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Deutsch => Unzufrieden mit einem Psiram-Artikel? => Thema gestartet von: NeuroMD am 04. Dezember 2023, 22:59:23

Titel: MECFS ist keine erfundene Krankheit
Beitrag von: NeuroMD am 04. Dezember 2023, 22:59:23
Der Artikel zu Krankheitserfindungen https://www.psiram.com/de/index.php/Krankheitserfindung
beschreibt das chronische Erschöpfungssyndrom CFS oder auch MECFS als möglicherweise nicht eigenständige Krankheit. Die WHO erkannte bereits 1969 ME/CFS als neuroimmunologische Erkrankung, die hat einen eigenen ICD-Code G93.3. Als Mediziner sind mir klare Diagnosekriterien bekannt zur Abgrenzung von anderen Erkrankungen und Symptomen (Kanadischen Konsenskriterien (CCC) und die Internationalen Konsenskriterien (ICC). Nähere Infos findet man auch auf der Seite der Fachgesellschaft Deutsche Gesellschaft für ME/CFS unter www.mecfs.de.
Neben den internationalen medizinischen Leitlinien zu ME/CFS gibt es jetzt seit 2022 auch eine deutsche S3 Leitlinie mit klarer Anerkennung (Kapitel in der S3 Leitlinie Müdigkeit).
Titel: Re: MECFS ist keine erfundene Krankheit
Beitrag von: eLender am 04. Dezember 2023, 23:28:07
Das liegt möglicherweise daran, das der Artikel in einer Zeit angelegt wurde, als das noch nicht ganz klar diagnostizierbar war (ist aber nur eine Vermutung). Das ist ein Übersichtsartikel, aber leider fehlen da Belege. Ich habe spontan etwas aus der Zeit gefunden, als man das desease mongering thematisiert hat. Da steht ein Satz, der aber ggf. heute noch gültig ist:

ZitatDas Perfide daran: Es gibt viele der Leiden tatsächlich. Aber sie treten längst nicht so gravierend oder verbreitet auf wie von interessierten Kreisen behauptet. Oft ist die Diagnose zwar nicht völliger Nonsens, aber eben doch zu großen Teilen ein Geschäftsmodell.
https://www.sueddeutsche.de/leben/geldmacherei-mit-patienten-die-krankheitserfinder-1.1120684

Da fällt mir spontan die "Neuroborreliose" oder auch die "Multiple Persönlichkeit" (DIS) ein. Zu letzterer hatte ich neulich vernommen, dass die überaus selten sei, trotzdem sehr häufig diagnostiziert wird. Möglicherweise wird auch das CFS zu oft diagnostiziert.
Titel: Re: MECFS ist keine erfundene Krankheit
Beitrag von: Peiresc am 04. Dezember 2023, 23:28:53
Guten Abend,

Zitat von: NeuroMD am 04. Dezember 2023, 22:59:23Als Mediziner sind mir klare Diagnosekriterien bekannt zur Abgrenzung von anderen Erkrankungen und Symptomen

Was sind denn die Abgrenzungskriterien z. B. von der Fibromyalgie? Ich finde, Du solltest da noch ein bisschen ins Detail gehen. Das Bundesgesundheitsministerium meint (Text von 4/23):

ZitatDie Definition und Diagnose von ME/CFS ist aus verschiedenen Gründen schwierig. Dazu zählen die vielschichtige Symptomatik und das Fehlen eines etablierten Biomarkers. International werden verschiedene Kriterienkataloge zur Diagnose vorgeschlagen, die alle rein symptombasiert sind. Nach jüngeren Kriterienkatalogen zur Diagnose ist ME/CFS insbesondere durch das Leitsymptom der Symptomverschlimmerung nach Anstrengung (Post-exertional Malaise [PEM]) gekennzeichnet, hinzu kommen verschiedene Symptome wie eine schwere und anhaltende Fatigue, Schmerzen, Schlafstörungen und kognitive Störungen.  https://www.bundesgesundheitsministerium.de/fileadmin/Dateien/5_Publikationen/Gesundheit/Berichte/ME-CFS-aktueller-Kenntnisstand_Abschlussbericht_V1-0.pdf

Was davon ist operationalisiert und validiert?

