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Die Genderdebatte

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Begonnen von Scipio 2.0, 07. Juli 2022, 12:59:49

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Peiresc

Zitat von: Conina am 06. Oktober 2022, 18:58:41Diese Untersuchung ist relativ bekannt:
Sex differences in human neonatal social perception
(führt zum kompletten PDF)

Sie haben sich Mühe gegeben damit. Klingt durchdacht; mir als Laien fällt auf Anhieb kein Schwachpunkt auf (Aussehen des Gesichts und des mechanischen Objekts mit gleicher Farbtönung und gleicher Größe, geblindete Auswertung). Jetzt wäre noch nach Replikationen zu suchen (40% der Einzelstudien lassen sich nicht reproduzieren), und man könnte das vielleicht als gesichertes Wissen annehmen.

Aber reine Replikationsstudien haben einen schweren Stand. Niemand will sie drucken, und niemand liest sie.

eLender

Zitat von: Juliette am 05. Oktober 2022, 22:39:43Das ist doch Quatsch.
Ich habe mir das nicht ausgedacht, es war Mutter Natur ;)  De Waal hat das an Primaten beobachtet und sagt, es wäre auch beim Menschen bekannt. Den Affen kann man zwar auch sozialisieren, aber da hat man experimentell ganz andere Möglichkeiten. Beim Menschen muss man anders ansetzen; ich habe auf die Schnelle mal einen sehr langen Text (eigentlich ein Buch) der amerikanischen Akademie der Wissenschaften aus 2001 (!) gescannt. Herausgegeben von einer Frau :o  Da heißt es:

ZitatThere is now good evidence that human behavioral sex differences are influenced by sex hormones present during prenatal development, confirming findings from studies with other mammalian species (described in Chapter 3). These hormones act by "organizing" neural systems that mediate behavior later in life. Much of the evidence about the behavioral effects of prenatal sex hormones comes from individuals with clinical conditions that alter these hormones (so-called experiments of nature), although in recent years there has been confirming evidence from studies with individuals with circulating concentrations of hormones in the normal range. The following section provides an illustration of work done in this area; for detailed reviews of hormonal influences on human behavior, see Berenbaum (1998), Collaer and Hines (1995), Hampson and Kimura (1992), and Wilson (1999).
https://www.ncbi.nlm.nih.gov/books/NBK222297/

Man hat mehrere Hinweise. Erstens wird das bei anderen Säugetieren auch beobachtet (die Affen und andere), außerdem nutzt man "natürliche" Experimente. So findet man bei weiblichen Personen mit einer bestimmten Erbkrankheit (CAH), dass diese sich in der Kindheit lieber mit typischen Jungenspielzeug beschäftigen:

ZitatOne of the largest differences between females with CAH and their unaffected sisters is in their activities: it is characteristic of girls with CAH to play with boys' toys in childhood and to be interested in boys' activities in adolescence (Berenbaum, 2000; Berenbaum and Snyder, 1995; Ehrhardt and Baker, 1974).

Das sind nur Präferenzen und natürlich - wie bei allen Naturbeobachtungen - Durchschnittswerte. Niemand ist gezwungen, mit Puppen zu spielen. Ich hatte allerdings nie ein solchen Verlangen und habe mich stets an die Naturgesetze gehalten  ;)  Heißt, ich bin bist heute Tool- und Gadgetverrückt. Alles was sich auseinanderbauen lässt, baue ich auseinander (und wieder zusammen). Kettensägen, Motorfahrzeuge, Computer, Kameras, Waschmaschinen, Flugzeuge, Raketen, Bomben, Fahrstühle, Massenspektrometer, etc. Ich kaufe manchmal Sachen, nur um sie zu zerlegen. Voll crank.
Allerdings bin ich nicht wirklich brutal. Ich hatte nur mal die Barbie der Schwester in die Luft gesprengt, gab Ärger. Ansonsten schaue ich gerne Filme, wo es ordentlich auf Fresse gibt. Gelegentlich.

