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Deutsch => Allgemeine Diskussionen => Skeptisches Denken => Thema gestartet von: sweeper am 28. Mai 2014, 17:19:05

Titel: Religiöser Atheismus??
Beitrag von: sweeper am 28. Mai 2014, 17:19:05
Im Brights-Blog wird aktuell auf einen Artikel in der ZEIT verlinkt:

http://www.zeit.de/2014/22/glaube-atheismus-ronald-dworkin
Zitat... Schweigen der Räume? Das erinnert an den faszinierenden Religionsphilosophen, Physiker und Mathematiker Blaise Pascal (1623 bis 1662), doch leider nur auf den ersten Blick. Pascal war absolut modern, er traute den menschlichen Gefühlen nicht und wollte lieber auf Gott wetten. Ganz anders Dworkin in seinen Einstein-Vorlesungen, die er in Bern gehalten und die er noch kurz vor seinem Tod zu diesem Buch ausgearbeitet hat: Für ihn sind die Gefühle, die uns beim Anblick des Erhabenen ergreifen, transsubjektive Empfindungen; das Numinose des Universums ist für Dworkin also weder eine Täuschung noch ein Produkt unserer Sinnesorgane – es ist die innere Repräsentation einer äußeren Wirklichkeit. Die "Ehrfurcht gebietenden Gefühle" bezeugten eine Macht, "die größer ist als wir", und diese "Macht des Wunderbaren" wohne hinter den Erscheinungen und sei genauso real wie Planeten oder Kopfschmerzen...

Die Ableitung von (Selbst-)Verantwortung aus dem kosmisch Schönen? So etwas hat schon lange kein Philosoph mehr behauptet, aber genau das tut Dworkin. Er verstand sich als religiöser Atheist, das heißt: Er glaubte zwar nicht an Gott, wohl aber an die sinnhafte Einheit des Kosmos und die Versöhnung von Glauben und Wissen. Auf keinen Fall wollte er den Naturwissenschaften das Feld überlassen, denn angenommen, diese würden eines Tages kalt lächelnd verkünden, unsere Abscheu vor Grausamkeit gehöre einer entwicklungsgeschichtlich überholten Stufe der Menschheit an, dann stünde ein säkularer Geist mit leeren Händen da. Nicht aber der religiöse Atheist. Sein "Werterealismus" könne zeigen, dass unsere moralischen Überzeugungen nichts Erfundenes seien, sondern etwas Objektives und von uns Entdecktes – sie seien real und gehörten gleichsam zur Hintergrundstrahlung des Universums. Unsere ethischen Überzeugungen, schreibt Dworkin den postmodernen Relativisten ins Stammbuch, "könnten wir nicht haben, ohne zu denken, dass sie objektiv wahr sind"...

Mich interessiert eure Meinung dazu.
Persönlich finde ich es ja aufrichtiger, auf religiöse Gefühle zu verzichten, wenn man sich als "Atheist" versteht...

Titel: Re: Religiöser Atheismus??
Beitrag von: Belbo am 28. Mai 2014, 21:04:58
Ich denke es gibt ein Mehrstufenmodll des Glaubens, einige dieser Stufen sind unverzichtbar, einige verständlich, viele nachvollziehbar und die meisten gefährlich.....
Titel: Re: Religiöser Atheismus??
Beitrag von: 71hAhmed am 28. Mai 2014, 21:25:55
Zitat von: sweeper am 28. Mai 2014, 17:19:05
Mich interessiert eure Meinung dazu.
Persönlich finde ich es ja aufrichtiger, auf religiöse Gefühle zu verzichten, wenn man sich als "Atheist" versteht...
Gefühle zeichnen sich doch dadurch aus, daß man sie eben hat oder nicht. Darauf zu verzichten, erscheint mir unmöglich. Man kann sie unterdrücken, leugnen oder was auch immer, aber "verzichten"?
Wenn einen denn religiöse Anwandlungen befallen, erscheint es mir eher zweitrangig, ob man die auf einen oder mehrere personale Götter richtet oder aus welchen Gründen auch immer als Ziel ein wie auch immer geartetes übergeordnetes/größeres unpersönliches Ganzes postuliert.
Verzichten sollte man dann aber auf die Bezeichnung "Atheist", es sei denn, man bezieht den Begriff explizit auf nur personifizierte höhere Mächte, was mir den Begriff zu sehr einengt.
Titel: Re: Religiöser Atheismus??
Beitrag von: Abe81 am 29. Mai 2014, 10:12:23
Ich denke, dieser 'religiöse Atheist' ringt um eine Letztbegründung (http://de.wikipedia.org/wiki/Letztbegr%C3%BCndung). Aus der üblichen Salbaderei der Zeit kann man nur leider nicht erkennen, wie diese Argumentation aufgebaut ist . Gesetzt der Kosmos folgte  einer inneren Teleologie, wie es Dworkin behauptet (so habe ich es jedenfalls verstanden), wie soll dann ohne einen Gott aus Sein Sollen notwendig folgen?
Titel: Re: Religiöser Atheismus??
Beitrag von: Groucho am 29. Mai 2014, 12:02:31
Zitat von: sweeper am 28. Mai 2014, 17:19:05
Ich lass mal die Zitate in den Zitaten weg und zitiere nur das Zitat:  :grins2:

Zitat... Schweigen der Räume? Das erinnert an den faszinierenden Religionsphilosophen, Physiker und Mathematiker Blaise Pascal (1623 bis 1662), doch leider nur auf den ersten Blick.

Ich erlebe Räume bisher stets als schweigend und bin ganz froh, dass sie nicht zu sprechen beginnen.

Zitat
Pascal war absolut modern, er traute den menschlichen Gefühlen nicht und wollte lieber auf Gott wetten.

Das ist doch keine Begründung für modern. Gefühle sind hilfreich, bedürfen aber im Zweifelsfall einer Überprüfung. Wer aus deren Unsicherheit Gott ableitet, macht es sich schon arg einfach, bzw. es ist ein Fehlschluss.

Zitat
Ganz anders Dworkin in seinen Einstein-Vorlesungen, die er in Bern gehalten und die er noch kurz vor seinem Tod zu diesem Buch ausgearbeitet hat: Für ihn sind die Gefühle, die uns beim Anblick des Erhabenen ergreifen, transsubjektive Empfindungen;

"Erhabenheit" ist eine reine Gefühlsempfindung. Ohne Gefühle können wir anschauen was wir wollen, es wird sich keine "Erhabenheit" einstellen. Ein Null-Satz, eine Null-Begründung.

Zitat
das Numinose des Universums ist für Dworkin also weder eine Täuschung noch ein Produkt unserer Sinnesorgane – es ist die innere Repräsentation einer äußeren Wirklichkeit.

Wenn er meint. Man könne auch sagen: Falsche Annahme - falscher Schluss.

Zitat
Die "Ehrfurcht gebietenden Gefühle" bezeugten eine Macht, "die größer ist als wir", und diese "Macht des Wunderbaren" wohne hinter den Erscheinungen und sei genauso real wie Planeten oder Kopfschmerzen...

Nur weil Gefühle real und oft schlecht bis gar nicht steuerbar sind, ist das kein Beweis für irgendetwas.

Zitat
Die Ableitung von (Selbst-)Verantwortung aus dem kosmisch Schönen? So etwas hat schon lange kein Philosoph mehr behauptet, aber genau das tut Dworkin.

Es gibt auch Philosophen, die sich nicht so schnell verheddern. Behaupte mal, das hat seinen Grund, dass das schon lange keiner mehr behauptet hat.

Zitat
Er verstand sich als religiöser Atheist, das heißt:

Dass er ein fleischessender Vegetarier ist. Sofern man "religiös" mit einem Schöpfer, egal welcher Art, verbindet. Man kann natürlich "religiös" auch - so wie anscheinend er - als Umschreibung für das Schöne, Faszinierende dieser Welt sehen, aber dann wird der begriff dermaßen Schwammig, dass er für irgendwelche Beweisführungen oder Diskussionen obsolet wird.

Zitat
Er glaubte zwar nicht an Gott, wohl aber an die sinnhafte Einheit des Kosmos

Wer an einen Sinn des Ganzen glaubt, muss zwangsläufig an irgendwas mit Gott glauben. "Sinn" bedingt ziehlführendes Handeln, ziehlführendes Handeln ist ohne Sinn nicht möglich. Was nur den Schluss ergibt, dass ein wie auch immer geartetes Bewusstsein hinter dem Ganzen steckt. Und wenn das nicht religiös ist, was ist es dann?

Zitat
und die Versöhnung von Glauben und Wissen.

Diese Diskrepanz entsteht doch nur, wenn man sie vorher krampfhaft durcheinander wirbelt.

Zitat
Auf keinen Fall wollte er den Naturwissenschaften das Feld überlassen, denn angenommen, diese würden eines Tages kalt lächelnd verkünden, unsere Abscheu vor Grausamkeit gehöre einer entwicklungsgeschichtlich überholten Stufe der Menschheit an, dann stünde ein säkularer Geist mit leeren Händen da. Nicht aber der religiöse Atheist. Sein "Werterealismus" könne zeigen, dass unsere moralischen Überzeugungen nichts Erfundenes seien, sondern etwas Objektives und von uns Entdecktes – sie seien real und gehörten gleichsam zur Hintergrundstrahlung des Universums. Unsere ethischen Überzeugungen, schreibt Dworkin den postmodernen Relativisten ins Stammbuch, "könnten wir nicht haben, ohne zu denken, dass sie objektiv wahr sind"...

Halte ich für ziemlichen Quatsch. Er leidet unter horror vacui seines Geistes, und einer Annahme, unter der viele Religiöse leiden, dass nämlich der Mensch von Grund auf schlecht sei und einer Erlösung bedarf. Dazu kommt der absurde Fehlschluss, dass die Verhinderung eines unerwünschten Zustandes die Annahme eines Sinnes in allem bedarf, und damit die Existenz des Sinnes belegt sei.

Beide benutzen Gefühle als Gottesbeweis, der eine, indem er ihnen nicht traut, der andere aufgrund ihrer Existenz. Das ist doch Quatsch.

Und wie Abe81 schreibt: da ist wer auf der Suche nach einer Letzbegründung. Sowas geht immer in die Hose.
Titel: Re: Religiöser Atheismus??
Beitrag von: Abe81 am 29. Mai 2014, 12:45:29
Du magst mit vielen deiner Anmerkungen recht haben, Groucho, aber zerpflückst damit ja mehr das protestantische Geraune der Zeit, die vermutlich eine vielleicht unzureichende, aber doch im wissenschaftlichen Sinne philosophische Argumentation in ihren pfäffischen Jargon presst. Ich würde keiner Zeile dieses Artikels trauen, lieber die Argumentaion Dworkins irgendwo hervorkramen.
Titel: Re: Religiöser Atheismus??
Beitrag von: Groucho am 29. Mai 2014, 13:04:22
@Abe81: Es ging mir tatsächlich nur um den Text, wie er da stand, ja. Um die Person, wie sie dort beschrieben ist. So hatte sweeper auch gefragt. Dworkins kenne ich nicht weiters, wäre dann eine andere Baustelle. Vielleicht ist er wesentlich sympatischer und tiefsinniger als er da rüberkommt, keine Ahnung.