Besonders interessant finde ich ja die ,,Symptomverschlimmerung nach Anstrengung". Ich äußere mal eine ketzerische Überlegung zur Vorgeschichte. Die ehrwürdige Fibromyalgie hat auch eine S3-Leitlinie, aber die war in gewisser Weise enttäuschend. Außer ein paar unspektakulären Antidepressiva, die ,,versucht werden können" oder ähnlich, bietet sie noch körperliches Training zur Behandlung an. Mit solchen Empfehlungen ist das so eine Sache. Die einen machen es sowieso, und die anderen machen es sowieso nicht. Hier scheinen sich die letzteren beim Kampf um die Aufnahme in den Symptomkatalog durchgesetzt zu haben. Ist weniger belästigend und verschiebt den Fokus wieder zum Behandler.
Titel: Re: MECFS ist keine erfundene Krankheit
Beitrag von: NeuroMD am 05. Dezember 2023, 14:46:20
Hallo, danke für die Gedanken dazu.
Der Verweis auf fehlende Biomarker des BMG erscheint mir ein wenig realitätsfern. Wenn ich an meine letzte Arbeitswoche denke, da hatten ca. 75% der Patienten Erkrankungen ohne Biomarker oder radiologischen Nachweis (Parkinson, verschiedene Formen von Kopfschmerzen wie Clusterkopfschmerz, Spannungskopfschmerz usw., Depression, verschiedene Formen neuropathischer Schmerzen, einige Formen von Demenz...).
Die Diagnosekriterien habe ich oben genannt, entscheidend in der Abgrenzung zu beispielsweise Fibromyalgie oder Tumorfatigue ist das Kernsymptom PEM (auf deutsch "Verschlechterung nach Belastung"), dass ich bei keiner anderen Erkrankung messen kann. Weder per in Studien üblichen BelastungsEKG (Cpet) an zwei aufeinander folgenden Tagen noch per in der Praxis einfacher umsetzbarer wiederholter Handkraftmessung.
Paper dazu zb:
https://www.mdpi.com/1648-9144/59/3/571

Darüber, ob die Erkrankung zu häufig oder zu selten diagnostiziert wird, kann ich keine valide Auskunft geben, die Autoren des Artikels sicher auch nicht. Es bleibt letztlich nur der Vergleich der Inzidenzen im internationalen Vergleich und zu systematisch erfassten Studienpopulationen zu den vergebenen Diagnosen.
Laut kassenärztlicher Bundesvereinigung war der zugehörige ICD-Code G93. 3 in Deutschland 500.000 vergeben worden. Das lässt sich jedoch nur schwerlich ins Verhältnis zu frühreren Inzidenzerfassungen mit 0,1-0,8% setzen, da die Pandemie die Fallzallen deutlich in die Höhe getrieben hat.
Titel: Re: MECFS ist keine erfundene Krankheit
Beitrag von: Peiresc am 05. Dezember 2023, 15:05:06
Zitat von: NeuroMD am 05. Dezember 2023, 14:46:20Der Verweis auf fehlende Biomarker des BMG erscheint mir ein wenig realitätsfern. Wenn ich an meine letzte Arbeitswoche denke, da hatten ca. 75% der Patienten Erkrankungen ohne Biomarker oder radiologischen Nachweis (Parkinson, verschiedene Formen von Kopfschmerzen wie Clusterkopfschmerz, Spannungskopfschmerz usw., Depression, verschiedene Formen neuropathischer Schmerzen, einige Formen von Demenz...).

Aber das ist schon ein wenig eine verwinkelte Argumentation. Alle diese Erkrankungen haben gut validierte Außengrenzen und sind nicht umstritten.

Nehmen wir mal diesen Einleitungstext von der autorisierten Quelle https://www.mecfs.de/
ZitatME/CFS – Myalgische Enzephalomyelitis / Chronisches Fatigue-Syndrom
ME/CFS ist eine schwere neuroimmunologische Erkrankung, die oft zu einem hohen Grad der körperlichen Behinderung führt. ME/CFS-Erkrankte haben oft eine sehr niedrige Lebensqualität. Ein Viertel aller Patienten kann das Haus nicht mehr verlassen, viele sind bettlägerig und schätzungsweise über 60 Prozent arbeitsunfähig. In Deutschland sind (präpandemisch) etwa 250.000 Menschen betroffen, darunter 40.000 Kinder. Weltweit sind es ca. 17 Millionen.*
ME/CFS-Erkrankte leiden unter einer ausgeprägten Zustandsverschlechterung ihrer Symptome nach geringer körperlicher und geistiger Belastung (sogenannte Post-Exertional Malaise). Dazu gehören eine schwere Fatigue (krankhafte Erschöpfung), kognitive Störungen, ausgeprägte Schmerzen, eine Überempfindlichkeit auf Sinnesreize und eine Störung des Immunsystems sowie des autonomen Nervensystems.

Leider wird hier nicht auf Belege verwiesen (mit Beleg meine ich empirische Studien, nicht Pressemitteilungen). Wer bettlägerig ist, ohne dass ein fassbarer organischer Befund vorliegt, wird wohl in der Praxis bisher zumeist als schwer depressiv ohne psychotische Symptome (F32.2) diagnostiziert worden sein.