Zitat von: Conina am 06. Oktober 2022, 18:58:41Diese Untersuchung ist relativ bekannt:
Die Arbeiten von Baron-Cohen hatte ich sogar hier schon mal verlinkt. Das sind ziemlich belastbare Hinweise. Es müsste doch aktuell mehr Studien geben; die Geschlechtspräferenzen ohne Sozialisation werden doch nicht nur von Leuten wie de Waal als gegeben bezeichnet. Mal sehn, ob es aktuelle Übersichtsarbeiten gibt...
Wollte ich nur mal gesagt haben!

Conina

Es ist eine verlockende, aber auch bescheuerte Idee, alles auf Sozialisation zu schieben.

Auch der Mensch hat einen sexuellen Dimorphismus. Warum sollte das Gehirn davon komplett ausgenommen sein?

Als Mensch sind wir in der Lage, die biologischen Voraussetzungen kulturell und technologisch zu überformen, wir sollten sie aber tunlichst nicht leugnen.


Es läuft dann darauf hinaus, einer Frau zu sagen, dass sie nicht genügend trainiert hat, weil sie langsamer als ein Mann schwimmt oder läuft. Das ist ziemlich fies.

Warum wird eigentlich mit Testosteron gedopt und nicht mit Östrogen?
Man kann das Pferd zum Wasser führen, aber nicht machen, dass es trinkt.

Juliette

Ich meine nicht, dass es nur an der Sozialisation liegt, aber eben auch nicht nur am Geschlecht als solches. Beides beeinflusst uns. Affen sind nicht Menschen, auch wenn sie eng verwandt sind. Geht man in ein Geschäft und will einen Strampelanzug für ein Baby kaufen, ist zu fast 100 % die erste Frage: Ist es für einen Jungen oder ein Mädchen? Ich finde leider den Bericht zu diesem Thema nicht, den ich sehr spannend fand. Und ich weiß auch, dass Studien zum Verhalten von Menschen meistens nicht sehr belastbar sind.

HAL9000


Typee

Wenn es wohl so ist, dass das Verhalten der werdenden Eltern auch davon abhängt, ob ein männlicher Abkömmling oder eine weibliche Abkömmling_in erwartet wird, hat die Epigenetik hier noch ein Wörtchen mitzureden.
The universe is under NO obligation to make sense to us
(Neil deGrasse Tyson)

eLender

Zitat von: Juliette am 07. Oktober 2022, 01:10:48Ich meine nicht, dass es nur an der Sozialisation liegt, aber eben auch nicht nur am Geschlecht als solches. Beides beeinflusst uns.
Die Frage ist doch, wie weit die Sozialisation in der Lage ist, angeborene Muster zu verändern. Dass das ein Wechselspiel ist, daran zweifeln höchstens radikale Konstruktivisten (das unbeschriebene Blatt...). Der Mensch hat angeborene Neigungen, die man nicht durch noch so gewaltige "Sozialisation" ändern kann. Ein Beispiel vom Pionier der Genderidentitätsforschung:

ZitatMoney riet 1967 den Eltern des knapp zwei Jahre alten Jungen Bruce Reimer, ihren Sohn einer feminisierenden Operation zu unterziehen, nachdem dessen Penis bei einer medizinisch indizierten Zirkumzision versehentlich irreparabel verletzt worden war. Im Alter von 22 Monaten wurden daraufhin die noch vorhandenen Hoden entfernt (Orchiektomie) und aus der Haut des Hodensacks rudimentäre Schamlippen geformt. Darüber hinaus wurde das Kind etwa ab dem 12. Lebensjahr mit weiblichen Hormonen behandelt. Man sah dies als Gelegenheit, im Rahmen einer Zwillingsstudie zu beobachten, ob das Kind sich anders entwickeln würde als sein Zwillingsbruder. ,,Brenda", wie Bruce nun genannt wurde, nahm die zugewiesene Geschlechterrolle jedoch nicht an. Zum Beispiel bevorzugte das Kind statt Puppen und Schmuck das Spielzeug des Bruders. ,,Brenda" tobte, raufte und interessierte sich für Autos und Waffen. Mit 14 Jahren erfuhr er, dass er als Junge auf die Welt gekommen war und ließ die ,,Geschlechtsumwandlung" rückgängig machen. Fortan nannte er sich David.