Freilich hast Du auch recht, solche Leute werden gerne mal zu unfreiwilligen Kronzeugen hochstilisiert, indem man ihnen das Wort im Mund umdreht, muss man aufpassen ...
Titel: Re: Religiöser Atheismus??
Beitrag von: sweeper am 29. Mai 2014, 13:12:23
Hier gibt es noch eine Rezension im Guardian:

http://www.theguardian.com/books/2013/nov/28/religion-without-god-ronald-dworkin-review

So weit ich es begriffen habe, geht dieses letzte, posthum? veröffentlichte Buch von Dworkin auf seine in Bern gehaltenen "Einstein Lectures" zurück.
Ohne die Texte tatsächlich im Original zu lesen, klingt vieles etwas eigenartig (und nicht unbedingt originell im Sinne von "noch nie da gewesen") - aber dieser Mensch soll ja sehr klug sein :)

http://mobile.nytimes.com/blogs/opinionator/2013/09/23/deeper-than-god-ronald-dworkins-religious-atheism/
Zitat... The essence of the religious attitude, he tells us, is the conviction that "inherent, objective value permeates everything, that the universe and its creatures are awe-inspiring, that human life has purpose and the universe order." In the grip of that Emersonian conviction, one may or may not subscribe to the existence of a personal God, but it should not be the case that constitutional protection depends on a commitment to theism, for that would be to make the hallmark of religion something that is alien to the lives of many people. It is important for Dworkin's argument that we not view religion as a special activity that exists to the side of the everyday experience of interacting with and appreciating nature. It is when we identify religion as an anomaly whose precise configuration must be described that we get ourselves into trouble and fall to debating, as religion clause jurisprudence endlessly does, whether this particular ceremony or piece of behavior is "properly religious." We should, says Dworkin, abandon "the idea of a special right with ... its compelling need for strict limits and careful definition." We should "consider instead applying, to the traditional subject matter of that supposed right, the more general right to ethical independence."...
Titel: Re: Religiöser Atheismus??
Beitrag von: Gefährliche Bohnen am 29. Mai 2014, 16:10:11
Ich persönlich habe auch Momente, in denen ich von bestimmten Dingen überwältigt bin (ich würde allerdings nicht auf die Idee kommen, das ein religöses Gefühl zu nennen). Ich finde den Kosmos auch faszinierend und es gibt so Sachen, die mich einfach umhauen. Das können komplexere Erkenntnisse wie die Relativitätstheorie oder die Evolutionstheorie sein, aber manchmal sind es auch kleine Dinge. Zum Beispiel die Erkenntnis, dass "oben" und "unten" auf einer Weltkarte eine rein willkürliche Festlegung ist, dass es sowas gar nicht gibt ohne Bezug auf den Erdmittelpunkt.
Im Endeffekt sind es genau solche Entdeckungen und Erkenntnisse, die unter anderem auch zeigen, wie unser Denken funktioniert und dass wir oft in Mustern denken, die nur unter bestimmten Voraussetzungen sinnvoll sind. Die Natur sieht für uns so aus, als hätte sich da jemand was bei gedacht, als wäre das irgendwie sinnvoll. Die Evolutionstheorie zeigt aber, warum das eine Illusion ist und das wiederum zeigt auch, wie Menschen ticken.

Die Schönheit eines Naturphänomens, einer Landschaft oder von NASA-Bildern kann einen ebenso umhauen, aber was hat denn Schönheit mit Moral zu tun? Wie kommt man von schön zu gut und von gut zu objektiv gut? Wie sagt mir die Schönheit eines Sternenhimmels, dass ich gut leben sollte?
Wenn ich mir die Natur und das Tierreich so angucke, komme ich zu einer ganz anderen Schlussfolgerung als der, dass es eine objektive Moral gibt - Schönheit hin oder her. Gerade die Natur ist doch nach unseren Maßstäben nicht nur schön, sondern auch grausam – zumindest wäre sie das, wenn für sie unsere Maßstäbe gelten würden.

Sinn, Absicht, Moral etc. sind eben genau solche Dinge, die außerhalb eines menschlichen Bewusstseins keine Verankerung haben. Zumindest sehe ich keinen Grund, davon auszugehen, das sie das tun.

Woher kommt diese Angst, man könnte zu dem Schluss kommen, dass man ethische Grundsätze einfach über Bord werfen könnte, wenn man sie nicht als objektive, gott- oder was-auch-immer-gegebene Wahrheit annimmt? Unabhängig davon, ob sie objektiv sind oder nicht – es ist doch so oder so für alle Beteiligten langfristig sinnvoll, sich darauf zu einigen und sich daran zu halten. Und einschätzen zu können, wie sich ein Verhalten langfristig auswirken wird, ist ja eine Stärke, die mit menschlichem Bewusstsein einhergeht.
Titel: Re: Religiöser Atheismus??
Beitrag von: Groucho am 29. Mai 2014, 17:00:58
Zitat von: Gefährliche Bohnen am 29. Mai 2014, 16:10:11
Woher kommt diese Angst, man könnte zu dem Schluss kommen, dass man ethische Grundsätze einfach über Bord werfen könnte, wenn man sie nicht als objektive, gott- oder was-auch-immer-gegebene Wahrheit annimmt?

Das frage ich mich auch immer.
Titel: Re: Religiöser Atheismus??
Beitrag von: Belbo am 29. Mai 2014, 19:50:18
Vielleicht die Angst, andere könnten das machen und einem selber die Argumente ausgehen? Und dann einer moralischen Willkür ausgesetzt zu sein.
Titel: Re: Religiöser Atheismus??
Beitrag von: Belbo am 29. Mai 2014, 20:12:21
....Moral als institutionalisierte Auflösung des Gefangenendilemas, auch so ein Gedanke....
Titel: Re: Religiöser Atheismus??
Beitrag von: Typee am 30. Mai 2014, 07:48:44
ZitatFür ihn sind die Gefühle, die uns beim Anblick des Erhabenen ergreifen, transsubjektive Empfindungen; das Numinose des Universums ist für Dworkin also weder eine Täuschung noch ein Produkt unserer Sinnesorgane – es ist die innere Repräsentation einer äußeren Wirklichkeit.

Hm, ein zweiter Aufguss von Adalbert Stifters "sanftem Gesetz"? Dann verweise ich mal auf Arno Schmidt:

ZitatDas sanfte Gesetz? Man hätte den mal vor eine Nova setzen sollen. Oder in Sonnennähe bringen.

Geht man nahe genug heran, löst sich manches Erhabene in ein ziemlich erbarmungsloses Gemetzel auf. Siehe Schopenhauers Beispiel der Blumenwiese.

Dworkin sollte demnach noch etwas präziser herausarbeiten, aus welcher Distanz die "Erhabenheit" zu beurteilen sei.
Titel: Re: Religiöser Atheismus??
Beitrag von: Belbo am 30. Mai 2014, 07:55:57
Man denke nur an die nackte Schönheit erhaben dem Bade einsteigend, über blasser Bräune im Kontraste schimmernd, die Perlen aus Quecksilber........
Titel: Re: Religiöser Atheismus??
Beitrag von: Abe81 am 30. Mai 2014, 09:36:06
Danke für die anderen beiden Reviews, Sweeper. Der Guardian geht auch wenig auf die Argumentation im Buch ein, aber dafür die Times; beide versuchen eher, das Buch in das Gesamtwerk Dworkins einzuordnen und werden dem damit viel gerechter, als die Zeit. Es soll sich, soweit ich das verstanden habe, auf die Vermittlung von juristischem Recht und Gerechtigkeit i.S. von objektiver Moral beziehen und wie sie sich jenes in diesem verwirklichen soll. Das liest sich immerhin schon mal rationaler, als die Salbaderei der Zeit (da sieht man auch sehr schön, wie diese sich ganz unschuldig Rosinen picken kann - ihr geht es nur um das protestantische innere Gefühl).

Ich finde es schon deswegen interessant, weil es versucht, den Gefahren des Rechtspositivismus mit objektiven Kriterien entgegenzuwirken - eine 'juristische Unabhängigkeit' zu schaffen. Das mag man kritisieren, aber das ist ja schon mal was ganz anderes, als das, was die Zeit darin sehen will und ist auch erst im amerikanischen Rechtssystem sinnvoll zu begründen - nämlich mit Bezug auf eine Verfassung.

Das erinnert mich auch an Hitchens Versuche, sich zum einen immer wieder atheistisch auf die Verfassung zu berufen und zum anderen auf die Schönheit und Erhabenheit, die man erkenne, wenn man durch z.B. das Hubble-Teleskop blicke oder sich die Schritte der Evolution des Auges ansehe (so argumentieren ja auch die anderen prominenten Atheisten Dawkins & Co.).

Ich finde die Argumentation nicht überzeugend, das ist, wie die Times das schon schreibt, ein Versuch, liberals und republicans ihren objektiven Widerspruch austreiben zu wollen.

Zitat von: Typee am 30. Mai 2014, 07:48:44Dworkin sollte demnach noch etwas präziser herausarbeiten, aus welcher Distanz die "Erhabenheit" zu beurteilen sei.

Vielleicht hat er das ja getan. Dafür sollte man freilich das Buch gelesen haben. Nichts desto trotz werden herkömmliche Atheisten ja auch nicht müde, die Schönheit der Schöpfung aus sich selbst heraus zu betonen. Die 'definieren' das ja auch nicht. So, wie ich das den Rezensionen entnommen hab, soll das ja an ein 'Gefühl' appellieren, dass jeder besitzt, also auch unmittelbar nachvollziehen kann. Dafür muss man nicht definieren: "Erhabenheit stellt sich ein, wenn man das Hubble-Teleskop auf diese Koordinaten mit jenen Justierungen ausrichtet und im Temporallappen dieses oder jenes Korrelat des sekundären visuellen Kortex' folgende Muster erkennt"

Zitat von: Groucho am 29. Mai 2014, 17:00:58
Zitat von: Gefährliche Bohnen am 29. Mai 2014, 16:10:11
Woher kommt diese Angst, man könnte zu dem Schluss kommen, dass man ethische Grundsätze einfach über Bord werfen könnte, wenn man sie nicht als objektive, gott- oder was-auch-immer-gegebene Wahrheit annimmt?

Das frage ich mich auch immer.

Hier argumentiert doch auch niemand mit 'Angst'. Es scheint mir vielmehr um ein gesellschaftliches Verhältnis zu gehen. Wie kann man zu (juristischen) Urteilen kommen, die den Common-Sense transzendieren, um nicht in den Zirtekl zu geraten: Recht ist, was rechtlich kodifiziert ist. Das hat weniger mit einer Handlungstheorie der Moral oder mit einer atomisierten Existenz  (Robinsonnade) zu tun, sondern mit Gesellschaft. Das finde ich schon deswegen interessant, weil es zumindest diese bornierten und völlig realitätsfernen Gedankenexperimente außer acht lässt ("Du liegst mit einer vaporisierenden Laserpistole(!) am Grund einen Brunnens und jemand stößt einen fetten Mann in diesen Brunnen, der dich zerquetschen würde, wenn du ihn nicht erschießt").