Mehr Details erfährt man hier:
https://www.mecfs.de/daten-fakten/
Dort ist z. B. zur Lebensqualität zu lesen:
ZitatDer Graph veranschaulicht die niedrigen Werte des ,,Health-related quality of life (HRQOL)" nach Hvidberg et al. 2015.
Hvidbergs Methodik:
ZitatAll members of the Danish ME/CFS Patient Association in 2013 (n=319) were asked to fill out a questionnaire [...] From these, 105 ME/CFS patients were identified and gave valid responses.
Sie fühlen sich schlecht. Aber es ist dann wohl, wie soll ich sagen, etwas unklar, ob diese selbstselektionierte Stichprobe für die Grundgesamtheit der 17 Mio. Erkrankten repräsentativ ist und, nicht ganz unwichtig, wie die Validität geprüft wurde (oder auch nur, was damit gemeint ist: nur der Ausschluss offensichtlich unsinniger Antworten?).

Oder die ,,burden of disease":
ZitatIn Deutschland beziffern diese sich auf 158.000 verlorene Lebensjahre durch ME/CFS (Umrechnung der Werte aus den USA auf die deutsche Prävalenz).
Ich finde schon, dass es von diskret zweifelhafter Legitimität ist, in der Grafik eine Exaktheit zu simulieren.
Aber schauen wir uns die Quelle an, Dimmock et al. 2017 DOI: 10.15761/JMT.1000102:
Zitatthe primary causes of death among ME/CFS patients are cancer, heart disease and suicide.
https://www.oatext.com/Estimating-the-disease-burden-of-MECFS-in-the-United-States-and-its-relation-to-research-funding.php
Wiebitte? Hieß es nicht in den Kriterien
ZitatAusschluss anderer physischer oder psychischer Erkrankungen
https://mecfs-freiburg.de/pages/diagnosekriterien.html
? Wie verträgt sich das Ausschlusskriterium mit dieser Epidemiologie (die selbst keine empirische Erhebung, sondern eine narrative review-ähnliche** Hochrechnung aus eher kleinen Studien ist)?

Zur interessanten Abgrenzung zu CFS/Fibromyalgie meint mecfs.de:
ZitatDas Leitsymptom von ME/CFS ist die sog. Post-Exertional Malaise – eine Verschlechterung der gesamten Symptomatik nach Aktivität, auch oft ,,Crash" genannt. Sie kann schon nach kleinen Aktivitäten wie Zähneputzen, Frühstücken oder Einkaufen auftreten. Oft geht die Post-Exertional Malaise mit einem rapiden Abfall des verbliebenen Leistungsniveaus einher. Die Post-Exertional Malaise kann jeweils tage- oder wochenlang anhalten oder zu einer langfristigen Zustandsverschlechterung führen.
https://www.mecfs.de/faq-haeufig-gestellte-fragen/#diagnose_und_therapie
Also wer nach einmaligem Zähneputzen so erschöpft ist, dass er wochenlang im Bett bleiben muss, sollte als ,,ME/CFS" diagnostiziert werden? Müssen die Erkrankten dann nicht konsequenterweise mit Magensonde/PEG ernährt werden?

Ich habe auch noch eine Frage zur Terminologie. ,,Myalgie" heißt übersetzt ,,Muskelschmerz", und Enzephalomyelitis bedeutet ,,Entzündung des Gehirns und des Rückenmarks". Eine Entzündung des Gehirns und des Rückenmarks ist klinisch charakterisiert durch neurologische Symptome (Lähmungen, Hirnnervenstörungen, Augenbewegungsstörungen, epileptische Anfälle; psychopathologisch: Bewusstseinstrübung, Verwirrtheit, ev. Halluzinationen). Je nachdem, welche Ätiologie dahintersteht und welches Hirnareal betroffen ist, muss auch mit einer Letalität gerechnet werden. Bildgebend sind MRT-Veränderungen – quasi obligatorisch – zu erwarten. Schließlich müssen im Liquor charakteristische Zeichen zu finden sein (Zellzahl- und Eiweißvermehrung, intrathekale Antikörperproduktion). Muskelschmerzen dagegen würde man eher nicht erwarten.

Ist es denkbar, dass die ,,ME/CFS"-Adepten mit der furchtgebietenden Namensgebung den Bogen überspannen?

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* 17 Mio: Thomas Dick (1774-1857), Geistlicher und Astronom, ermittelt die Zahl der Bewohner des Sonnensystems: ,,the Solar System contained 21,894,974,404,480 (21+ trillion) inhabitants" (8 Trillionen davon hat er übrigens auf den Saturnringen untergebracht). Wie ist er auf diese Exaktheit gekommen? Genial einfach: er hat sie berechnet, indem er die Bevölkerungsdichte Englands auf die Oberfläche der Planeten des Sonnensystems projiziert hat.
** review-ähnlich: Meta-Analyse kann man dazu nicht sagen, denn der Prozess der Identifizierung der berücksichtigten Studien wird nicht beschrieben.

