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Stuttgarter Zeitung "Idioten spielen sich als Experten auf"

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Begonnen von Roadrunner, 17. März 2010, 12:28:52

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Roadrunner

http://www.stuttgarter-zeitung.de/stz/page/2423008_0_7154_--quot-idioten-spielen-sich-als-experten-auf-quot-.html


Zitat
"Idioten spielen sich als Experten auf"
Artikel aus der STUTTGARTER ZEITUNG vom 17.03.2010
Wissenschaft
Der britische Mediziner Ben Goldacre kritisiert die wissenschaftliche Berichterstattung in den Medien. Studien werden oft falsch zitiert oder verfälscht dargestellt. Darüber schreibt der mittlerweile recht bekannte Kritiker regelmäßig in einer Kolumne im "Guardian".


Ben Goldacre ist Arzt, unterrichtet Studenten am King"s College in London und schreibt die Kolumne "Bad Science" im "Guardian" mit immensem Rechercheaufwand, um die Öffentlichkeit über schlechte Forschung aufzuklären.

Herr Goldacre, über was haben Sie sich so geärgert, dass Sie mit der Kolumne angefangen haben?

In Großbritannien gab es eine mächtige Kampagne gegen die kombinierte Mumps-Masern-Röteln-Impfung, die viele ethische Grenzen überschritten hat. Ein Arzt hatte in einer völlig unzureichenden Studie mit zwölf Kindern eine Verbindung zwischen der Impfung und Autismus hergestellt. Daraufhin machten die Medien neun Jahre Panik, obwohl es wertvolle Untersuchungen mit Tausenden Probanden gab, die diesen Verdacht widerlegten. Und dann gibt es noch den täglichen Mist: Viren, die als Bakterien bezeichnet werden, Ahnungslosigkeit über klinische Studien, erfundene Statistiken . . . Ich wurde dazu geprügelt, die Kolumne zu schreiben.

Was ist Ihr Ziel?

Ich muss zugeben: Es macht mir zunächst Spaß, zu zeigen, dass Leute, die sich wahnsinnig groß als Experten aufspielen, Idioten sind. Aber ich versuche auch, meinen Lesern etwas wissenschaftliches Denken für den Alltag mitzugeben. Ich nehme Behauptungen, die jemand im Fernsehen, in der Zeitung oder in der Werbung gemacht hat und ich untersuche, was dran ist. In diesem Prozess zeige ich der Öffentlichkeit, wie Wissenschaft funktioniert. Zu kritisieren, ist das Herz der Wissenschaft.

Sie beschäftigen sich mit der Nahrungsergänzungsmittel-Industrie. In einem Beipackzettel eines Vitaminpräparats steht: "Der Zusammenhang von freien Radikalen und der Entstehung unterschiedlicher gesundheitlicher Störungen ist inzwischen unbestritten."

Das beruht auf einer längst veralteten Theorie. Freie Radikale sind sehr reaktive Moleküle, die zum Beispiel unsere Erbsubstanz schädigen können. Antioxidantien wie etwa die Vitamine C, E und A können freie Radikale im Reagenzglas binden und unschädlich machen. Vor 20 Jahren dachte man: Prima, dann wird es gegen Krebs und Alterserscheinungen helfen, wenn man Antioxidantien schluckt. Heute wissen wir: So einfach ist es leider nicht. Antioxidantien können das Krebsrisiko erhöhen.

Den Verbrauchern werden Pillen verkauft, die vorbeugend gegen Krebs sein sollen - und diese sind in Wirklichkeit schädlich?

Wenn man sich alle wissenschaftlich sauberen Studien anschaut, die zu Antioxidantien gemacht wurden, dann zeigt sich, dass die Vitamingaben das Sterberisiko nicht etwa herabsetzen, sondern erhöhen: An 230 000 Menschen hat man den Effekt von Vitamin-A- und -E-Tabletten untersucht.

Das wäre ein Skandal!

Nahrungsergänzungsmittel sind längst nicht so gefährlich wie Tabak. Aber es ist schon bemerkenswert, dass Pillen, die bestenfalls wirkungslos und vielleicht sogar schädlich sind, von so vielen Menschen unkritisch geschluckt werden. Man sieht daran, wie eine überzogene Ernährungseinstellung missbraucht wird, um uns überteuerte Pillen anzudrehen. Die braucht man bestimmt nicht, um gesund zu leben. Bewegung, viel Obst und Gemüse, nicht rauchen, wenig Alkohol trinken, Übergewicht vermeiden - das sind die wichtigsten Zutaten für die Gesundheit.