Im Frühjahr 2004 beging Reimer Suizid. Zwei Jahre zuvor war sein Zwillingsbruder durch eine Medikamentenüberdosis gestorben.[5]

Der ,,John/Joan-Fall" diente zunächst als Beleg für die soziale Wahlmöglichkeit von Geschlecht. So schrieb Alice Schwarzer 1975, dass ,,die Gebärfähigkeit auch der einzige Unterschied ist, der zwischen Mann und Frau bleibt. Alles andere ist künstlich aufgesetzt." Das Experiment von Money würdigt sie als eine der ,,wenigen Ausnahmen, die nicht manipulieren, sondern dem aufklärenden Auftrag der Forschung gerecht werden."[6] Davids Mutter sagte im Gegensatz dazu, sie glaube, dass ihr Sohn noch am Leben wäre, wenn er nicht das Opfer jenes ,,katastrophalen Experiments" geworden wäre, das bei ihm so viel Leid verursacht habe.

In der 2004 erschienenen Schrift Die Macht der Geschlechternormen und die Grenzen des Menschlichen (Undoing Gender) stellt Judith Butler ihren Begriff der Performativität am Schicksal David Reimers dar.[7]
https://de.wikipedia.org/wiki/John_Money

Zitat von: Juliette am 07. Oktober 2022, 01:10:48Affen sind nicht Menschen, auch wenn sie eng verwandt sind.
Ja, wir sind eng verwandt. In der Biologie macht nichts Sinn, wenn man es nicht aus evolutionärer Perspektive betrachtet. Wir hatten gemeinsame Vorfahren, und wenn es andere Primaten oder Hominiden gibt, bei denen klar ist, dass Geschlechtsrollen genetisch verankert sind, dann ist das ein Hinweis darauf, dass es bei uns auch so sein könnte. Ein Hinweis, kein Beweis / Beleg. Man muss sehr viele Hinweise zusammen nehmen, um ein Bild zu bekommen. Man kann die Evolution und die menschliche Natur nicht ausblenden, als wäre der Mensch total anders. Als ließe sich unser Gehirn und das Denken beliebig formen, so wie es sich manche Ideologen wünschen und vorstellen.
Wollte ich nur mal gesagt haben!

Juliette

Ich würde im Leben nicht akzeptieren und immer dagegen kämpfen, dass man an Kindern und Jugendlichen ohne wirkliche Medizinische Indikation rumschnippelt, ganz besonders, wenn es die Geschlechtsteile betrifft.

Zitat von: RPGNo1 am 06. Oktober 2022, 07:45:28Er gibt zu bedenken, dass sich bei Primaten und Menschen schon im frühkindlichen Alter geschlechtstypische Präferenzen zeigen. Mädels spielen lieber bzw. interessieren sich eher für Menschen / Puppen, Jungs spielen lieber mit technischen / werkzeuglichen Sachen. Und Jungs sind natürlich brutaler, isklar.

Ich halte genau den Punkt mit dem Spielzeug und auch der Brutalität für nicht beweisbar. Und genau den habe ich oben zitiert. Studien führen zu extrem unterschiedlichen Ergebnissen:

