Neuigkeiten:

Wiki * German blog * Problems? Please contact info at psiram dot com

Main Menu

Der Rückschaufehler - Was man im Nachhinein alles vorher wissen konnte

Postings reflect the private opinion of posters and are not official positions of Psiram - Foreneinträge sind private Meinungen der Forenmitglieder und entsprechen nicht unbedingt der Auffassung von Psiram

Begonnen von Wolleren, 02. Juni 2011, 21:55:58

« vorheriges - nächstes »

Wolleren

Printausgabe der FAZ vom 1.6.2011, von Miloš Vec 1

----------------------------------------------------
Der Rückschaufehler 
Was man im Nachhinein alles vorher wissen konnte
Aus Schaden wird man klug, heißt es im Sprichwort. Sorgfaltsmaßstäbe und Sorgfaltsvorkehrungen werden neu verhandelt, Sicherheitsstandards überprüft. So geschah es nach dem 11. September, der Bankenkrise und nun auch nach Fukushima. Hätte man es nicht alles wissen können, wenn man genauer hingesehen hätte, die Vorschriften strenger, die Kontrollen häufiger und die Maßreglungen der Aufsicht energischer gewesen wären? Am Ende der Debatte tritt idealerweise eine Selbstvergewisserung ein, wonach man es nun besser weiß und für die Zukunft gegen solche Schädigungen gewappnet ist.
   Doch solche Lerneffekte können auch ihre Kehrseite haben:  wenn nach dem Schadenseintritt um die Zuweisung von Verantwortung gestritten wird – gerichtlich, moralisch oder politisch. Den Juristen ist dies Problem hinlänglich bekannt, ohne dass es ein Patentrezept für seine Lösung gäbe (Vito Roberto und Kristoffel Grechenig, ,,Rückschaufehler (,Hindsight Bias') bei Sorgfaltspflichtverletzungen", in: Zeitschrift für Schweizerisches Recht 130. Jg., 2011, Heft  1).
   Im Kern geht es dabei um die Vorhersehbarkeit eingetretener Ereignisse. Diese ist, so haben zahlreiche Experimente eindrucksvoll belegt, aufgrund einer kognitiven Täuschung systematisch verzerrt. Der Eintritt des Schadens erscheint nach dem Ereignis wahrscheinlicher als vorher. Wird nach einem solchen Ereignis über die Verantwortung für Schäden gestritten, bedeutet das, dass sich der Fahrlässigkeitsmaßstab unmerklich verschiebt.  Keine (höheren) Sicherheitsmaßnahmen ergriffen zu haben erscheint nun nicht mehr vernünftig, sondern fahrlässig.
   Solche Verschiebungen haben Juristen zusammen mit Psychologen auf verschiedenen Feldern untersucht. Zur ihnen gehören unternehmerische Entscheidungen wie Investitionen oder Beteiligungen. Manche Hoffnung aus den Anfängen des Internets2 erscheint hier im Nachhinein geradezu verrückt, bestimmte Folgen, wie etwa der Konkurs von Unternehmen, werden sogar kriminalisiert; beharrliche Sanierungsversuche werden damit zur strafrechtlich relevanten Konkursverschleppung.  Auch das Umwelt- und Technikrecht muss sich mit fahrlässig herbeigeführten Schäden auseinandersetzen. Dabei besteht die Neigung, intuitiv aus dem Schaden auf ein sorgfaltswidriges Verhalten zu schließen. Umgekehrt stellt sich jedoch manche Furcht auch als Phantomrisiko dar, man denke etwa an das ,,Jahr-2000-Problem".
   Für die Rechtspraxis wird das spätestens da zum Problem, wo Haftungsmaßstäbe im Nachhinein so verschoben werden, dass die Anforderungen der Vorhersehbarkeit überspannt sind. Straf- und Zivilrecht müssen hingegen stets die Perspektive vor dem Schadenseintritt einnehmen, also jene, die sich den Akteuren in der Entscheidungssituation bot. Rasierpinsel neigen an und für sich nicht zur Selbstentzündung. Das ist aber umso schwieriger, als dem Rückschaufehler durchaus plausible Motive zugrunde liegen: Der Menschlegt das Wissen über den Ausgang der Situation zugrunde, und auch die Kohärenz einer Geschichte, die Versäumnisse mit Schäden verknüpft, ist höher. Die Welt erscheint damit berechenbarer als sie es tatsächlich ist, und zwar gerade aus Sicht besonders sorgfältiger Menschen.
   Konsequent neigen denn auch Personen mit einem starken Bedürfnis nach Sicherheit und einer sinnhaften Welt eher zu Rückschaufehlern als andere. Solche Gewissenhaftigkeit dürfte sich besonders bei Richtern ausmachen lassen, die nun pikanterweise von Berufs wegen über Fahrlässigkeitsvorwürfe zu entscheiden haben. Warnungen vor dem Rückschaufehler haben keinen Effekt, Orientierung an juristischen Verfahrensgrundsätzen können verringernd wirken, ihn aber nicht beseitigen. Als Korrektiv empfehlen Roberto und Grechenig die öffentlich-rechtlichen und privatrechtlichen Richtlinien, in denen Sorgfaltsstandards niedergelegt sind.
Damit soll die Anmaßung von Institutionen gemildert werden, die später die stets klügere Entscheidung gewusst haben wollen. Ökonomen, Manager und Ingenieure sollen stattdessen ihre Freiräume zurückerhalten, Entscheidungen in angemessenen Verfahren und auf informierter Grundlage zu treffen. Damit könnten die negativen Folgen der Vergerichtlichung von Konflikten einerseits etwas entschärft werden. Andererseits tauchen neue Fragen auf. Sie betreffen etwa die Rolle des Haftungsrechts bei der Produktion von Sicherheitsstandards, die womöglich ausgehöhlt wird. Und jenseits des Individuellen wüsste man auch gerne, wie es sich kulturvergleichend mit dem Rückschaufehler verhält: Gibt es Kulturen der Verantwortlichkeit, in denen reflexartig Fahrlässigkeitsvorwürfe erhoben werden, während andere einen fatalistischeren Umgang mit Schäden pflegen? 3
----------------------------------------------------