Wie kommt es, dass der Glaube an die segensreiche Kraft der Antioxidantien heute so weit verbreitet ist?

Die Nahrungsmittelergänzungs-Industrie setzt weltweit 55 Milliarden Dollar pro Jahr um und hat eine enorme Vermarktungsmaschinerie. Sobald jemand Beweise veröffentlicht, dass die Produkte unwirksam oder schädlich sind, reagieren die PR-Leute, indem sie mit Pseudoargumenten Kritik an den veröffentlichten Daten üben. Dabei gehen sie nach dem typischen Muster der Alternativmedizinbranche vor.

Nämlich welchem?

Weil es unmöglich ist, dass sie die Kritik an ihren Produkten vernünftig widerlegen, müssen sie die gesamte evidenzbasierte Medizin angreifen, das Verfahren, durch das wir erfahren haben, dass Rauchen krebserregend ist. Sie ist eine der schönsten Erfindungen der letzten 100 Jahre, die Abermillionen Menschenleben gerettet hat. Quacksalber, Alternativmediziner und Impfgegner tun so, als sei es unmöglich, Beweise für den Sinn medizinischer Verfahren zu sammeln - und das hat schwerwiegende Folgen für das Gesundheitssystem.

Warum?

Beweise sind die beste Grundlage, um zu entscheiden, welche medizinischen Behandlungen vom Gesundheitssystem bezahlt werden sollen und welche nicht. Außerdem hat sich das Arzt-Patienten-Verhältnis so geändert, dass wir mündige Patienten brauchen.

Was hat das mit den Strategien zu tun, die sie den Lobbyisten im Gesundheitssystem vorwerfen?

Ärzte gehen heute ganz anders mit ihren Patienten um als noch vor wenigen Jahrzehnten. Als beispielsweise meine Eltern Medizin studierten, bestand die kommunikative Ausbildung vor allem darin, wie man einem Patienten am besten verheimlicht, dass er bald an Krebs sterben wird. Der Arzt traf seine Entscheidungen, ohne den Patienten zu fragen. Wenn Sie heute einen Arzt aufsuchen, wird er mit Ihnen diskutieren, welche Therapiemöglichkeiten es gibt. Er wird argumentieren, warum wir wissen, dass die eine besser als die andere ist, damit Arzt und Betroffener gemeinsam eine Entscheidung treffen können. Ich finde es traurig, dass Lobbygruppen, mit der Verwirrung, die sie absichtlich schaffen, dieses kooperative Modell unterminieren.

Entgegen vieler schulmedizinischer Verfahren hat Homöopathie zumindest keine Nebenwirkungen.

Zuckerpillen schädigen niemanden direkt. Aber es gibt dennoch viele Nebenwirkungen. Es ist sehr gefährlich, wenn man Ärzte dazu bringt, dass sie aus einer Krankheit einen Einzelfall machen und die wissenschaftlichen Belege ignorieren. Wenn man Homöopathen in dem Glauben belässt, dass ihre Pillen magische Kräfte haben, dann bekommt man schnell folgende Situation: Ein Patient kommt zum Arzt und sagt, er fahre in eine Region, in der Malaria vorkommt, er möchte aber keine Prophylaxemedikamente einnehmen - und der Arzt gibt ihm homöopathische Zuckerpillen. Es gab Fälle, bei denen Patienten fast an Malaria gestorben wären, weil sie sich darauf verlassen haben. Was passiert ist, dass diese Leute von ihren Ideen berauscht werden und es nicht mehr schaffen, das Wichtige zu erkennen. Es geht nicht nur um Pillen in der Medizin.

Warum nehmen wir so gerne Tabletten?

Es gibt einen sehr tief sitzenden Trieb bei Menschen, mechanische Lösungen für Probleme zu finden, die eher soziale, kulturelle, politische oder persönliche Gründe haben. In Großbritannien beispielsweise wurden Kindern an Problemschulen Fischölkapseln gegeben, damit sie sich besser benehmen und bessere Leistungen in der Schule erzielen sollten. Und ich frage mich: Jesus, denkt ihr wirklich, das Problem von schlechtem Benehmen und schlechten Leistungen von Kindern in der Schule kann man mit einer Pille lösen?

Eine solche Argumentation wird man aber nicht von einem Homöopathen hören.

Das ist ein krasses Beispiel, aber im Prinzip funktioniert Homöopathie doch genauso: Für jedes Zipperlein gibt es Pillen. Das ist eben viel einfacher, als nach den wahren Ursachen von Problemen zu suchen.