ZitatBei Menschen ist der Einfluss des Hormons auf das Verhalten weniger etabliert als bei Tieren. Eine systematische Übersichtsarbeit zur Beziehung zwischen Testosteron und antisozialem Verhalten ergab, dass ein hoher Testosteronspiegel zu einer beeinträchtigten Regulation emotionaler und motivationaler Prozesse, geringerer sozialer Sensibilität und starker Belohnungsmotivation führt. Ob sich das in antisozialem Verhalten äußert, hängt jedoch von einer Reihe sozialer und genetischer Faktoren ab.[9] Eine Metaanalyse von insgesamt 45 Studien zum Verhältnis zwischen Testosteron und Aggressivität bei Menschen ergab hingegen einen schwachen, aber signifikanten positiven Zusammenhang zwischen Aggressivität und Testosteron.[10] Zwei systematische Übersichtsarbeiten kamen zu dem Schluss, dass es nicht allein Testosteron ist, das aggressives Verhalten steigert, sondern das Verhältnis von Testosteron zu Cortisol. Ein hoher Testosteronspiegel gepaart mit einem niedrigen Cortisolspiegel sei besonders stark mit Aggressivität assoziiert.[11][12] Eine Studie aus dem Jahr 2012 zeigte, dass subjektiv empfundene Wut mit erhöhtem Testosteron zusammenhing, nicht jedoch mit erhöhtem Cortisol.[13]

Einzelne Untersuchungen kommen zu dem Ergebnis, dass Testosteron dissoziales Verhalten wie egozentrische Entscheidungen fördert[14] und kognitive Empathie verringert.[15] Andere Einzelstudien kamen zu umgekehrten Ergebnissen, so zum Beispiel dass die Gabe von Testosteron die Tendenz zum Lügen bei Männern reduziert.[16][17] Eine weitere Studie an Männern kam zu dem Resultat, dass exogenes Testosteron aggressives, anti-soziales Verhalten bei Verhandlungen signifikant erhöhen kann. Männer, denen Testosteron verabreicht wurde, behielten im Vergleich zur Placebo-Gruppe 27 % mehr Geld für sich in Verhandlungssituationen.[18]

Eine Untersuchung zeigte, dass Testosteron bei Frauen dazu führte, dass die Versuchsteilnehmerinnen fairere Angebote in einem Verhandlungsexperiment machten. Die Forscher erklären diese Wirkung damit, dass das Hormon die Sensitivität für den Status erhöht, und vermuteten, dass in der sozial komplexen Umwelt des Menschen nicht Aggression, sondern pro-soziales Verhalten den Status sichert.[19] Bei Frauen im mittleren Lebensalter gehen erhöhte Testosteronwerte mit einem höheren Risiko für eine Depression einher.[20]

Seite ,,Testosteron". In: Wikipedia – Die freie Enzyklopädie. Bearbeitungsstand: 31. August 2022, 20:00 UTC. URL: https://de.wikipedia.org/w/index.php?title=Testosteron&oldid=225799938 (Abgerufen: 8. Oktober 2022, 12:33 UTC)

Ich habe auch nirgendwo gelesen, dass Frauen bei einer Geschlechtsumwandlung unter der Gabe von Testosteron aggressiver werden:

ZitatBei Transidentität können Transmänner sich für die Einnahme von Testosteron entscheiden.[44] Dies führt zu einer allgemeinen Vermännlichung mit entsprechender Gesichts- und Körperbehaarung, Veränderung der Fettverteilung, Muskelaufbau und einer wahrnehmbaren Veränderung der Stimmlage.[45]

(auch aus dem Wiki-Artikel oben)

Der genetische Einfluss scheint nicht sooo besonders ausgeprägt zu sein:

ZitatPsychologen um Brenda Todd von der University of London haben in der Fachzeitschrift Infant and Child Development eine Analyse der Studienlage der vergangenen 85 Jahre veröffentlicht - und das Ergebnis ist klar: Mädchen spielen lieber mit Mädchenspielzeug; und Jungen beschäftigen sich lieber mit Jungsspielzeug.
....

Die Spielzeugvorlieben "scheinen das Ergebnis von angeborenen und sozialen Faktoren zu sein", so die Forscher. Es existiert eine milde genetische Veranlagung, dass Jungen eher auf Fahrzeuge und Mädchen eher auf Puppen stehen. Das ist erst mal weder gut noch schlecht - sondern einfach so. Verstärkt werden diese Grundvorlieben durch das soziale Umfeld: Rollenvorstellungen, Medien, Werbung und das Spielzeugangebot. Bezogen auf die Industrie bedeutet das: Mit geschlechterspezifischen Waren befriedigen Firmen ein bestehendes Bedürfnis - und heizen es an.