Titel: Re: MECFS ist keine erfundene Krankheit
Beitrag von: Peiresc am 05. Dezember 2023, 19:14:59
Zitat von: NeuroMD am 05. Dezember 2023, 14:46:20Die Diagnosekriterien habe ich oben genannt, entscheidend in der Abgrenzung zu beispielsweise Fibromyalgie oder Tumorfatigue ist das Kernsymptom PEM (auf deutsch "Verschlechterung nach Belastung"), dass ich bei keiner anderen Erkrankung messen kann.

Woher weißt du das? Deine Quelle gibt genau das nicht her, denn sie hat gegen Gesunde geprüft:
ZitatWe specifically recruited people who were generally healthy but chronically sedentary to serve as the control group and sought to age- and gender-match controls to subjects in the ME/CFS group.
https://www.mdpi.com/1648-9144/59/3/571

Das ist nicht die relevante Kontrollgruppe, wenn man nach der Spezifität des Symptoms fragt. Noch ganz davon abgesehen, dass hier eine gewisse selbsterfüllende Prophezeiung unausweichlich ist. Sie zu vermeiden, dürfte die Verum-Gruppe nichts von ihrer Erkrankung wissen, was schwer zu realisieren sein wird.

Titel: Re: MECFS ist keine erfundene Krankheit
Beitrag von: eLender am 05. Dezember 2023, 22:16:25
Wenn man auf WP schaut, bekommt man auch einen Eindruck über die Validität der Diagnose. Ich weiß, da wird auch nur z.T. selektiv auf andere Quelle zurückgegriffen, aber bei so einem Thema sind meist Proponenten bemüht, das als valide darzustellen. Es scheint aber nicht so, als hätten die Oberwasser:

ZitatTrotz ungeklärter Ursachen und Entstehungsmechanismen ist das Syndrom international als eigenständiges Krankheitsbild anerkannt.[1][2] Die Forschung konnte jedoch in der Summe bisher keine belastbaren Ergebnisse erbringen, die für die Existenz des CFS als eigenständiges Krankheitsbild oder für ein einheitliches Entstehungsmodell sprechen.[3] Es gibt keinen diagnostischen Test, der das Vorliegen von ME/CFS nachweisen könnte.[4]
https://de.wikipedia.org/wiki/Chronisches_Ersch%C3%B6pfungssyndrom

Das steht schon in der Einleitung so (und das ist der umkämpfteste Platz), ein deutlicher Hinweis! Man findet da noch mehrere Stellen, wo es klar wird, dass das eine sehr umstrittene Prognose ist. Ich habe nur kurz auf die Diskussionsseite geschaut, da geht die Post ab :fechtel:
Titel: Re: MECFS ist keine erfundene Krankheit
Beitrag von: NeuroMD am 06. Dezember 2023, 09:51:59
Die National Academy of Medicine hat im Jahr 2015 einen Report zu ME/CFS veröffentlicht, für den ca. 9000 Studien ausgewertet wurden. Das Fazit: ME/CFS ist eine definierte körperliche Erkrankung mit dem Leitsymptom PEM
https://nap.nationalacademies.org/read/19012/chapter/1

Diskussionen über die wenig gelungene Namensgebung gibt es mehr als genug und tragen an dieser Stelle nicht zum Thema bei (und ja es gibt neben entsprechenden Obduktionsbefunden unspezifische Veränderungen im Liquor). Dazugehörige neurologische Symptome findet man, aber nicht einheitlich und nicht bei allen (vorallem bei schwer Betroffenen) und ja einige meiner MECFS-Patienten müssen über Port oder PEG parenteral ernährt werden, das ist auch nichts neues.
Was man regelhaft in Testbatterien findet sind Störungen in Kognition und Gedächtnisleistung.
An dieser Stelle möchte ich auf die Nice-Leitlinie zu MECFS verweisen, die verschiedene Quellenbelege auflistet:
https://www.nice.org.uk/guidance/ng206

Auf Wikipedia geht seit Jahren die Post ab zu dem Thema wegen der starken Politisierung der Erkrankung, die durch die Pandemie und Querdenkerbewegung noch verstärkt wurde. Wikipedia ist diesbezüglich problematisch (siehe zb. auch Artikel zum Ukrainekrieg usw., dass dort nicht Fakten am durchsetzungsstärksten sind sondern die aktivste Community. Wikipedia bei einem derart politisierten Thema als Quelle heranzuziehen sollte man sich gut überlegen.