Wenn man nämlich rechtspositivistisch diese Grundsätze seiner relativistischen Überzeugung nach einfach über Bord werfen kann, weil man kein Außenkriterium für ihre Begründung hat, dann kann eine Gesellschaft von innen heraus zu einer totalitären werden. Es geht also nicht um den einzelnen Menschen, der auf einmal nicht mehr moralisch sei, weil er keinen Gott mehr hat oder nie hatte, sondern um den Begründungsrahmen, den eine Gesellschaft sich für ihr Rechtssystem gibt. Horkheimer nannte das "Resistenzkraft gegen den Faschismus", der Frage folgend, warum sowas in den USA bisher immer unterdrückt werden konnte, obschon es dort auch genug faschistische Tendenzen gab. Das konnte deshalb unterdrückt werden, weil der gemeinsame (zugleich: dogmatische) Bezug auf die Verfassung und Gründerväter niemand hintergehen konnte. Wer das machte, konnte sich nicht mehr als 'Amerikaner' behaupten, also auch nicht an seine 'fellow americans' appellieren. Z.B. in Deutschland konnte man aber auf Grundlage einer nicht verfassungsrechtlich definierten Gesellschaft, sondern eine über 'Blut und Boden' (deutsch sind die mit den blonden Haaren und blauen Augen) daran appellieren, dass die wahren Deutschen die sind, die diese oder jene Kriterien erfüllen - und das ziemlich mythischen Vorstellungen nach.

Oder Mussolini (http://en.wikiquote.org/wiki/Benito_Mussolini) als Beispiel:
ZitatEverything I have said and done in these last years is relativism by intuition. If relativism signifies contempt for fixed categories and those who claim to be the bearers of objective immortal truth ... then there is nothing more relativistic than Fascist attitudes and activity... From the fact that all ideologies are of equal value, that all ideologies are mere fictions, the modern relativist infers that everybody has the right to create for himself his own ideology and to attempt to enforce it with all the energy of which he is capable.
Titel: Re: Religiöser Atheismus??
Beitrag von: sweeper am 30. Mai 2014, 11:18:59
Vielen Dank, @Abe81, für deine ausführliche Antwort.
Das geht ziemlich in die Richtung meiner eigenen Gedanken und Anfrage - allerdings war ich ein bisschen zu faul, es auszuformulieren  :grins2:
Zitat
Wenn man nämlich rechtspositivistisch diese Grundsätze seiner relativistischen Überzeugung nach einfach über Bord werfen kann, weil man kein Außenkriterium für ihre Begründung hat, dann kann eine Gesellschaft von innen heraus zu einer totalitären werden. Es geht also nicht um den einzelnen Menschen, der auf einmal nicht mehr moralisch sei, weil er keinen Gott mehr hat oder nie hatte, sondern um den Begründungsrahmen, den eine Gesellschaft sich für ihr Rechtssystem gibt.
Genau!
Jedenfalls bin ich neugierig geworden, das Buch zu lesen, um Dworkin besser zu verstehen.

Zu "Gefühl": das ist nun gerade nicht typisch protestantisch, denn denen geht bzw ging es dem Wesen nach um "sola scriptura" - also das, was nachprüfbar ist, weil es geschrieben steht (und man sich damit dann theologisch bzw dialektisch damit auseinander setzen kann).

"Gefühl" kommt eher bei einer Spielart des Protetantismus, nämlich dem Pietismus vor, und dieser wiederum hat Schnittmengen mit christlicher Mystik (Versenkung, Überwältigtwerden, Geist Gottes-Erfahrung...)

Bei Dworkin habe ich den Eindruck, mit "Gefühl" meint er auch so was wie archaisches Überwältigtsein (von der Unendlichkeit des Kosmos im Betrachten des Sternenhimmels; Majestät und ewiger Rhythmus des Ozeans; die zyklische "Gesetz-Mäßigkeit" der Natur -> vielleicht leitet er daraus eine den Dingen innewohnende "ewige Ordnung" ab.

Damit bewegt er sich womöglich in eine ähnliche Richtung wie Rilke, der als Quintessenz seiner Meditation über Werden und Vergehen ("Herbst" (http://meister.igl.uni-freiburg.de/gedichte/ril_rm04.html)) dichtet :
"Und doch ist Einer, welcher dieses Fallen unendlich sanft in seinen Händen hält."

Aber das will ich Dworkin nicht "andichten" - dazu muss ich ihn im Original lesen.
Titel: Re: Religiöser Atheismus??
Beitrag von: Groucho am 30. Mai 2014, 11:45:20
Zitat von: Abe81 am 30. Mai 2014, 09:36:06
Ich finde es schon deswegen interessant, weil es versucht, den Gefahren des Rechtspositivismus mit objektiven Kriterien entgegenzuwirken - eine 'juristische Unabhängigkeit' zu schaffen. Das mag man kritisieren, aber das ist ja schon mal was ganz anderes, als das, was die Zeit darin sehen will und ist auch erst im amerikanischen Rechtssystem sinnvoll zu begründen - nämlich mit Bezug auf eine Verfassung.

(Hervorhebung durch mich) In der Tat. So sind es Aussagen mit Sinn. Man kann über sie diskutieren, ihnen zustimmen oder sie ablehnen. In der Deutung der DIE ZEIT ist es Geblubber. Man muss zudem den Kontext des US-Amerikanischen Rechtsystems beachten, ja.

Zitat
Zitat von: Groucho am 29. Mai 2014, 17:00:58
Das frage ich mich auch immer.

Hier argumentiert doch auch niemand mit 'Angst'.

Das war nicht auf Dworkin bezogen. Diesem Argument begegnet man halt einfach öfters mal.

Zitat
Es scheint mir vielmehr um ein gesellschaftliches Verhältnis zu gehen. Wie kann man zu (juristischen) Urteilen kommen, die den Common-Sense transzendieren, um nicht in den Zirtekl zu geraten: Recht ist, was rechtlich kodifiziert ist. Das hat weniger mit einer Handlungstheorie der Moral oder mit einer atomisierten Existenz  (Robinsonnade) zu tun, sondern mit Gesellschaft. Das finde ich schon deswegen interessant, weil es zumindest diese bornierten und völlig realitätsfernen Gedankenexperimente außer acht lässt ("Du liegst mit einer vaporisierenden Laserpistole(!) am Grund einen Brunnens und jemand stößt einen fetten Mann in diesen Brunnen, der dich zerquetschen würde, wenn du ihn nicht erschießt").

Wenn man nämlich rechtspositivistisch diese Grundsätze seiner relativistischen Überzeugung nach einfach über Bord werfen kann, weil man kein Außenkriterium für ihre Begründung hat, dann kann eine Gesellschaft von innen heraus zu einer totalitären werden. Es geht also nicht um den einzelnen Menschen, der auf einmal nicht mehr moralisch sei, weil er keinen Gott mehr hat oder nie hatte, sondern um den Begründungsrahmen, den eine Gesellschaft sich für ihr Rechtssystem gibt. Horkheimer nannte das "Resistenzkraft gegen den Faschismus", der Frage folgend, warum sowas in den USA bisher immer unterdrückt werden konnte, obschon es dort auch genug faschistische Tendenzen gab. Das konnte deshalb unterdrückt werden, weil der gemeinsame (zugleich: dogmatische) Bezug auf die Verfassung und Gründerväter niemand hintergehen konnte. Wer das machte, konnte sich nicht mehr als 'Amerikaner' behaupten, also auch nicht an seine 'fellow americans' appellieren. Z.B. in Deutschland konnte man aber auf Grundlage einer nicht verfassungsrechtlich definierten Gesellschaft, sondern eine über 'Blut und Boden' (deutsch sind die mit den blonden Haaren und blauen Augen) daran appellieren, dass die wahren Deutschen die sind, die diese oder jene Kriterien erfüllen - und das ziemlich mythischen Vorstellungen nach.

Oder Mussolini (http://en.wikiquote.org/wiki/Benito_Mussolini) als Beispiel:
ZitatEverything I have said and done in these last years is relativism by intuition. If relativism signifies contempt for fixed categories and those who claim to be the bearers of objective immortal truth ... then there is nothing more relativistic than Fascist attitudes and activity... From the fact that all ideologies are of equal value, that all ideologies are mere fictions, the modern relativist infers that everybody has the right to create for himself his own ideology and to attempt to enforce it with all the energy of which he is capable.


Klingt sinnvoll.
Titel: Re: Religiöser Atheismus??
Beitrag von: Gefährliche Bohnen am 30. Mai 2014, 13:36:05
Zitat von: Abe81 am 30. Mai 2014, 09:36:06
Zitat von: Groucho am 29. Mai 2014, 17:00:58
Zitat von: Gefährliche Bohnen am 29. Mai 2014, 16:10:11
Woher kommt diese Angst, man könnte zu dem Schluss kommen, dass man ethische Grundsätze einfach über Bord werfen könnte, wenn man sie nicht als objektive, gott- oder was-auch-immer-gegebene Wahrheit annimmt?

Das frage ich mich auch immer.

Hier argumentiert doch auch niemand mit 'Angst'

Diese Angst war von mir auch eher allgemein die vermutete Motivation hinter dem Wunsch nach objektiven Werten. Und deine Argumentation:

Zitat von: Abe81 am 30. Mai 2014, 09:36:06
Wenn man nämlich rechtspositivistisch diese Grundsätze seiner relativistischen Überzeugung nach einfach über Bord werfen kann, weil man kein Außenkriterium für ihre Begründung hat, dann kann eine Gesellschaft von innen heraus zu einer totalitären werden. Es geht also nicht um den einzelnen Menschen, der auf einmal nicht mehr moralisch sei, weil er keinen Gott mehr hat oder nie hatte, sondern um den Begründungsrahmen, den eine Gesellschaft sich für ihr Rechtssystem gibt. Horkheimer nannte das "Resistenzkraft gegen den Faschismus", der Frage folgend, warum sowas in den USA bisher immer unterdrückt werden konnte, obschon es dort auch genug faschistische Tendenzen gab. Das konnte deshalb unterdrückt werden, weil der gemeinsame (zugleich: dogmatische) Bezug auf die Verfassung und Gründerväter niemand hintergehen konnte. Wer das machte, konnte sich nicht mehr als 'Amerikaner' behaupten, also auch nicht an seine 'fellow americans' appellieren. Z.B. in Deutschland konnte man aber auf Grundlage einer nicht verfassungsrechtlich definierten Gesellschaft, sondern eine über 'Blut und Boden' (deutsch sind die mit den blonden Haaren und blauen Augen) daran appellieren, dass die wahren Deutschen die sind, die diese oder jene Kriterien erfüllen - und das ziemlich mythischen Vorstellungen nach.