Der Einfluss der Eltern stößt auch an Grenzen, weil der höchste Konformitätsdruck unter Kindern selbst herrscht. Besonders Drei- bis Fünfjährige hacken auf anderen Kleinen herum, so Todd, wenn diese mit dem falschen Spielzeug spielen.

aus https://www.sueddeutsche.de/wissen/erziehung-meine-puppe-dein-auto-1.3779772, Hervorhebungen von mir.


eLender

Der beste deutschsprachige Artikel zu dem Thema, den ich bisher gelesen habe. Er stammt von einem promovierten Biologen und wurde beim HPD veröffentlicht. Das ist nun nicht gerade ein rechtes Hetzblatt. Fasst gut auch den hiesigen Faden bzw. die bereits angesprochenen Punkte zusammen. Hintergrund ist auch die geplante Änderung im Transsexuellengesetz.

ZitatSelbstbestimmungsgesetz - Wann ist eine Frau eine Frau?
...
Es wäre schön, wenn es die einfache Lösung gäbe, die das Gesetz vortäuscht, um die Diskriminierung von Transsexuellen zu beenden. Aber die gibt es nicht. Die Gesellschaft kann es nicht ändern, dass Transsexuelle "im falschen Körper" stecken – auch nicht, indem sie behauptet, es gebe keinen Zusammenhang zwischen biologischem Körper und sexueller Identität. Es gibt – aufgrund der menschlichen Evolution – diesen Zusammenhang. Es gibt nur eben – wie immer in der Evolution – auch Ausnahmen von der Regel.
https://hpd.de/artikel/wann-frau-frau-20728

Lesenswert auch die Kommis (ergänzt den Text gut). Überraschend sind auch die Kommentare bei Twitter: sehr viel Zustimmung und Lob. Das ist man dort bei dem Thema eher nicht gewohnt. Aber die Meute wird sich auch noch einfinden... :wut
Wollte ich nur mal gesagt haben!

eLender

Zitat von: Juliette am 08. Oktober 2022, 13:57:07Studien führen zu extrem unterschiedlichen Ergebnissen:

Das bezieht sich auf Testosteron. Viel entscheidender sind die Androgene insgesamt, die schon vorgeburtlich einen Einfluss auf die Hirnentwicklung haben, und das sehr nachhaltig. Hohe Testosteronwerte bei Erwachsenen haben aber auch einen Einfluss auf das Verhalten. Auch und gerade bei Transpersonen, die eine entsprechende Therapie machen. Das hatten wir oben schon mal angesprochen.

Zitat von: Juliette am 08. Oktober 2022, 13:57:07Die Spielzeugvorlieben "scheinen das Ergebnis von angeborenen und sozialen Faktoren zu sein", so die Forscher. Es existiert eine milde genetische Veranlagung, dass Jungen eher auf Fahrzeuge und Mädchen eher auf Puppen stehen.

Es ist immer gut, sich auch mal die Originalveröffentlichung anzusehen, die Journaille verzerrt das gelegentlich. Ich habe das gemacht, auch weil ich wissen wollte, was "eine milde genetische Veranlagung" genau sein soll. Der Text ließt sich auch anders. Da heißt es schon bei den Highlights:

ZitatDespite methodological variation in the choice and number of toys offered, context of testing, and age of child, the consistency in finding sex differences in children's preferences for toys typed to their own gender indicates the strength of this phenomenon and the likelihood that has a biological origin.
Servicelink: https://sci-hub.wf/10.1002/icd.2064

Das ist quasi das Gegenteil von "milder" genetischer Veranlagung. Wenn man den Text weiter ließt, wird noch klarer (und es ist im Einzelnen sehr gut belegt), dass die biologischen Grundlagen (aka genetische Veranlagungen) einen erheblichen Einfluss auf das geschlechtstypische Verhalten haben müssen.