Titel: Re: MECFS ist keine erfundene Krankheit
Beitrag von: NeuroMD am 06. Dezember 2023, 10:04:31

Zitat von: Peiresc am 05. Dezember 2023, 15:05:06Wie verträgt sich das Ausschlusskriterium mit dieser Epidemiologie

Die Diagnosestellung der Erkrankung erfolgt zu einem Zeitpunkt X. Zu diesem werden Differentialdagnosen wie zb. Depression usw. ausgeschlossen. Zum Zeitpunkt y (statistisch X+ 15 Jahre=y) versterben die Patienten an den genannten Todesursachen (die statistisch früher auftreten als in der Durchschnittsbevölkerung). Ich kann da keine Diskrepanz erkennen.
Das selbe Muster erkennt man bei vielen chronischen Erkrankungen. Bestes Beispiel ist der rheumatische Formenkreis.
Titel: Re: MECFS ist keine erfundene Krankheit
Beitrag von: NeuroMD am 06. Dezember 2023, 10:16:18
Die Älteren unter uns wird diese Diskussion an die frühen Phasen von Aids aber auch MS erinnern. Etwas ist umstritten, weil eine wissenschaftliche Fragestellung politisiert und umstritten wird von den analogen Personenkreisen, nicht von den Leuten, die diese Personen behandeln.

Ich denke, meine Kritik an der Stelle des Artikels ist angekommen. Ich hoffe, der/die Autor/in nimmt dies zum Anlass, sich mit der aktuellen Wissensbasis zu beschäftigen.
Titel: Re: MECFS ist keine erfundene Krankheit
Beitrag von: Peiresc am 06. Dezember 2023, 12:27:34
Zitat von: NeuroMD am 06. Dezember 2023, 10:04:31Die Diagnosestellung der Erkrankung erfolgt zu einem Zeitpunkt X

Wir bleiben der Einfachheit mal bei den YLD (years lost due to death), als dem Parameter, der noch am leichtesten zu ermitteln sein sollte, d. h. für den die wenigsten unsicheren Zusatzannahmen nötig sind. Dafür wird die ,,2006 Jason study" herangezogen.

Sie wird so referiert:
ZitatJason analyzed a memorial list of 166 deceased individuals and reported that approximately 20% died of each of these three causes.
Auf diese Weise kann man vorzeitiges Ableben für jede Bevölkerungsgruppe diagnostizieren (es gibt andere Beispiele dafür, wie jemand die Friedhöfe für so was abgeklappert hat, aber ich weiß die Einzelheiten nicht mehr). In Tabelle 3 werden nur die YLD für Krebs, Suizid und Selbstmord herangezogen, nicht die für MECFS allgemein.

Diese Studie heißt im Literaturverzeichnis: ,,Jason, LA, Torres-Harding S, Njoku MG (2006) The Face of CFS in the U.S. The CFIDS Chronicle." Auffällig hier, dass die bibliografischen Angaben irgendwie unvollständig sind. Wenn es ein Buch ist, dann sollten Verlagsort und Verlag angegeben sein, und eine Zeitschrift mit Band und Seitennummern. D. h. es entsteht der Verdacht, es handle sich nicht um eine peer-reviewed Publikation.

Es scheint sich um dies hier zu handeln:
https://www.researchgate.net/profile/Leonard-Jason/publication/236995875_The_Face_of_CFS_in_the_US/links/00b7d51acf6823bccb000000/The-Face-of-CFS-in-the-US.pdf
In dem Text kommen die Worte ,,death", ,,memorial", ,,list" oder ,,YLD" nicht vor. Das Wort ,,cancer" kommt 2x vor; der Satz lautet:
ZitatIn fact, CFS is more common in this country than cervical cancer, AIDS or lung cancer.

Weiter wird ,,March 2014" mit 916 Fällen zitiert. Hier sind die Angaben wie folgt:
ZitatVallings R, Summary report (P.7) on Dr. D. March's 2014 IACFS/ME conference pre-publication presentation, The natural course of Chronic Fatigue Syndrome: Evidence from a Multi-site Clinical Epidemiological Study.
Ein second-hand-Bericht über eine noch nicht publizierte Arbeit. Ich habe mich nicht bemüht, ihn aufzutreiben, weil ich davon ausgehe, dass er keinen Einblick in die Methodik der Erhebung gestatten wird.

Die 3. Quelle ist ,,McManimen (2016)". Auch diese Studie scheint nicht in einem peer-reviewed Journal publiziert worden zu sein.

Es bleibt suspekt, einen kausalen Zusammenhang zwischen "MECFS" und den "vorzeitigen Todesfällen" zu unterstellen. Die Quelle ist ein Send-more-money-Artikel, keine um objektive Darstellung bemühte Meta-Analyse.

Zitat von: NeuroMD am 06. Dezember 2023, 10:16:18Die Älteren unter uns wird diese Diskussion an die frühen Phasen von Aids aber auch MS erinnern.
Ich will jetzt nichts über mein Alter sagen
;D
Aber diese Assoziationen finde ich völlig fernliegend. Die MS ist seit Charcot als Krankheit anerkannt, und bei AIDS gab es allenfalls ein evangelikales Frohlocken, dass die Geißel Gottes über die Schwulen hereinbreche. Mir kommen da ganz andere Assoziationen, z. B. die chronische Neuroborreliose oder kürzlich das Havanna-Syndrom (https://forum.psiram.com/index.php?topic=17667.0).