Oder Mussolini (http://en.wikiquote.org/wiki/Benito_Mussolini) als Beispiel:
ZitatEverything I have said and done in these last years is relativism by intuition. If relativism signifies contempt for fixed categories and those who claim to be the bearers of objective immortal truth ... then there is nothing more relativistic than Fascist attitudes and activity... From the fact that all ideologies are of equal value, that all ideologies are mere fictions, the modern relativist infers that everybody has the right to create for himself his own ideology and to attempt to enforce it with all the energy of which he is capable.

ist doch eigentlich eine ganz gute Antwort auf die Frage, woher diese Angst kommt  :grins2:

Für alles weitere müsste man wahrscheinlich tatsächlich das Buch lesen, aber nur so als kurzer Einwurf zu dem, was mir noch unklar ist:
Auch wenn der Rechtspositivismus die besagten Probleme mit sich bringt - es bleibt die Frage, wo denn diese objektiven Werte herkommen, wenn sie nicht vom lieben Gott in Steinplatten gemeißelt wurden, bzw. wie mir ein Sternenhimmel denn nun sagt, was richtig und was falsch ist. Die amerikanische Verfassung hat man ja auch nicht nach Auswertung der Himmelsmechanik entworfen. Es bleibt halt dabei, dass man sich hinsetzen muss und darüber nachdenken muss, was gerecht ist und was falsch und richtig ist und dass man sich irgendwann auf etwas einigen muss und manchmal auch revidieren muss, bzw. manchmal das Gefühl, dass etwas falsch ist, hinterfragen muss. Es gibt schließlich 'ne ganze Menge Leute, die aus einem tiefen Gefühl innerer Weltordnung und Sinnhaftigkeit der Überzeugung sind, Homosexualität wäre unnatürlich und damit falsch.
Aber na ja, vielleicht ist mir auch die Argumentation von Dworkin einfach noch nicht so ganz klar, hab das Buch wie gesagt nicht gelesen.

Titel: Re: Religiöser Atheismus??
Beitrag von: Abe81 am 30. Mai 2014, 14:13:58
Zitat von: sweeper am 30. Mai 2014, 11:18:59
Zu "Gefühl": das ist nun gerade nicht typisch protestantisch, denn denen geht bzw ging es dem Wesen nach um "sola scriptura" - also das, was nachprüfbar ist, weil es geschrieben steht (und man sich damit dann theologisch bzw dialektisch damit auseinander setzen kann).

"Gefühl" kommt eher bei einer Spielart des Protetantismus, nämlich dem Pietismus vor, und dieser wiederum hat Schnittmengen mit christlicher Mystik (Versenkung, Überwältigtwerden, Geist Gottes-Erfahrung...)

Das ist vielleicht ein Nebenschauplatz, da es ja eigentlich um Dworkins religiösen Atheismus geht, aber ich finde, es ist kein Zufall, dass die Zeit das so ganz anders sieht als die anglo-amerikanischen Zeitungen. Das hat m.E. schon etwas mit dem Protestantismus deutscher Provenienz zu tun, genauer: Mit der deutschen Innerlichkeit, die sich durch Luther durchsetzen konnte; in Abgrenzung zu z.B. dem Protestantismus Calvins. Im Pietismus spitzt sich nur etwas zu, was im lutherischen Protestantismus angelegt ist. Luther wird in seinen Schriften ja nicht müde, in aller Klarheit von der "Hure Vernunft" zu sprechen. Die "sola scriptura" ist eine Abwehr gegen eine vernunftgeleitete Auslegung der überlieferten Schriften ('Sola' heißt ja, 'alleine' durch die Schrift, ohne andere Instanzen). Soweit ich mich damit auskenne*, heißt dies, die Schriften existieren ja bereits in klarer Form, sie müssen nur gelesen werden, nicht wirklich ausgelegt. Durch das innere Gefühl, das in jedem "Christenmensch" steckt, ist dieser dazu befähigt, die Schriften in Klarheit zu lesen, anstatt sie durch eine höhere, irdische Instanz auslegen lassen zu müssen. Der Teufel steckt dann nämlich wortwörtlich im Detail für Luther. Der Teufel versucht den "Christenmenschen" durch weltliche Interpretation den Geist auszutreiben ("Ist die Seele mit Gottes Worten verschmolzen und der Mensch durch den Glauben heilig, gerecht, wahrhaftig geworden, so bedarf er keiner Werke mehr um fromm zu sein."). Der Wille und Geist Gottes müsse nicht erst mit der irdischen Welt rational vermittelt werden, sondern er wohne ja bereits jedem inne, jeder reine Christ könne das bereits fühlen, es sei denn er ist durch die äußerliche Welt, in der der Teufel walten und schalten kann wie er will, verunreinigt (darauf zielt die Heftigkeit ab, mit der Luther Vernunft eine Hure nennt; die Vernunft sei ein Teil des Geistes, der sich für den Teufel prostituiere, weil er im Kontakt mit dem kontaminierten Weltlichen ist).

Nachdem ich mich mal ein wenig mit Luther beschäftigt habe, kann ich nicht anders, als in solchen Artikeln, wie der oben verlinkte der Zeit, genau dieses protestantische Geraune vom 'Gefühl' zu erkennen. Damit will ich nicht sagen, dass die ganze Redaktion voller Pfaffen ist (und auch nicht, dass der Protestantismus in seinen zig Reformen noch genau so tickt, wie in der obigen Schilderung der lutherschen Orthodoxie), sondern dass da geistesgeschichtlich etwas mitgeschleppt wurde, was aufgrund seiner Entstehung und Verbreitung in Deutschland virulenter ist, als anderswo.

*) Ich kenne mich zugegebenermaßen nicht wirklich gut damit aus, das ist alles nur gefiltert durch atheistisches Interesse. Ich habe mich nie wirklich systematisch damit befasst...

Zitat von: sweeper am 30. Mai 2014, 11:18:59
Bei Dworkin habe ich den Eindruck, mit "Gefühl" meint er auch so was wie archaisches Überwältigtsein (von der Unendlichkeit des Kosmos im Betrachten des Sternenhimmels; Majestät und ewiger Rhythmus des Ozeans; die zyklische "Gesetz-Mäßigkeit" der Natur -> vielleicht leitet er daraus eine den Dingen innewohnende "ewige Ordnung" ab.

Wenn er das aber als Letztbegründung für ein vernünftiges Rechtssystem nehmen möchte, muss es ja etwas sein, dass bereits im Objekt der Betrachtung liegt und nicht nur Emanation (http://de.wikipedia.org/wiki/Emanation_%28Philosophie%29) des Geistes (oder naturalistisch ausgedrückt: des Gehirns) ist. Deswegen habe ich auch weiter oben unterstellt, Dworkins schreibe dem Kosmos eine innere Teleologie zu. Da bleiben dann m.E. immer noch die Fragen, wie man einen Sinn ohne sinngebende Instanz postulieren kann und wie man dann aus diesem bloßen Sein des Kosmos Sollen im moralischen Sinne ableiten kann.

Vielleicht kannst du ja zum Advokaten Dworkins werden, wenn du das Buch gelesen hast. ;)

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Zitat von: Gefährliche Bohnen am 30. Mai 2014, 13:36:05
Diese Angst war von mir auch eher allgemein die vermutete Motivation hinter dem Wunsch nach objektiven Werten. Und deine Argumentation ist doch eigentlich eine ganz gute Antwort auf die Frage, woher diese Angst kommt  :grins2:

Ich habe deinen Einwurf zur Angst als eine Art Robinsonnade verstanden - das also der einzelne Mensch davor Angst habe, dass ihm auf einmal der moralische Kompass verrückt spielt, glaubt er nicht mehr... mir ging es nur darum, zu betonen, dass das mehr eine gesellschaftliche Frage ist.

Zitat von: Gefährliche Bohnen am 30. Mai 2014, 13:36:05
Auch wenn der Rechtspositivismus die besagten Probleme mit sich bringt - es bleibt die Frage, wo denn diese objektiven Werte herkommen, wenn sie nicht vom lieben Gott in Steinplatten gemeißelt wurden, bzw. wie mir ein Sternenhimmel denn nun sagt, was richtig und was falsch ist. Die amerikanische Verfassung hat man ja auch nicht nach Auswertung der Himmelsmechanik entworfen.

Ja, das ist auch m.E. genau das Problem, das Dworkins sich bewusst aufgebürdet hat. Ich glaube nicht, dass er einfach zu naiv war, dieses ja schon recht alte Problem der Moral- und Rechtsphilosophie nicht zu kennen.

Die amerikanische Verfassung ist ja in sich eine Art Letztbegründung und sie funktioniert ja mit ihren Amendments so, wie du das geschrieben hast:

ZitatEs bleibt halt dabei, dass man sich hinsetzen muss und darüber nachdenken muss, was gerecht ist und was falsch und richtig ist und dass man sich irgendwann auf etwas einigen muss und manchmal auch revidieren muss, bzw. manchmal das Gefühl, dass etwas falsch ist, hinterfragen muss.

Aber ein wenig komplizierter ist es ja schon. Es gibt in den USA eine sehr rege Debatte (um es mal euphemistisch auszudrücken), was jetzt der Bezugsrahmen der Verfassung ist. Die Verfassung als Letztbegründung erodiert also ein wenig, man schaut dahinter... Für viele ist es völlig klar, dass es Gott ist, für wieder andere ist es klar, dass es die maximale Entfaltung des Individuums ist. So wie ich Dworkins verstanden habe, wollte er angesichts dieser Erosion diesen Widerspruch auflösen.



Titel: Re: Religiöser Atheismus??
Beitrag von: pelacani am 30. Mai 2014, 20:48:17
Zitat von: Abe81 am 30. Mai 2014, 09:36:06
Hier argumentiert doch auch niemand mit 'Angst'.
Doch, es wird häufig mit 'Angst' argumentiert; die gesamte ,,Wenn Gott tot ist, dann ist alles erlaubt" – Theologie basiert darauf.

Zitat von: Abe81 am 30. Mai 2014, 09:36:06
Wenn man nämlich rechtspositivistisch diese Grundsätze seiner relativistischen Überzeugung nach einfach über Bord werfen kann, weil man kein Außenkriterium für ihre Begründung hat, dann kann eine Gesellschaft von innen heraus zu einer totalitären werden.
Es gibt kein Außenkriterium; oder anders: ein eingebildetes und instrumentalisiertes Außenkriterium ist keinen Deut besser als gar keines. Der Klerikalfaschismus Francos oder Salazars ist dafür völlig ausreichender Gegenbeweis.