ZitatAptitudes that may impact on boys' toy choice include their typical advantage over girls in gross motor skills (Touwen, 1976) and propulsive movement (Benenson, Tennyson, & Wrangham, 2011), higher activity levels  Campbell & Eaton, 1999), and lower impulse control (Else‐Quest, Hyde, Goldsmith, & Van Hulle, 2006). Toys affording construction and mechanical movement may appeal more to boys because of their early advantage in mental rotation of figures (Moore & Johnson, 2008; Quinn & Liben, 2008, 2014) and event mapping (Schweinle & Wilcox, 2004; Wilcox, 2003). In contrast, girl's greater attraction to social stimuli may account for their preference for toys that afford nurturance; girls engage more than boys in mutual gaze (Lavelli & Fogel, 2002; Leeb & Rejskind, 2004) and have a small advantage in processing facial expressions (McClure, 2000). Girls' typical advantage in fine motor finger control (Nagy, Kompagne, Orvos, & Pal, 2007; Touwen, 1976) may also drive toy selection.
Alles experimentell belegt und kaum strittig.

Auch ein Hinweis zu den Androgenen findet sich:
ZitatBoth prenatally and 2 of 29 TODD ET AL. during the first 6 months of life, boys are typically exposed to higher levels of androgens than girls, resulting in masculinization of the neural systems and of behaviour (Collaer & Hines, 1995; Hines, 2004). There is some evidence that levels of androgen exposure affect object preference in very young infants; for example, in a study of the visual preferences of 3–8‐month‐old infants, boys made more fixations to a truck than a doll (d = 0.78), whereas girls had more interest in the doll than the truck (d > 1.0) (Alexander, Wilcox, & Woods, 2009). Stronger evidence of hormonal influence on toy preference comes from clinical populations (e.g., Cohen‐Bendahan, van de Beek, & Berenbaum, 2005;
Hines, Brook, & Conway, 2004). A review of studies of the effect of testosterone concentrations on human development indicates the contribution of this hormone to the masculinization of behaviour (Alexander, 2014). Girls with congenital adrenal hyperplasia who are exposed to higher levels of androgens than other girls show correspondingly greater interest in male‐typed over female‐typed toys (Hines, 2004; Meyer‐Bahlburg et al., 2004) and girls more affected by congenital adrenal hyperplasia showed greater interest in male‐typed toys than those less affected by the condition (Van de Beek, van Goozen, Buitelaar, & Cohen‐Kettenis, 2009

Das ist wohl der Forschungsstand (auch das hatten wir oben schon mal). Ich habe auch eine etwas neuere Metaanalyse gefunden und kurz überflogen. Da steht wohl nichts anderes drin. Schaue ich mir aber nochmal genauer an.

Es gibt auch Hinweise, dass angeborene Geschlechtsunterschiede bei Präferenzen auch im späteren Leben eine wichtige Rolle spielen. Weiter oben hatten wir schon mal erwähnt, dass sich in den Ländern, in denen geschlechtsbedingte Unterschiede in der Jobwahl am meisten "neutralisiert" waren (d.h. durch gesetzliche Regelungen eine maximale Chancengleichheit gewährleistet ist), sich Frauen und Männer am ehesten nach Präferenzen entscheiden: Frauen wählen soziale, Männer technische Berufe. Ist mehrfach und aktuell gut belegt.
Wollte ich nur mal gesagt haben!

Scipio 2.0

Wenn mir meine Gene bei so vielen Gelegenheiten vorschreiben was ich zu denken habe bzw. sehr stark festlegen wohin meine Gedanken gehen kann man dann vor diesem Hintergrund überhaupt noch von so etwas wie einem freien Willen sprechen?

Juliette

Zur Vererbung von Intelligenz und anderen Dingen und auch zu unserem Thema hier empfehle ich das extrem spannende Buch "Die kleinste gemeinsame Wirklichkeit: Wahr, falsch, plausibel - die größten Streitfragen wissenschaftlich geprüft" von Mai Thi Nguyen-Kim. Anscheinend ist es nicht ganz so einfach und eindeutig, wie es hier teilweise dargestellt wird - zumindest was ganz allgemein die "Angeborenheit" von Verhaltensweisen und Denken angeht. Da geht es auch mal wieder um eine Menge Statistik und was dabei alles schiefgehen kann.