Zitat von: NeuroMD am 06. Dezember 2023, 10:16:18Etwas ist umstritten, weil eine wissenschaftliche Fragestellung politisiert und umstritten wird von den analogen Personenkreisen, nicht von den Leuten, die diese Personen behandeln.
Das ist ein Strickmuster, wie es häufig anzutreffen ist, z. B. bei den Gender/Trans-Aktivisten - wenn auf sachliche Einwände keine Antwort gefunden werden kann.

Post #7 schaue ich mir noch an.
Titel: Re: MECFS ist keine erfundene Krankheit
Beitrag von: Peiresc am 06. Dezember 2023, 17:55:16
Zitat von: NeuroMD am 06. Dezember 2023, 09:51:59Das Fazit: ME/CFS ist eine definierte körperliche Erkrankung mit dem Leitsymptom PEM
https://nap.nationalacademies.org/read/19012/chapter/1 (https://nap.nationalacademies.org/read/19012/chapter/1)
Das ist kein Argument, sondern eine Deklaration. Gehen wir ein wenig ins Detail, was natürlich mühsam und zeitaufwändig ist. Ich halte mich deshalb an die Aussagen im Post.

Zitat von: NeuroMD am 06. Dezember 2023, 09:51:59Diskussionen über die wenig gelungene Namensgebung gibt es mehr als genug und tragen an dieser Stelle nicht zum Thema bei
Das finde ich gar nicht: sie tragen sehr wohl zum Thema bei. Ein bisschen erinnert mich das an die Unfehlbarkeit des Papstes. Wenn man sie Katholiken gegenüber erwähnt, dann wird sie verlegen heruntergespielt, aber verzichten, das wollen sie auch nicht.

Zitat von: NeuroMD am 06. Dezember 2023, 09:51:59und ja es gibt neben entsprechenden Obduktionsbefunden unspezifische Veränderungen im Liquor
Mit einem bloßen Zitat ist das hinreichend kommentiert. Unspezifische Veränderungen im Liquor gibt es auch z. B. bei Bandscheibendegeneration. Die hat jeder über 30.

Zitat von: NeuroMD am 06. Dezember 2023, 09:51:59Dazugehörige neurologische Symptome findet man, aber nicht einheitlich und nicht bei allen (vorallem bei schwer Betroffenen)
Entweder es handelt sich um eine greifbare neurologische Herdsymptomatik, dann muss die Diagnose verlassen werden, oder eben nicht. Ein Neurologe sollte, nein muss, in der Lage sein, das zu unterscheiden.

Zitat von: NeuroMD am 06. Dezember 2023, 09:51:59und ja einige meiner MECFS-Patienten müssen über Port oder PEG parenteral ernährt werden, das ist auch nichts neues.
Auch bei z. B. dissoziierten Bewegungsstörungen/Gangstörungen gibt es üble, invalidisierende Verläufe, aber niemand stellt die Psychogenese infrage. Die Gratifikation lässt mit der Zeit nach, und sie können die Tendenz haben sich auszuweiten. Und ja, ich bezweifle, dass ein bloßes ,,MECFS" eine allein hinreichende Ursache für eine Port-Ernährung sein kann. Gelegentlich sieht man Über- und Fehlbehandlungen, die ihrerseits den Verlauf langfristig verschlimmern, auch bei ursprünglich funktionellen Störungen. Sie schaffen sozusagen ihr Substrat. Der Klassiker ist der intubierte und beatmete Intensivpatient, dessen ,,Status" funktioneller Anfälle durchbrochen werden musste.

Zitat von: NeuroMD am 06. Dezember 2023, 09:51:59Was man regelhaft in Testbatterien findet sind Störungen in Kognition und Gedächtnisleistung.
Auf die gleiche Weise hat man früher versucht, die Organogenese von chronischen Konzentrationsproblemen usw. z. B. beim HWS-Schleudertrauma nachzuweisen. Es ist aber keine sichere Unterscheidung zwischen reaktiven und organischen Hirnleistungsdefiziten allein anhand von psychologischen Tests möglich. Sie können allenfalls Hinweise geben und sind nur im Rahmen der klinischen Gesamtsituation verwertbar. Wenn es dazu vergleichende Untersuchungen gibt (erbitte ggf. Literaturhinweis), gab es z. B. Kontrollgruppen mit depressiven oder somatoformen Störungen?