Im Übrigen, zur Sache, nur:
ZitatIsn't it enough to see that a garden is beautiful without having to believe that there are fairies at the bottom of it too?
-   Douglas Adams
Titel: Re: Religiöser Atheismus??
Beitrag von: Abe81 am 30. Mai 2014, 21:38:32
Zitat von: Pelacani am 30. Mai 2014, 20:48:17
Zitat von: Abe81 am 30. Mai 2014, 09:36:06
Hier argumentiert doch auch niemand mit 'Angst'.
Doch, es wird häufig mit ,Angst" argumentiert; die gesamte ,,Wenn Gott tot ist, dann ist alles erlaubt" – Theologie basiert darauf.

Es mag sein, dass häufig irgendwo mit 'Angst' argumentiert wird. Im Kontext dieser Diskussion nicht.

Zitat von: Pelacani am 30. Mai 2014, 20:48:17
Es gibt kein Außenkriterium; oder anders: ein eingebildetes und instrumentalisiertes Außenkriterium ist keinen Deut besser als gar keines. Der Klerikalfaschismus Francos oder Salazars ist dafür völlig ausreichender Gegenbeweis.

Im Übrigen, zur Sache, nur:
ZitatIsn't it enough to see that a garden is beautiful without having to believe that there are fairies at the bottom of it too?
-   Douglas Adams

Es ist ja schön, dass du dir dieser Sache so sicher bist, aber ob es ein Außenkriterium gibt oder nicht, ist ja gerade Gegenstand der Diskussion.

Ich verstehe weder, was nun Franco oder Salazar damit zu tun haben sollen, noch weiß ich, was du mit dem Adams-Zitat sagen willst, du scheinst aber zu denken, das sei völlig selbsterklärend und ein sehr gewichtiges Gegenargument gegen... ja was eigentlich?
Titel: Re: Religiöser Atheismus??
Beitrag von: pelacani am 31. Mai 2014, 09:21:55
Zitat von: Abe81 am 30. Mai 2014, 21:38:32
Es ist ja schön, dass du dir dieser Sache so sicher bist, aber ob es ein Außenkriterium gibt oder nicht, ist ja gerade Gegenstand der Diskussion.
Bisher haben wir jedenfalls nur von der amerikanischen Verfassung als Außenkriterium vernommen, aber die Sterne spielen da höchstens als ,,stars and stripes" eine Rolle, und so fand ich den Einwand sehr berechtigt, dass auch die amerikanische Verfassung nicht vom Himmel gefallen ist (im Gegensatz zu denjenigen ,,Außenkriterien", um die es der ZEIT implizit geht).
Die Frage,
Zitat von: Abe81 am 30. Mai 2014, 21:38:32
Ich verstehe weder, was nun Franco oder Salazar damit zu tun haben sollen
ist damit, hoffentlich, beantwortet.

Zitat von: Abe81 am 30. Mai 2014, 21:38:32noch weiß ich, was du mit dem Adams-Zitat sagen willst, du scheinst aber zu denken, das sei völlig selbsterklärend und ein sehr gewichtiges Gegenargument gegen... ja was eigentlich?
Dawkins verwendet dieses Zitat als Motto für seinen Gotteswahn. Insofern scheint es außer mir noch einige andere Leute zu geben, die es für selbsterklärend halten. Ich finde also, es ist ein schlagendes Argument gegen die Dworkins-These in der ZEIT-Wiedergabe:
ZitatEr verstand sich als religiöser Atheist, das heißt: Er glaubte zwar nicht an Gott, wohl aber an die sinnhafte Einheit des Kosmos und die Versöhnung von Glauben und Wissen.

Noch einmal explizit: ich halte es für schlicht unnötig, an die ,,sinnhafte Einheit des Kosmos" zu glauben, um die Schönheit von Naturereignissen – oder die Eleganz der Formeln, in die die Relativitätstheorie gegossen ist – wahrzunehmen. Mit ,,Religion" hat das ausschließlich in den Augen von Leuten zu tun, denen es um die Religion leid tut. Ich sehe dafür keinen Grund.
Titel: Re: Religiöser Atheismus??
Beitrag von: Abe81 am 31. Mai 2014, 10:07:23
Dein 'Einwand' ist ja ein schlichtes 'Nö', ein Argument kann ich da noch nicht erkennen. Und niemand behauptet ja, dass die amerikanische Verfassung vom Himmel gefallen sei. Ich kann deine ganze Einlassung nicht ganz verstehen. War das nur eine Zustimmung der Kritiker en passant oder ein Diskussionbeitrag? Falls es ersteres sein sollte, haben wir wohl nicht viel zu diskutieren, sind uns wohl sowieso in den meisten Fragen diesbezüglich einig.

Ich verstehe auch noch immer nicht, was faschistische Militärputsches im Kontext dieser Diskussion aussagen sollen? Man könnte ja die Frage stellen, warum es im Verlaufe der amerikanischen Geschichte zu einem solchen nicht kam, obschon es genug soziale Konflikte gab. Aber ich glaube nicht, dass das dein Anliegen war, denn dann müsste man das so machen, dass man versucht, vom kompletten Verlauf der Geschichte zu abstrahieren, um einen ideellen Unterschied zwischen Portugal und Spanien auf der einen Seite und den USA auf der anderen zu machen. Das erscheint mir müßig und nicht sonderlich fruchtbar.

ZitatInsofern scheint es außer mir noch einige andere Leute zu geben, die es für selbsterklärend halten

Das halte ich für ein Autoritätsargument. Wenn Dawkins das verwendet hat, dann doch nur, um die folgenden ~900 Seiten zu illustrieren, was er damit meinte.

Warum ich das Zitat noch immer nicht verstehe: Es geht ja nur sehr vermittelt um sowas wie: "Die Welt ist so schön, jemand muss sie geschaffen haben". Das ist zum einen weder die Position des Autors, der hier diskutiert wird und zum anderen eine - so meine ich - Verfälschung der typischen Lesart der Zeit. Erstmal geht es um die Differenz von natura naturans und natura naturata, aber um das weiter zu diskutieren, sollte man das Buch bzw. den Autor, über das/den diskutiert wird, gelesen haben, denn wie bereits festgestellt: Die Rezensionen geben nur vage Informationen. Gleich mit einem scheinbar(!) selbsterklärenden 'Motto' für die vermeintlich richtigen und wahrhaften Seite in die Bresche zu springen, scheint mir mehr ein Zuschnappen von Erkenntnismuster, weil du witterst, hier will jemand 'Religion' betreiben und das sei ja was Böses.
Weshalb ich das dennoch für diskutierbar halte ist ja gerade der offensichtliche Selbstwiderspruch, den sich der Autor bewusst aussetzt (er hat ja nicht, soweit ich das verstanden habe, wie so viele alte Intellektuelle, auf einmal Gott entdeckt, sondern argumentiert ja im Lichte Einsteins darüber). Ob das nun Substanz hat oder einfach ein schales Spätwerk eines public intellectual ist, darüber muss die Lektüre des entsprechenden Textes entscheiden.
Titel: Re: Religiöser Atheismus??
Beitrag von: sweeper am 31. Mai 2014, 10:19:57
Vielleicht kommt man über die Uni Bern an Texte der Einstein Lectures von Dworkin - hier ein erster Versuch:

http://habermas-rawls.blogspot.de/2011/12/religion-without-god-dworkins-einstein.html
Zitat
...How, then, can we defend a religious attitude if we cannot rely on a god? In the first lecture I offer a godless argument that moral and ethical values are objectively real: They do not depend on god, but neither are they just subjective or relative to cultures. They are objective and universal...

http://www.kommunikation.unibe.ch/content/medien/medienmitteilungen/news/2011/dworkin/index_ger.html

http://www.einsteinlectures.ch/talks2011.html

Mich da hineinzugraben, dazu fehlt momentan die Zeit.
Feel free!  :grins2:
Titel: Re: Religiöser Atheismus??
Beitrag von: pelacani am 31. Mai 2014, 11:00:56
Zitat von: Abe81 am 31. Mai 2014, 10:07:23
ZitatInsofern scheint es außer mir noch einige andere Leute zu geben, die es für selbsterklärend halten

Das halte ich für ein Autoritätsargument. Wenn Dawkins das verwendet hat, dann doch nur, um die folgenden ~900 Seiten zu illustrieren, was er damit meinte.

Es gibt noch mehr Autoritäten, die das Zitat für selbsterklärend halten:
ZitatDie raffinierte Bosheit dieses Spruches besteht darin, dass die Alternative ganz falsch gestellt ist. Denn auch die meisten religiösen Menschen und die Mehrheit der an Gott Glaubenden werden bei der Bewunderung der Schönheit eines Gartens nicht an Feen denken. Aber Dawkins' Absicht ist – sonst wäre die Anbringung dieses Spruches sinnlos –, mit Hilfe desselben jede Frage nach der Ursache oder dem Verursacher der Schönheit des Gartens am liebsten zu verbieten, sie jedenfalls als Spinnerei abzutun. Der radikale Immanentist, der transzendenzlose Nomade, der nicht mehr weiter fragt, ist heute tatsächlich immer häufiger anzutreffen, und zwar kurioserweise nicht bloß unter besonders fanatischen Atheisten, sondern auch unter vielen Kirchgängern.
[H. Mynarek: Die Neuen Atheisten. Ihre Thesen auf dem Prüfstand. Essen 2010, S. 29f]
;)

Zitataber um das weiter zu diskutieren, sollte man das Buch bzw. den Autor, über das/den diskutiert wird, gelesen haben
Dazu kann ich mich nicht aufraffen. Mir genügt die Instrumentalisierung des Autors in der ZEIT, die offenbar möglich ist. Die ZEIT will entweder den ,,Glauben" als solchen dem Atheisten schmackhaft machen oder sich tapfer einreden: ,,auch Atheisten glauben – sie wollen es nur nicht wahr haben".
Titel: Re: Religiöser Atheismus??
Beitrag von: Abe81 am 31. Mai 2014, 11:37:52
Zitat von: Pelacani am 31. Mai 2014, 11:00:56Es gibt noch mehr Autoritäten, die das Zitat für selbsterklärend halten...

Ich verstehe deinen Starrsinn nicht ganz. Wie oben bereits erläutert, geht es ja darum, dass das in dem Kontext dieser Diskussion nicht selbsterklärend ist, da es ja nur vermittelt darum geht, auf das du unvermittelt hinauswillst. 

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Zitat von: Pelacani am 31. Mai 2014, 11:00:56
Mir genügt die Instrumentalisierung des Autors in der ZEIT, die offenbar möglich ist. Die ZEIT will entweder den „Glauben“ als solchen dem Atheisten schmackhaft machen oder sich tapfer einreden: „auch Atheisten glauben – sie wollen es nur nicht wahr haben“.

Ja, wie bereits geschrieben: Darin dürften wir uns einig sein.