Wie ich schon geschrieben hatte, gibt es ganz eindeutig angeborene Unterschiede im Verhalten von Frauen und Männern, da sind wir uns ja einig. Aber die Unterschiede innerhalb der Gruppe Männer oder innerhalb der Gruppe Frauen sind zB größer als die zwischen den beiden Gruppen Männer und Frauen.

Peiresc

Zitat von: Scipio 2.0 am 09. Oktober 2022, 22:48:13kann man dann vor diesem Hintergrund überhaupt noch von so etwas wie einem freien Willen sprechen?

Das ist keine Ja-Nein-Frage. Ich bleibe ganz allgemein. Absolut gesprochen (in einem religiösen Sinn): nein, es gibt keinen freien Willen, aber relativ (d. h. in jedem praktischen Sinn): selbstverständlich gibt es einen freien Willen, eine Handlungsfreiheit. Es gibt keinen völligen Determinismus, sondern einen moderaten, so wie es einen ontologischen Zufall gibt und deshalb keine völlige Auslotbarkeit der Realität.

Zitat"Ich rate dir, nachzudenken, ob dein Verhalten je nach der Antwort auf diese Frage sich ändern würde. Würde es sich nicht ändern, dann können wir die Frage fallenlassen. Würde es sich ändern, dann kann ich dir wenigstens noch so weit behilflich sein, daß ich dir sage, du hast dich schon entschieden: Du brauchst keinen freien Willen."

Brecht, adaptiert

Gefährliche Bohnen

Hier noch ein Artikel zum Definitionsproblem von "Transgender" als Umbrella-Term mit interessanter Hypothese zu dem starken Anstieg an jungen Frauen, die transitionieren wollen:

https://www.realityslaststand.com/p/the-transgender-umbrella-casts-its

(Zitieren ist gerade schwierig, weil nur vom Smartphone aus)
"Ich muss an dieser Stelle gestehen: Ich mag Karpfen gar nicht." - Groucho
RIP

eLender

Zitat von: Juliette am 10. Oktober 2022, 08:16:12Zur Vererbung von Intelligenz und anderen Dingen und auch zu unserem Thema hier empfehle ich das extrem spannende Buch "Die kleinste gemeinsame Wirklichkeit: Wahr, falsch, plausibel - die größten Streitfragen wissenschaftlich geprüft" von Mai Thi Nguyen-Kim.

Empfehlung wahrgenommen und das Buch gelesen. Habe ich in knapp 30 min geschafft, sowas kann ich, da ich ein Indigo-Kind bin ;D (gut, es waren nur die zwei Kapitel zum Genderthema). Erst mal ganz allgemein: die Dame ist gut, aber auch nicht unfehlbar. Es gibt viele Beispiel, wo das klar wird. Ich erinnere mich noch an die Glyphosat-Geschichte.

Im Kapitel zu den Geschlechtsunterschieden beim Hirn eiert sie etwas rum. Mal gibt es sie, mal wieder nicht. Und dann der Klassiker:
ZitatWenn man beispielsweise Unterschiede im Gehirn zwischen Männern und Frauen untersucht, die mit emotionaler Verarbeitung assoziiert sind, neigen Wissenschaftlerinnen wie Wissenschaftler dazu, Unterschiede so zu interpretieren, dass sie zu unserem Geschlechterstereotyp passen

Das ist der Standardsatz konstruktivistisch orientierter Medizinsoziologen ;) Sie verweist dabei auf ein Paper, aber für solche Pauschalen bräuchte es ein bisschen mehr. Sie zeigt einen deutlichen eigenen Bias: eine Studie, die das Gehirn anhand von Hirnscans verschiedener Hirnregionen klassifiziert, erkennt zwar weibliche und männliche Hirnregionen, aber scheinbar hat die jeder Mensch in beliebiger Mischung. Das ist für sie der Beweis, dass es keine strukturellen Unterschiede bei den Geschlechtern gibt. Eine Studie, die man bei Affen mit der Methode gemacht hat und die das quasi widerlegt, wird schnell als nicht aussagefähig eingestuft. Es gibt aber zig mehr Einwände, die sie nicht erwähnt. Ganz kurz:

