kokopelli in ihrer Argumentation überraschend weit gefolgt. Das Urteil des Obersten Gerichtshof von Nancy steht noch aus.

Das Verfahren zeigt einmal mehr, mit welchen Schwierigkeiten idealistische Erhalterinitiativen konfrontiert sind, sobald sie das sorgfältig gepflegte und vermehrte Saatgut unter die Leute bringen wollen. ,,Mit der Erhaltung alter Sorten kann man kein großes Geld machen, dafür sind es zu viele und die Arbeit mit ihnen zu aufwändig", versichert Susanne Gura vom VEN. Statt aber finanzielle Unterstützung und offizielle Anerkennung zu bekommen, kämpfen die Erhaltervereine im Extremfall – wie Kokopelli – um die eigene Existenz...
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mossmann

Die Meldung macht extrem die Runde momentan. Viel auch im VT-Kontext.
Offizieller Sprecher des gemäßigten Flügels der Psiram-Jugend

sweeper

Zitat von: mossmann am 24. April 2013, 10:29:23
Die Meldung macht extrem die Runde momentan. Viel auch im VT-Kontext.

Genau aus dem Grund lohnt es sich zu erforschen, wie der Sachverhalt genau aussieht.
Allerdings finde ich es beunruhigend und aufschlussreich, dass tatsächlich ein Saatgutkonzern versucht, die Unübersichtlichkeit des EU-Rechts auszunutzen, um eine lobenswerte Bürgerinitiative einzuschüchtern.

Kann man diese alten Sorten nicht zum Weltkulturerbe erklären?

Mit derartigen Vorfällen wird doch nur die EU-Verdrossenheit der Bürger genährt.
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ajki

An sich dürfte ich wegen vollkommener Ahnungslosigkeit auf dem Gebiet des Sortenschutzes, der Agrarwirtschaft im allgemeinen und dem willentlichen Nichtbeachten sensationalistischer, dafür doppelt unseriöser SEO-Blogs nichts zu dem Thema beitragen. Aber da ich schon nicht weiß, was "EU-Regulationswut" ist, stört das restliche Nichtwissen auch nicht weiter (Erläuterung: eine der vielen pikanten Verhaltensweisen europäischer Parlamentsabgeordneter ist es, sich tierisch über die Überregulierer im faschistoiden EU-Regime aufzuregen, verbunden mit der Angabe, man könne da national ja leider nichts mehr machen - bei Unterschlagung der ansonsten natürlich unerheblichen Tatsache, dass es oftmals die Abgeordneten der *eigenen* Fraktion waren, die im eur. Parlament oder im Ministerrat oder in der Kommission genau das eingebracht haben, was man eine Zeitlang später so vehement in der eigenen nationalen Presse beschimpft).

Aber als eifriger TV-Betrachter ist mir noch gut der "KAMPF UM LINDA" erinnerlich und das wackere Wirken eines bodenständiger Bio-Bauers [SpON] darin. Der wiederum begrüßt im Rahmen des Siegeszugs für Linda und vgbl das Urteil. Und wenn das Urteil "verrechtlicht" werden wird (heißt: die frühere Ausnahme bleibt als rechtsgeschütztes Gut dauerhaft den Nachbauern und Kleinzüchtern erhalten), dann wird er endgültig gewonnen haben gegen das verbrecherische Monsan... äh, Europlant.

Und was das alles wiederum mit Lieschen Müller und ihrem gärtnerischen Pflanzbestreben zu tun hat, das sich frühjahrs im wesentlichen auf das Einpflanzen von Baumarkt-Blümchen (hauptsächlich: viel!) beschränkt, weiß ich natürlich schon gar nicht.
every time you make a typo, the errorists win

sweeper

@ajki:

ZitatUnd was das alles wiederum mit Lieschen Müller und ihrem gärtnerischen Planzbestreben zu tun hat, das sich frühjahrs im wesentlichen auf das Einpflanzen von Baumarkt-Blümchen (hauptsächlich: viel!) beschränkt, weiß ich natürlich schon gar nicht.

Nein, damit hat es auch nichts zu tun...

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sweeper

Für diejenigen, die den Sachverhalt nicht kennen und denen die oben zitierten EU-Texte auf die Schnelle zu kompliziert sind - hier eine übersichtliche Zusammenfassung der Fakten:

http://www.tagesschau.de/wirtschaft/saatgut102.html
http://lelf.brandenburg.de/cms/detail.php/bb1.c.300892.de

Warum das Thema aktuell wieder durch den Medienwald und durch die VT-Landschaft geistert, erschließt sich mir nicht.
Vielleicht steht demnächst in Frankreich die Entscheidung des Berufungsgerichts in Sachen Kokopelli an?

Offenbar hat der Vorfall, dass eine genmeinnützige Initiative tatsächlich in erster Instanz von einem Saatgut-Konzern zu Schadensersatzzahlungen verurteilt wurde, zu nachhaltiger Verunsicherung darüber geführt, ob es künftig nicht doch immer wieder zu Versuchen kommen wird, "gefühlte" Marktkonkurrenten im Bereich "Alte Sorten" über Prozesse in die Knie zu zwingen. Von einer wirklichen wirtschaftlichen Konkurrenz bzw unlauterem Wettbewerb kann hier wohl kaum die Rede sein.  ::)
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