1  dieser schöne Artikel muss ins Netz, die FAZ möge dies als Reklame für ihre Rubrik ,,Geisteswissenschaften", immer mittwochs, verstehen.
2 *niederknie* der Genitiv von ,,Internet", es gibt ihn noch!
3 Sich selbst nach einem kaum vorhersehbaren Schadensfall  fehlende Voraussicht vorzuwerfen, ist eine Folge des Rückschaufehlers. Zur Kompensation findet man dann geniale Leute, die es schon vorher gewusst haben: Zukunftsdeuter, Astrologen und Verschwörungstheoretiker.

Ridcully

Schön und gut, nur sind die Beispiele alle völlig daneben. Jedem denkenden Menschen erschienen viele zur Zeit der Internetblase großzügig finanzierte Projekte schon immer als verrückt. Das Jahr-2000 Problem war eben mitnichten ein Phantomrisiko, sondern ein sehr reales und gut bekanntes, mit dem eben deshalb auch kaum wer fahrlässig umging. Konkurs muss man anmelden, wenn man zahlungsunfähig ist. Und ob man zahlungsunfähig ist, weiss man. Ob man meint, irgendwann wieder zahlungsfähig zu sein, ist irrelevant. Sanieren kann man dann auch im Konkursverfahren.

Zum sich selbst entzündenden Rasierpinsel würde ich aber gerne mehr hören!

Graf Zahl

Zitat von: Ridcully am 03. Juni 2011, 09:47:36
Zum sich selbst entzündenden Rasierpinsel würde ich aber gerne mehr hören!

Wenn der vorher in Leinöl getaucht wurde, könnte das sogar klappen.