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Danke für die Hinweise, Sweeper. Ohne das bereits gelesen zu haben: Wenn das im Kontext von Habermas und Rawls diskutiert wird (der Autor des Blogs, der sich dieser beiden Autoren verschworen hat, scheint das ja zu denken), scheint es wohl nicht darum zu gehen, Objektivität als unabhängig vom Geist gedacht zu verstehen, sondern die Emanation des Geistes in seiner Formbestimmung als objektiv zu begreifen. So eine Art Neo-Aristotelik, wie Rawls sie sich vorstellt - das ist aber arg spekulativ von mir, es ist auch laaaange her, dass ich Rawls oder Habermas in der Hand hatte. Da schwant mir Übles, weil sich darüber zwar Objektivität herstellen lässt, aber weder universal, noch absolut. Wenn man aber gleich mit dem Kosmos kommt, will man ja auf Universlität und Absolutheit hinaus.
Ich schaue mir bei Gelegenheit mal die Lectures an...: klick (https://cast.switch.ch/vod/channels/1gcfvlebil)
Titel: Re: Religiöser Atheismus??
Beitrag von: duester am 25. Dezember 2019, 16:46:36
Ich hab keinen passenden Thread dafür gefunden, deshalb hier:

ZitatEben darum streite ich lieber mit Atheisten als mit Agnostikern oder postmodernen Synkretistinnen, die ein bisschen an das Universum glauben, ein bisschen an Karma, die hie und da mal versuchsweise meditieren. Sie sind spirituell, aber auf keinen Fall religiös. Sie sagen: Es müsse jeder für sich selber wissen, was er glaubt. Bei Atheisten ist die Gesprächsgrundlage wenigstens klar. Wir gehen beide davon aus, dass es auf die Frage nach Gott nicht beliebig viele richtige Antworten geben kann, sondern nur eine: ja oder nein. Ich sage, es gibt ihn. Sie sagen, es gibt ihn nicht.

https://www.zeit.de/2018/33/atheismus-gotteszweifel-christen

Wait, what? Sie glaubt, dass Atheismus das exakte Gegenstück zu ihrem spezifischen, monotheistischen Gottesverständnis ist und nicht die Abwesenheit von überhaupt jedem Gottesverständnis?

ZitatNur bin ich keine linientreue Kirchensoldatin. Ich glaube, so etwas gibt es schon lange nicht mehr.
Und wo genau ist da jetzt der Unterschied zu den "postmodernen Synkrestistinnen", die sich mal hier, mal da was rauspicken? Dreifaltigkeit ja, Jungfrauengeburt nein, Leibwerdung Jesu Christi, Unfehlbarkeit des Papstes nein oder wie ist das gemeint?
Titel: Re: Religiöser Atheismus??
Beitrag von: Peiresc am 25. Dezember 2019, 20:12:48
Zitat von: duester am 25. Dezember 2019, 16:46:36
ZitatNur bin ich keine linientreue Kirchensoldatin. Ich glaube, so etwas gibt es schon lange nicht mehr.
Und wo genau ist da jetzt der Unterschied zu den "postmodernen Synkrestistinnen", die sich mal hier, mal da was rauspicken? Dreifaltigkeit ja, Jungfrauengeburt nein, Leibwerdung Jesu Christi, Unfehlbarkeit des Papstes nein oder wie ist das gemeint?

Ich habe den ZEIT-Beitrag nicht gelesen, weil ich mich dazu anmelden müsste. Zum Zitat zwei Anmerkungen. Erstens, selbstverständlich gibt es auch heute genügend linientreue Kirchensoldaten, sie lassen sich nur nicht gerne in die Karten gucken. Zweitens ist das nur eine Immunisierung. Um welchen Glaubensartikel es in der Diskussion auch immer gehen wird: es wird der sein, an den sie gerade nicht glaubt. Solche Diskussionen zeichnen sich allgemein durch eine gewisse Verschwommenheit aus.
Titel: Re: Religiöser Atheismus??
Beitrag von: duester am 25. Dezember 2019, 20:41:10
Es geht um das Tanzverbot am Karfreitag. Weil das soll bitte respektiert werden, alle anderen Glaubensartikel (einschliesslich des Atheismus, der bei ihr auch ein "Glaube" ist) sind dagegen müßig und nicht so schützenswert. Sie fordert Toleranz ggü Religiosität, genauer: ggü ihrer extrem spezifischen Interpretation von Religiosität (Stichwort "Dreifaltigkeit", zwingend durch eine christliche Kirche organisiert) ein und haut dabei mit Strohmännern um sich, die mich richtig ärgerlich machen. Und dabei bin ich eine ziemlich gelassene Atheistin, weil es nie diesen Saulus-Paulus-Moment gegeben hat und ich aus einem sehr säkularen Umfeld komme - am häufigsten begegnen mir Christen, wenn sie mir erzählen, dass sie gerade eben aus der Kirche ausgetreten sind.

Der Artikel lohnt sich zu lesen, wegen seiner Dummdreistigkeit. Sie pickt sich relativ willkürlich einen Glauben raus und erklärt den (und wirklich nur den) für schützenswürdig, denn das ist halt IHR Glaube. So was kennt man - aber im Jahr 2018, von jemand unter 30, hätte man mehr Bewusstsein dafür erwartet, dass das Gottesverständnis der christlichen Kirchen mit dem "liebenden Gott" von Menschen gemacht wurde.

https://www.zeit.de/2019/34/evangelische-kirche-kolumne-jacobs  :-X
Titel: Re: Religiöser Atheismus??
Beitrag von: Peiresc am 25. Dezember 2019, 22:27:53
Inzwischen habe ich es gelesen. Sie sieht sich irgendwie in einem Rechtfertigungszwang.
Zitat von: duester am 25. Dezember 2019, 20:41:10
Es geht um das Tanzverbot am Karfreitag.
Verstehe ich nicht. Kein Atheist wird sie zwingen wollen, am Karfreitag zu tanzen. Ist doch ihre Sache. Worüber sie nun eigentlich mit Atheisten diskutieren will, habe ich auch nicht begriffen.
Titel: Re: Religiöser Atheismus??
Beitrag von: Peiresc am 25. Dezember 2019, 22:39:46
In der Diskussion bin ich bis hier gekommen:

Zitat
Atheisten fühlen sich Gläubigen gegenüber häufig überlegen, da sie meinen ihre Weltsicht sei rational. Dem ist aber nicht so. Sie ist lediglich reduktionistisch. Nach den heutigen Erkenntnissen ist ein Atheismus nicht mehr haltbar. [...] Urknall [...] Auch die Quantenphysik weist über sich hinaus ins Immaterielle, Lebendige:
https://der-philosoph.page4....

Ganz zu schweigen von den Erkenntnissen der Parapsychologie, oder den tiefen Einsichten solcher Philosophen wie Schopenhauer, Hegel, Schelling und Fichte.
:crazy

Zitat von: SchopenhauerSOGAR an Abrichtungsfähigkeit übertrifft der Mensch alle Thiere. Die Moslem sind abgerichtet, 5 Mal des Tages, das Gesicht gegen Mekka gerichtet, zu beten: thun es unverbrüchlich. Christen sind abgerichtet, bei gewissen Gelegenheiten ein Kreuz zu schlagen, sich zu verneigen u. dgl.; wie denn überhaupt die Religion das rechte Meisterstück der Abrichtung ist, nämlich die Abrichtung der Denkfähigkeit; daher man bekanntlich nicht früh genug damit anfangen kann. Es giebt keine Absurdität, die so handgreiflich wäre, daß man sie nicht allen Menschen fest in den Kopf setzen könnte, wenn man nur schon vor ihrem sechsten Jahre anfinge, sie ihnen einzuprägen, indem man unablässig und mit feierlichstem Ernst sie ihnen vorsagte. Denn, wie die Abrichtung der Thiere, so gelingt auch die des Menschen nur in früher Jugend vollkommen.

Zitat von: Fritz MauthnerSchopenhauer, nicht Spinoza, verdient den Ehrennamen eines Fürsten des Atheismus.
Wobei Spinoza auch nicht von Pappe ist.
Titel: Re: Religiöser Atheismus??
Beitrag von: duester am 25. Dezember 2019, 22:40:58
Zitat von: Peiresc am 25. Dezember 2019, 22:27:53
Worüber sie nun eigentlich mit Atheisten diskutieren will, habe ich auch nicht begriffen.

Das ging mir genauso - wahrscheinlich bin ich deswegen so auf das Dingen angesprungen.

Schon die Sache mit dem "Vulgärargument". Ich tippe ja darauf, dass ihr Atheisten zu verklickern versuchen, dass bei organisierter, menschengemachter Religion die Schattenseiten überwiegen, da Menschen fälschlich für sich in Anspruch nehmen, exklusiv zu wissen, was "Gott" will. Und das Ergebnis sind dann so Sachen wie Kreuzzüge oder Inquisition. Sie hat das so dargestellt, als würden Atheisten angesichts ihrer rhetorischen Brillianz beim Gottesbeweis irgendwann verzweifelt zum letzten Strohhalm greifen: menschliche Missetaten, die mit ihrem sakrosankten Glauben an die Dreifaltigkeit so absolut gar nichts zu tun haben. Weil Martin Luther King.  :stirn
Titel: Re: Religiöser Atheismus??
Beitrag von: duester am 25. Dezember 2019, 22:43:29
Yupp, bei der Urknall-Sache habe ich die Kommentare auch zu gemacht.  ;D
Titel: Re: Religiöser Atheismus??
Beitrag von: Schwuppdiwupp am 25. Dezember 2019, 22:49:55
Mit anderen Worten: Viel Lärm um nichts.  ::)
Titel: Re: Religiöser Atheismus??
Beitrag von: Peiresc am 25. Dezember 2019, 22:59:08
Zitat von: duester am 25. Dezember 2019, 22:43:29
Yupp, bei der Urknall-Sache habe ich die Kommentare auch zu gemacht.  ;D

Die ganzen Urknaller haben mir noch nicht erklärt, was Jesus Christus mit ihm zu tun hat; da lagen wohl so ca. 20 Mrd. Jahre oder so dazwischen. Sie können den Urknall nicht erklären (ich natürlich auch nicht). Der Unterschied ist, nach meinen bisherigen Erkenntnissen: sie haben für die Nicht-Erklärung einen besonderen Namen erfunden, er lautet: Gott. Um nochmal auf Spinoza zu kommen:

ZitatEin völliger Unsinn ist es also, zum Willen Gottes seine Zuflucht zu nehmen, wenn man etwas nicht versteht, — in der Tat eine lächerliche Art, seine Unwissenheit zu bekennen.

Theologisch-politischer Traktat, Kapitel 6
Titel: Re: Religiöser Atheismus??
Beitrag von: Schwuppdiwupp am 26. Dezember 2019, 06:56:52
Ist doch klar: Der christliche Gott war schon immer da. Auch zum Zeitpunkt des Urknalls und sogar davor. Christus ist nur ein Avatar der heiligen Dreieinfaltigkeit, der sich knapp 14 Milliarden Jahre nach dem Urknall ausgerechnet auf der Erde

Die Annahme, ein unverursachter Verursacher habe mit einem Fingerschnippen die Welt erschaffen, ist nur graduell besser als das Erklärungsmodell der Physiker, nachdem die Raumzeit aus einer Quantenfluaktion entstanden ist. Wirklich zufriedenstellend sind beide Vorstellungen nicht. Da bleiben eine Menge Fragen offen.