Zitat von: NeuroMD am 06. Dezember 2023, 09:51:59Wikipedia ist diesbezüglich problematisch (siehe zb. auch Artikel zum Ukrainekrieg usw.
Eine wegen ihrer Globalität unbrauchbare Parallele. OT: Was genau ist eigentlich problematisch an dem Artikel? Falls Du eine Antwort darauf parat hast, platziere sie bitte in einem unserer Ukraine-Fäden, z.B. hier.
https://forum.psiram.com/index.php?topic=17890.0
Titel: Re: MECFS ist keine erfundene Krankheit
Beitrag von: eLender am 06. Dezember 2023, 19:13:24
Zitat von: NeuroMD am 06. Dezember 2023, 09:51:59Wikipedia ist diesbezüglich problematisch (siehe zb. auch Artikel zum Ukrainekrieg usw., dass dort nicht Fakten am durchsetzungsstärksten sind sondern die aktivste Community. Wikipedia bei einem derart politisierten Thema als Quelle heranzuziehen sollte man sich gut überlegen.
Ich könnte das jetzt genauer analysieren und zerlegen (da steckt viel von einer besonderen Denke hinter, die wir von anderen Diskussionen kennen). WP ist nun mal die wahrscheinlich erste Anlaufstelle, wenn sich jemand zu dem Thema informieren möchte. Und es gibt dort Grundsätze, die man auch einfordern kann. Das wird in der Tat nicht immer so genau beachtet, wenn es weniger strittige Themen sind. Aber das ist da nicht der Fall, man muss schon genau belegen, wenn man eine Aussage da drinnen haben will. WP ist auch keine (primäre) Quelle, man verweist auf Quellen bzw. Belege. Man sollte sich auch immer die Diskussionsseite ansehen, da wird meist geklärt, warum sich bspw. eine bestimmte Position nicht durchsetzt (es geht meist darum, dass manche überhaupt keine kritischen Stimmen / Positionen im Artikel haben wollen). Wie schon gesagt, wenn es so gute und valide Belege gibt, dass das ein eigenes, abgrenzbares Krankheitsbild ist, dann kann man das ja eindeutig belegen (natürlich nur mit zulässigen Belegen, etwa von Fachbehörden oder Fachgesellschaften). Wenn es bei Themen aber keine Mehrheitsmeinung über die Validität von Positionen gibt, dann muss man das eben als (mindestens) umstritten bezeichnen.

Zitat von: NeuroMD am 06. Dezember 2023, 10:16:18Etwas ist umstritten, weil eine wissenschaftliche Fragestellung politisiert und umstritten wird von den analogen Personenkreisen, nicht von den Leuten, die diese Personen behandeln.
So ein "Argument" hat auch einen eigenen Namen: Galileo-Gambit. Man kann auch andere Beispiel anführen, die genau das Gegenteil belegen würden. Daher ist es ein Scheinargument, das man ebenfalls aus bestimmten Diskussionen kennt. Sie sind Legion.
Titel: Re: MECFS ist keine erfundene Krankheit
Beitrag von: Peiresc am 06. Dezember 2023, 19:39:33
Ich habe mal nachgesehen, ob SBM was zum Thema hat. Ein bisschen (richtig tief eingetaucht sind sie nicht). Sie bezweifeln selbstverständlich nicht die Existenz von Patienten, die in das Schema passen, und auch nicht explizit die Existenz einer Krankheitsentität, die sich mit SEID beschreiben lässt. Aber sie sind zurückhaltend, was die Natur der Erkrankung angeht, und sehen gewisse Gefahren:

ZitatChronic Fatigue Syndrome/Systemic Exertion Intolerance Disease Speculcation
[...]
In the context of SBM, SEID is a gateway disease into the world of pseudo-medicine.
https://sciencebasedmedicine.org/chronic-fatigue-syndromesystemic-exertion-intolerance-disease-speculcation/

Mark Crislip hatte, nebenbei, die selbe Assoziation wie ich:
ZitatFor example, those with 'chronic Lyme disease' have the same phenotype as SEID patients [...] These patients have the misfortune of being sucked into the chronic Lyme vortex when they probably have SEID, whatever that is. And there are other pseudo-diseases that have been misidentified as the etiology of SEID.

Ansonsten gilt, wie immer: Defätismus, das Hobby des Skeptikers.
Titel: Re: MECFS ist keine erfundene Krankheit
Beitrag von: Peiresc am 06. Dezember 2023, 20:27:53
Ich habe noch eine grundsätzliche Bemerkung, was Definitionen und Kriterienlisten angeht. In der Praxis verwendet niemand solche diagnostischen Hilfsmittel, zumindest nicht wenn sie komplex sind. Allenfalls, wenn sie sich leicht memorieren lassen (z. B. beim Parkinson). Ich habe schon Stellungnahmen einer universitären Spezialambulanz für Post-Covid gesehen, die den einfachsten Regeln einer good clinical practice ins Gesicht geschlagen haben (exzessive Labordiagnostik, völlig vage Begründungen, aber nicht die simpelsten Fakten aus der Vorgeschichte des Patienten eruiert).