Die Alternativmediziner werfen der Pharmabranche vor, dass sie genau dieses Denken schürt: Gegen jedes Unwohlsein hilft ein Medikament.

Pharmaunternehmen machen einige furchtbare Dinge. Sie halten Beweise zurück, sie verstecken missliebige Daten, sie führen Ärzte in die Irre darüber, welche Therapien gut sind und welche nicht. Viele Menschen haben ein ungutes Gefühl angesichts der ungeheuren Macht der multinationalen Arzneimittelkonzerne. Häufig leitet sich daraus folgende Argumentation ab: Die pharmazeutische Industrie ist böse, dagegen helfen homöopathische Pillen - und das ist absoluter Unsinn. Die Alternativmediziner haben die gleichen Methoden. Das ist das wahre Verbrechen mancher dieser Quacksalber: Sie tun so, als ob sie Rebellen sind - und in Wirklichkeit sind sie Geschäftsleute, die versuchen, ihr Zeug zu verkaufen. Sie lenken uns ab von der viel wichtigeren Kritik an der Pharmaindustrie.

Die Fragen stellte Frederik Jötten.


cohen

Ja, das ist geil.
http://blog.psiram.com/?p=1085

Schon für die Überschrift sollte es einen Preis geben. ;D ;D ;D ;D

mossmann

Sehr schön der letzte Teil:

Pharmaunternehmen machen einige furchtbare Dinge. Sie halten Beweise zurück, sie verstecken missliebige Daten, sie führen Ärzte in die Irre darüber, welche Therapien gut sind und welche nicht. Viele Menschen haben ein ungutes Gefühl angesichts der ungeheuren Macht der multinationalen Arzneimittelkonzerne. Häufig leitet sich daraus folgende Argumentation ab: Die pharmazeutische Industrie ist böse, dagegen helfen homöopathische Pillen - und das ist absoluter Unsinn. Die Alternativmediziner haben die gleichen Methoden. Das ist das wahre Verbrechen mancher dieser Quacksalber: Sie tun so, als ob sie Rebellen sind - und in Wirklichkeit sind sie Geschäftsleute, die versuchen, ihr Zeug zu verkaufen. Sie lenken uns ab von der viel wichtigeren Kritik an der Pharmaindustrie.
Offizieller Sprecher des gemäßigten Flügels der Psiram-Jugend

cohen

Eine Grenzziehung ist gar nicht so einfach.

Bei offensichtlichem Betrug, wie Bachblüten, Homöopathie und Magnetarmbändern ist es nur einfacher, als bei Kosmetik, Nahrungsergänzungsmitteln oder manchen Medikamenten, Kritik zu üben.

Medikamente haben aber normalerweise ein Zulassungsverfahren durchlaufen und damit schon einige Hürden genommen, was den Beleg der Wirksamkeit angeht.

Ob sie dann sinnvoll eingesetzt und ehrlich beworben werden, steht auf einem anderen Blatt.
Aber normalerweise fallen Ärzte und Apotheker nicht sofort auf jeden billigen Marketingtrick der Hersteller rein. Die sind ja eigentlich nicht blöd.

mossmann

imo ist besonders das Zurückhalten von missliebigen Daten ein Problem - gerade wenn es um side effects geht.
das gabs ja einige unagenehme storys in letzter zeit ...
Offizieller Sprecher des gemäßigten Flügels der Psiram-Jugend

cohen

Zitat von: mossmann am 18. März 2010, 15:08:43
imo ist besonders das Zurückhalten von missliebigen Daten ein Problem - gerade wenn es um side effects geht.
das gabs ja einige unagenehme storys in letzter zeit ...

Das geht aber auch nur begrenzt, weil die sonst in Amerika pleitegeklagt werden.

Godesberg

Wie heißt noch mal der Effekt, wenn Laien grade wegen fehlendem Fachwissen besonders selbstsicher auftreten?


Godesberg


Adromir

Ich würde es den Nuhr- Faktor nennen:

"Je größer der Deppenfaktor, desto größer das Bescheidwissergefühl" ;)

Schau-ma-amoi

Ich bin natürlich ein sehr großer Freund der Psychologie, ja fast schon Verehrer derselben.  ;)

Natürlich ist mir auch klar, dass Soziologie und Psychologie oft auch banale Alltagserfahrungen untersuchen müssen und sich auch nicht scheuen, dies zu tun. Aber die Tendenz der Dummen auf Klug zu tun, ist etwas, was mir schon als Kind aufgefallen ist. Und ich bin fast überzeugt, dass dies jeder von uns von Kindesbeinen an mitbekommen. OK, nun hat das Kind einen Namen.