Immerhin hat der physikalische Ansatz einen Vorteil: Er lässt sich gegebenenfalls widerlegen.
Titel: Re: Religiöser Atheismus??
Beitrag von: Peiresc am 26. Dezember 2019, 11:45:13
Zitat von: Schwuppdiwupp am 26. Dezember 2019, 06:56:52
Immerhin hat der physikalische Ansatz einen Vorteil: Er lässt sich gegebenenfalls widerlegen.

Mario Bunge (Matter and Mind, Kap. 2) zählt Möglichkeiten für den realistischen Umgang mit dem Urknall auf.
ZitatWhat about the Big Bang, which is usually supposed to have occurred between 10 and 20 billion years ago? At present there are at least three possible answers to this question:

1.    The Big Bang happened, and it was God's creation out of nothing. This answer is obviously unacceptable to any physical cosmology, for it invokes the supernatural and violates Lucretius's ex nihilo nihil principle.
2.    The Big Bang is only a simplistic interpretation of the singularity occurring in the simplest of all cosmological models. This model assumes that the universe is the maximal balloon, and that there is a cosmic time in addition to the uncounted local times attached to all the possible reference frames. As Lévy-Leblond (1990) has argued, even admitting this model does not force us to interpret the time at which the radius of the universe was nil as the origin of the universe. This is because the model is not defined for that time, just as the ideal-gas formula "Pressure × Volume = const." is not defined for the null volume, at which the corresponding pressure is infinite – a physically impossible value. Adopting this sober approach leads Lévy-Leblond to concluding that the Big Bang never happened.
3.    The Big Bang did happen, but it was only the sudden and worldwide expansion of the universe that existed earlier in a state about which we know nothing. Nor will we ever discover anything about the pre-Big-Bang universe, because the explosion destroyed the records. One possibility is that the event consisted in the sudden emergence of ordinary matter (electrons, photons, etc.) out of the pre-existing electrodynamic vacuum, or space filled with "virtual" particles. But, given the scarcity of astronomical data, and the unrestrained fantasy of cosmologists, I suggest suspending judgment until more realistic cosmological models are crafted.

In any event, we should heed Tolman's (1934, 488) warning at the end of his massive treatise: "we must be specially careful to keep our judgments uninfected by the demands of theology and unswerved by human hopes and fears. The discovery of models, which start expansion from a singular state of zero volume, must not be confused with a proof that the actual universe was created at a finite time in the past."
(meine Hervorhebung).
Titel: Re: Religiöser Atheismus??
Beitrag von: Schwuppdiwupp am 26. Dezember 2019, 17:42:39
Zitat von: Peiresc am 26. Dezember 2019, 11:45:13
Mario Bunge (Matter and Mind, Kap. 2) zählt Möglichkeiten für den realistischen Umgang mit dem Urknall auf.

1. Muss man Mario Bunge kennen?

2. Was ist denn "ein realistischer Umgang mit dem Urknall"?
Wenn damit gemeint ist, dass man den ohne das Eingreifen "eines höheren Wesens, das wir verehren" (1) ;) für möglich hält, so ist das für mich eine Selbstverständlichkeit.

(1) ---> https://www.youtube.com/watch?v=gXwAuE2whrI (https://www.youtube.com/watch?v=gXwAuE2whrI)
Titel: Re: Religiöser Atheismus??
Beitrag von: celsus am 26. Dezember 2019, 17:48:35
Zitat von: Schwuppdiwupp am 26. Dezember 2019, 17:42:39
1. Muss man Mario Bunge kennen?

Ja.

https://blog.psiram.com/tag/mario-bunge/
Titel: Re: Religiöser Atheismus??
Beitrag von: Schwuppdiwupp am 26. Dezember 2019, 18:37:34
Öhhh ... nööö! ::)
Titel: Re: Religiöser Atheismus??
Beitrag von: Peiresc am 26. Dezember 2019, 18:45:42
Zitat von: Schwuppdiwupp am 26. Dezember 2019, 17:42:39
1. Muss man Mario Bunge kennen?
ja.  ;)

Zitat2. Was ist denn "ein realistischer Umgang mit dem Urknall"?
Ich habe gerade die Lektüre von ein paar christlichen Apologeten hinter mir (ich gebe zu, das ist ein seltsames Hobby). Die fahren sämtlich auf den Urknall als Wunder der Schöpfung ab. In diesem Zusammenhang bedeutet realistisch also nur: nichttheologisch.
Titel: Re: Religiöser Atheismus??
Beitrag von: Schwuppdiwupp am 26. Dezember 2019, 18:53:03
Da ich mir keinerlei Erkenntnisgewinn erwarte, überlasse ich gerne die Lektüre dir und Celsus. :-X

Es gibt zweifellos schönere Arten Masochismus auszuleben. :grins
Titel: Re: Religiöser Atheismus??
Beitrag von: Peiresc am 26. Dezember 2019, 19:37:19
Zitat von: Schwuppdiwupp am 26. Dezember 2019, 18:53:03
Da ich mir keinerlei Erkenntnisgewinn erwarte, überlasse ich gerne die Lektüre dir und Celsus. :-X

In einem uralten Faden bei uns kommen folgende Statements vor:
Zitat von: pelacani am 24. Mai 2014, 11:10:35
Zitat von: BasementBoi am 24. Mai 2014, 10:54:25
Bunge & Mahner entwerfen in 'Über die Natur der Dinge' einen ontologischen Materialismus der ohne den mystischen Firlefanz des DiaMat auskommt. [...]
Das ist doch nur Geschwätz.

ZitatEin Objekt ist nach Bunge und Mahner genau dann materiell – und damit real existent –, wenn es veränderbar ist, das heißt, wenn der Wert mindestens einer Eigenschaft des Objekts sich im Lauf der Zeit ändern kann. Dieses Kriterium ist brauchbarer als andere häufig verwendete Kriterien wie sinnliche Wahrnehmbarkeit, Massehaltigkeit oder raumzeitliche Lokalisierbarkeit. Auf diese Weise können nämlich unter anderem auch elektromagnetische Felder als materiell angesehen werden. Energie gilt nicht als immateriell, da sie als Eigenschaft materieller Objekte interpretiert wird.
http://www.spektrum.de/rezension/ueber-die-natur-der-dinge/798533
Wenn die so was schreiben, dann kennen die Lenin nicht mal dem Namen nach.
Das war völlig falsch.

Zitat von: BasementBoi am 11. Mai 2015, 20:17:36
Ein gemäßigter Konstruktivismus gehört auch zu den philosophischen Grundannahmen einer materialistischen Ontologie. (Bunge/Mahner - Über die Natur der Dinge)
Das auch.
Titel: Re: Religiöser Atheismus??
Beitrag von: celsus am 26. Dezember 2019, 19:56:18
Erstaunlich, wie man seine Ansichten über Dinge ändern kann, wenn man sich mit ihnen beschäftigt.  ;D
Titel: Re: Religiöser Atheismus??
Beitrag von: sailor am 27. Dezember 2019, 09:21:46
Kann mir jemand erklären, was Lenin nun damit zu tun hat?
Titel: Re: Religiöser Atheismus??
Beitrag von: Typee am 27. Dezember 2019, 11:27:10
Zitat von: Peiresc am 25. Dezember 2019, 22:27:53
Kein Atheist wird sie zwingen wollen, am Karfreitag zu tanzen.

Sie leidet unter dem Fensterbrett-Syndrom. Wie die Dame, die sich über den Nachbarn im Haus gegenüber beklagte, der nackt in seiner Wohnung herumlaufe. Auf den Umstand hingewiesen, das sie das aus ihrem Fenster heraus gar nicht sehen könne, insistierte sie: "Ja, aber wenn Sie aufs Fensterbrett steigen!"

Solche kruden Debatten sind die Frucht einer Missgeburt namens "positiver" Religionsfreiheit. Ihrer hätte es im Grunde nie bedurft, alles was an Religionsausübung als schützenswert betrachtet werden kann, passt zwanglos in Meinungs-, Presse- und Versammlungsfreiheit. Selbständig schützenswert ist allenfalls das, was quasi als Anhängsel mitschwimmt: die negative Religionsfreiheit, also die Freiheit, entweder keinen bestimmten Glauben oder gar keinen Glauben zu haben und zu praktizieren. Die positive Variante führt automatisch zur Übergriffigkeit. Sie ist der Quellcode aller Theokratien.



Titel: Re: Religiöser Atheismus??
Beitrag von: Typee am 27. Dezember 2019, 11:33:04
Zitat von: sweeper am 28. Mai 2014, 17:19:05
Im Brights-Blog wird aktuell auf einen Artikel in der ZEIT verlinkt:

http://www.zeit.de/2014/22/glaube-atheismus-ronald-dworkin
Zitat... Schweigen der Räume? Das erinnert an den faszinierenden Religionsphilosophen, Physiker und Mathematiker Blaise Pascal (1623 bis 1662), doch leider nur auf den ersten Blick. Pascal war absolut modern, er traute den menschlichen Gefühlen nicht und wollte lieber auf Gott wetten. Ganz anders Dworkin in seinen Einstein-Vorlesungen, die er in Bern gehalten und die er noch kurz vor seinem Tod zu diesem Buch ausgearbeitet hat: Für ihn sind die Gefühle, die uns beim Anblick des Erhabenen ergreifen, transsubjektive Empfindungen; das Numinose des Universums ist für Dworkin also weder eine Täuschung noch ein Produkt unserer Sinnesorgane – es ist die innere Repräsentation einer äußeren Wirklichkeit. Die "Ehrfurcht gebietenden Gefühle" bezeugten eine Macht, "die größer ist als wir", und diese "Macht des Wunderbaren" wohne hinter den Erscheinungen und sei genauso real wie Planeten oder Kopfschmerzen...

Die Ableitung von (Selbst-)Verantwortung aus dem kosmisch Schönen? So etwas hat schon lange kein Philosoph mehr behauptet, aber genau das tut Dworkin. Er verstand sich als religiöser Atheist, das heißt: Er glaubte zwar nicht an Gott, wohl aber an die sinnhafte Einheit des Kosmos und die Versöhnung von Glauben und Wissen. Auf keinen Fall wollte er den Naturwissenschaften das Feld überlassen, denn angenommen, diese würden eines Tages kalt lächelnd verkünden, unsere Abscheu vor Grausamkeit gehöre einer entwicklungsgeschichtlich überholten Stufe der Menschheit an, dann stünde ein säkularer Geist mit leeren Händen da. Nicht aber der religiöse Atheist. Sein "Werterealismus" könne zeigen, dass unsere moralischen Überzeugungen nichts Erfundenes seien, sondern etwas Objektives und von uns Entdecktes – sie seien real und gehörten gleichsam zur Hintergrundstrahlung des Universums. Unsere ethischen Überzeugungen, schreibt Dworkin den postmodernen Relativisten ins Stammbuch, "könnten wir nicht haben, ohne zu denken, dass sie objektiv wahr sind"...