ZitatWiderspruch regte sich sofort. So antwortete Marek Glezerman von der Universität Tel Aviv in einen Kommentar: «Doch, es gibt ein weibliches und ein männliches Gehirn.» Es komme nur auf die Ebene an, die man betrachte. Auch wenn die Unterschiede in der groben Struktur gering seien, so sei jede einzelne Nervenzelle durch ihre Chromosomen weiblich oder männlich.

Zudem komme es nicht nur auf die Anatomie an, sondern auch auf die Funktion. Wenn man nur die Struktur betrachte – wie in Joels Studie –, sei das so, als zeichne man eine Strassenkarte und schliesse daraus, wie viel Verkehr dort jeweils herrsche. Funktionell seien männliche und weibliche Gehirne sehr verschieden, nicht besser oder schlechter, aber verschieden. Sie seien in der embryonalen Entwicklung unterschiedlichen Hormonen ausgesetzt und regulierten ihrerseits die Hormonproduktion im männlichen und im weiblichen Körper auf unterschiedliche Weise.
https://www.nzz.ch/wissenschaft/biologie/maennliches-gehirn-weibliches-gehirn-ld.1324241

Es ist halt ein Buch, das sich verkaufen soll. Sie ist keine Spezialistin auf dem Gebiet und hat eine persönliche Meinung, für die man immer irgendwelche Belege findet. Und sie macht ganz offensichtliche Fehler. Ihr "naturalistischer Fehlschluss" ist gar keiner, sie übernimmt nur die falsche Vorstellung davon. Das scheint mir ein Wohlfühlbuch für ihre Blase zu sein, auch nicht das, was sie sich selbst an Anspruch auferlegt hat. Ich komme nochmal darauf zurück.

Zitat von: Juliette am 10. Oktober 2022, 08:16:12Da geht es auch mal wieder um eine Menge Statistik und was dabei alles schiefgehen kann.
...
Aber die Unterschiede innerhalb der Gruppe Männer oder innerhalb der Gruppe Frauen sind zB größer als die zwischen den beiden Gruppen Männer und Frauen.

Das Problem mit der Statistik. Das gar keines ist. Das bezieht sich wohl auch auf das Beispiel mit den Hirnscans, und das war eben auch nicht wirklich aussagefähig. Sie macht das im Buch nur anhand von Persönlichkeitsmerkmalen fest (Big Five) und sagt, es gäbe da nur geringe Unterschiede zwischen den Geschlechtern. Aber sie sind signifikant. Und was soll das überhaupt sagen: dass man kleine Unterschiede vernachlässigen kann? Welche Auswirkungen schon kleinste Unterschiede haben können, wird nicht weiter verfolgt.

Das zu beurteilen geht nur mit Statistik. Die statistischen Methoden dazu sind valide, sonst würde sie sich nicht selbst darauf beziehen. Mittelwertvergleiche sind das A und O in der klinischen Forschung, das ist methodisch der beste Weg. Dazu kommt, dass eine Studie immer wackelig ist, aber Metastudien bzw. die Studienlage bilden das viel besser ab.

Und zu guter Letzt: wir haben uns oben nicht auf Persönlichkeitsmerkmale bezogen, sondern auf Präferenzen, die wahrscheinlich angeboren sind. Da sind die Schwankungen innerhalb der Gruppen (w/m) eben nicht größer als zwischen den Gruppen. Das ist statistisch zigfach abgesichert.

Und noch was: die Frage, ob es Unterschiede in der Intelligenz zwischen den Geschlechtern gibt, haben wir noch gar nicht angesprochen. Und so wie es aussieht, gibt es die auch nicht. Intelligenz ist schwer fassbar, es ist eine Definitionsfrage. Ich würde da keine Unterschiede erwarten und habe dies auch noch nie persönlich festgestellt.
Wollte ich nur mal gesagt haben!