Mich interessiert eure Meinung dazu.
Persönlich finde ich es ja aufrichtiger, auf religiöse Gefühle zu verzichten, wenn man sich als "Atheist" versteht...

Die Realität müssen wir nehmen, wie sie ist - nicht umgekehrt. Insbesondere haben wir keinen Anspruch darauf, dass die Welt schön, ethisch korrekt oder sonst angenehm beschaffen ist. Dworkin könnte aber in einem Punkt, der ihm womöglich so nur herausgerutscht ist, etwas Zutreffendes gesagt haben: "...ohne zu denken, dass sie objektiv wahr sind". Denken wir es also, weil es uns aufrecht erhält. Ob es der Fall ist, steht auf einem ganz anderen Blatt.

Titel: Re: Religiöser Atheismus??
Beitrag von: Peiresc am 27. Dezember 2019, 11:49:46
Zitat von: sailor am 27. Dezember 2019, 09:21:46
Kann mir jemand erklären, was Lenin nun damit zu tun hat?

Über die Leninsche Materiedefinition:
ZitatDie Materie ist eine philosophische Kategorie zur Bezeichnung der objektiven Realität, die dem Menschen in seinen Empfindungen gegeben ist, die von unseren Empfindungen kopiert, fotografiert, abgebildet wird und unabhängig von ihnen existiert. Davon zu reden, daß ein solcher Begriff ,,veralten" kann, ist daher kindisches Geschwätz, [...]

Es fragt sich nun, gibt es umfassendere Begriffe, mit denen die Erkenntnistheorie operieren könnte, als die Begriffe Sein und Denken, Materie und Empfindung, Physisches und Psychisches? Nein. Das sind die weitestgehenden, die umfassendsten Begriffe, über die die Erkenntnistheorie dem Wesen der Sache nach (wenn man von den stets möglichen Änderungen der Nomenklatur absieht) bis jetzt nicht hinausgegangen ist.

W.I. Lenin. Band 14. Materialismus und Empiriokritizismus. Dietz Verlag Berlin 1971, S. 124, 141

Es ist gar nicht so leicht, damit fertig zu werden. Die meisten Philosophen, die ich gelesen habe, haben sich damit nicht abgeplagt.
Titel: Re: Religiöser Atheismus??
Beitrag von: sailor am 27. Dezember 2019, 13:47:16
Ach Gott (sic), so weit habe ich den alten Russendiktator gar nicht gelesen... Kein Wunder, dass es mit der Revolution nicht so geklappt hat wie gewünscht... Danke für den Querverweis.

Ich verstehe nicht, warum man sich derart an der "Schöpfung" hochzieht, egal auf welcher Seite. Man wird in nächster Zeit keine Theorie beweisen können, wobei die wissenschaftliche Seite dabei eindeutig auf der Innenbahn läuft, schliesslich kann man dort die Bücher selbst schreiben und muss nicht auf irgendwelche Römer Rücksicht nehmen ;)
Titel: Re: Religiöser Atheismus??
Beitrag von: Nogro am 27. Dezember 2019, 14:56:30
Zitat von: Peiresc am 27. Dezember 2019, 11:49:46
Über die Leninsche Materiedefinition:
...
W.I. Lenin. Band 14. Materialismus und Empiriokritizismus. Dietz Verlag Berlin 1971, S. 124, 141

So kommt es, dass ich ...zig Jahre nach Stabü und ML-Vorlesung wieder mal (freiwillig!) Lenin lese  :grins2:
Titel: Re: Religiöser Atheismus??
Beitrag von: Peiresc am 27. Dezember 2019, 16:13:48
Zitat von: Nogro am 27. Dezember 2019, 14:56:30
So kommt es, dass ich ...zig Jahre nach Stabü und ML-Vorlesung wieder mal (freiwillig!) Lenin lese  :grins2:

Bei meiner unsystematischen Lektüre ist mir Gustav A Wetter begegnet. Seine Kritik des Materiebegriffs entzündet sich bei Engels, dem er vorwirft, ,,das Denken" und ,,den Geist" miteinander vermengt zu haben, eine Konfusion das. Das diagnostiziert er auch bei Lenin: sein breiter Materiebegriff würde auch Gott einschließen (,,außerhalb und unabhängig von unserem Bewusstsein"). Unmittelbar verständlich: man muss nur bedenken, dass Wetter Jesuit ist und deswegen eine thomistische Philosophie vertritt. Er schwenkt dann auch gleich zu Stalin über, alles eine Soße (man muss ihm aber zugute halten, dass Wetters Buch von 1952 ist).

Nicht wirklich brauchbar. Mein Problem mit der Lenin-Definition war immer ein anderes, ich musste ja nicht den lieben Gott retten. Was heißt eigentlich ,,außerhalb und unabhängig von unserem Bewusstsein"? Dein Bewusstsein ist außerhalb und unabhängig von meinem – ist es damit Materie? Auf diese Frage gibt ... Mario Bunge eine Antwort. Die Philosophie Lenins ist letztlich dualistisch, auch wenn der selber das nicht geglaubt hätte. Die Materie-Definition von Bunge kommt ohne die Relation zum Bewusstsein aus und grenzt trotzdem klar ab.
Titel: Re: Religiöser Atheismus??
Beitrag von: Schwuppdiwupp am 27. Dezember 2019, 20:19:28
Lang---weil---lig!  :police:

:grins:
Titel: Re: Religiöser Atheismus??
Beitrag von: Peiresc am 27. Dezember 2019, 21:36:12
(editiert)
Zitat von: Schwuppdiwupp am 27. Dezember 2019, 20:19:28
Lang---weil---lig!  :police:

:grins:

War mir ein Vergnügen!  ;D

PS. Graham Hoyle sagt in einer Rezension zu Bunge, The Mind-Body Problem, 1980:
ZitatNeuroscientists in general have a level of interest in the title topic of this book which is directly proportional to the number of years that have elapsed since they obtained their Ph.D. degree or equivalent. Some have had an interest in it as adolescents, but have put it aside until they shall be in the grip of neo-senescence, when they can be expected to take it up again in earnest.
- Junger Spund!  8)
Titel: Re: Religiöser Atheismus??
Beitrag von: Sauropode am 27. Dezember 2019, 22:37:32
Puh, Lenin. Ich kann nur sagen, dass ich das ganze, was daraus erwuchs, vollumfänglich ablehne. Im Übrigen hat die Zwangsbeschäftigung mit dieser Philos.... ähm, Sichtweise dazu geführt, dass ich mich gänzlich der Philosophie abgewandt habe. War so ähnlich wie mit der Literatur. Pawel Kortschagin hat mir das Lesen von Romanen für immer madig gemacht.
Titel: Re: Religiöser Atheismus??
Beitrag von: Peiresc am 27. Dezember 2019, 22:40:06
Zitat von: Sauropode am 27. Dezember 2019, 22:37:32
Puh, Lenin. Ich kann nur sagen, dass ich das ganze, was daraus erwuchs, vollumfänglich ablehne. Im Übrigen hat die Zwangsbeschäftigung mit dieser Philos.... ähm, Sichtweise dazu geführt, dass ich mich gänzlich der Philosophie abgewandt habe. War so ähnlich wie mit der Literatur. Pawel Kortschagin hat mit das Lesen von Romanen für immer madig gemacht.

ZitatDas Gegenteil eines Fehlers ist ein Fehler - Johannes R. Becher
(aus dem Gedächtnis zitiert).  8)

PS. bezgl. Lenin: so haben so gut wie alle reagiert. Hans Albert macht irgendwo die Bemerkung, er sei düster dogmatisch, und damit war er schon durch mit ihm.
Titel: Re: Religiöser Atheismus??
Beitrag von: Sauropode am 27. Dezember 2019, 22:46:34
Das Positive daran ist, dass ich mich schon in frühester Jugend den Naturwissenschaften zugewandt habe.
Titel: Re: Religiöser Atheismus??
Beitrag von: Peiresc am 27. Dezember 2019, 22:48:37
Aber um Lenin nun endlich zur letzten Ruhe zu betten, den noch:
ZitatIronically, the most vehement critic of the new idealism was neither a scientist nor a philosopher, but a professional politician: Lenin (1908). His book on this subject, Materialism and Empiriocriticism, was a clever onslaught on positivism and conventionalism. Lacking a scientific background, Lenin confined his attention to second-hand sources. Yet, he was basically right, though for the wrong reason: because the opinions he criticized clashed with Engels's.

Bunge, Matter and Mind
Eine durchgreifende Idealismus-Kritik bietet inzwischen auch David Stove: The Plato Cult and Other Philosophical Follies, Basil Blackwell, Oxford 1991.
Titel: Re: Religiöser Atheismus??
Beitrag von: Sauropode am 27. Dezember 2019, 22:58:57
Zitat von: Peiresc am 27. Dezember 2019, 22:40:06
Zitat von: Sauropode am 27. Dezember 2019, 22:37:32
Puh, Lenin. Ich kann nur sagen, dass ich das ganze, was daraus erwuchs, vollumfänglich ablehne. Im Übrigen hat die Zwangsbeschäftigung mit dieser Philos.... ähm, Sichtweise dazu geführt, dass ich mich gänzlich der Philosophie abgewandt habe. War so ähnlich wie mit der Literatur. Pawel Kortschagin hat mit das Lesen von Romanen für immer madig gemacht.

ZitatDas Gegenteil eines Fehlers ist ein Fehler - Johannes R. Becher
(aus dem Gedächtnis zitiert).  8)

PS. bezgl. Lenin: so haben so gut wie alle reagiert. Hans Albert macht irgendwo die Bemerkung, er sei düster dogmatisch, und damit war er schon durch mit ihm.

Ich weiß. Ich finde da aber keinen Zugang mehr.
Titel: Re: Religiöser Atheismus??
Beitrag von: Peiresc am 27. Dezember 2019, 23:00:52
Zitat von: Sauropode am 27. Dezember 2019, 22:58:57
Ich weiß. Ich finde da aber keinen Zugang mehr.

Bei den Romanen solltest Du Dich aber noch mal beraten lassen :grins2: (auch wenn ich selber so gut wie keine mehr lese).
Titel: Re: Religiöser Atheismus??
Beitrag von: sailor am 30. Dezember 2019, 13:57:25
Och, Romane sind ganz gut, auch als Annäherung an geisteswissenschaftliche Abhandlungen: Dank Richard Morgan (Altered Carbon und viele mehr) hab ich mich mal mit theoretischem Anarchismus/Syndikalismus (Bakunin et al) beschäftigt. Dabei kam für mich keine neue Erkenntnis, aber zumindest eine Horizonterweiterung bei rum.

Zum Glauben hat mich bisher kein Buch gebracht, weder Bibel, noch Koran, noch anderes. Was wirklich toll ist, wenn man ein wenig vergleichendes Lesen macht: die moralischen Grundregeln sind universell und so manche religiös verbrämte Ernährungs- und Verhaltensregel erhöht die Lebenserwartung im vorzeitlich-antiken Setting ungemein :D