Die Geschichte der Fibromyalgie mag ein anderes Beispiel sein. Der Druck, ihre Kriterien zu operationalisieren, wurde deutlich gespürt. Schließlich schlug Frederick Wolfe (American College of Rheumatology) 1990 eine Kriterienliste vor, die die berühmte Tender-Point-Definition enthielt:
ZitatNachweis einer erhöhten Druckschmerzhaftigkeit mit sichtbarer Schmerzreaktion bei digitaler Palpation mit einem Druck von ca. 4kp/cm2 an mindestens 11 von 18 sogenannten "Tender Points" (typische Schmerzpunkte), welche an Kopf, Hals, an den Armen und Knien, am Gesäß und an den Oberschenkeln lokalisiert sind
Genauer geht's nicht, sollte man meinen ... aber den Praktiker befällt sogleich eine gewisse Skepsis, was ihre Trennschärfe und Aussagekraft angeht. Von dieser wurde schließlich auch Wolfe angesteckt, und 2003 erklärte er selbst seine Krankheitsdefinition für unbrauchbar. Natürlich, die Patienten gab es weiterhin, und die Tenderpoints wurden für fakultativ erklärt, die Krankheitsdefinition von aller operationalen Kontaminierung gereinigt und die Entität in ,,Chronic Widespread Pain" umbenannt. Diese Diagnose war dann genauso spezifisch, wie sie klingt, und sie hat sich nicht durchgesetzt.

Meine vorläufige Vermutung ist: Letztlich entzieht sich ein gewisser Anteil menschlichen Leides der Klassifizierbarkeit. In der Genese begegnen sich nature and nurture in einem kaum entwirrbaren Geflecht. Die Etiketten, die man ihm aufpappt, sind zeitbedingt und wandelbar, und sie können immer nur einen Ausschnitt der Realität erfassen.
Titel: Re: MECFS ist keine erfundene Krankheit
Beitrag von: zimtspinne am 07. Dezember 2023, 10:04:57
Was sind denn dissoziierte Bewegungs- und Gangstörungen?
Sowas wie Korsakow-S.?

Wer weiß, was die chronische Vergiftung des Organismus mit Alkohol noch alles für Folgen hat, die nachher nicht eindeutig in Klassifizierungen passen. Womöglich passt die chronische Alkoholvergiftung sogar unter den Trauma-Hut. Und unter alle möglichen anderen Hüte.



Titel: Re: MECFS ist keine erfundene Krankheit
Beitrag von: Peiresc am 07. Dezember 2023, 10:33:11
Zitat von: zimtspinne am 07. Dezember 2023, 10:04:57Was sind denn dissoziierte Bewegungs- und Gangstörungen?
Sowas wie Korsakow-S.?

Nein.
https://www.icd-code.de/icd/code/F44.-.html
Titel: Re: MECFS ist keine erfundene Krankheit
Beitrag von: Peiresc am 08. Dezember 2023, 10:54:17
Noch mal ein Nachspülen.
Zitat von: NeuroMD am 05. Dezember 2023, 14:46:20Der Verweis auf fehlende Biomarker des BMG erscheint mir ein wenig realitätsfern. Wenn ich an meine letzte Arbeitswoche denke, da hatten ca. 75% der Patienten Erkrankungen ohne Biomarker oder radiologischen Nachweis (Parkinson, verschiedene Formen von Kopfschmerzen wie Clusterkopfschmerz, Spannungskopfschmerz usw., Depression, verschiedene Formen neuropathischer Schmerzen, einige Formen von Demenz...).
Damit scheint mir der 340 Seiten starke IQWIG-Bericht doch ein wenig unter-evaluiert, der jedem ernsthaft Interessierten zur Lektüre zu empfehlen ist. Von den genannten 6 Krankheiten haben übrigens 3 Biomarker.

Nehmen wir mal ein Beispiel:
Zitat von: NeuroMD am 05. Dezember 2023, 14:46:20Die Diagnosekriterien habe ich oben genannt, entscheidend in der Abgrenzung zu beispielsweise Fibromyalgie oder Tumorfatigue ist das Kernsymptom PEM (auf deutsch "Verschlechterung nach Belastung"), dass ich bei keiner anderen Erkrankung messen kann.

In dem IQWIG-Bericht heißt es:
ZitatAllerdings ist PEM nicht spezifisch für ME/CFS und wird auch bei anderen Erkrankungen (wie der Tumorassoziierten Fatigue) beschrieben [7].
[7] ist: Twomey R, Yeung ST, Wrightson JG et al. Post-exertional Malaise in People With Chronic Cancer-Related Fatigue. J Pain Symptom Manage 2020; 60(2): 407-416.
https://dx.doi.org/10.1016/j.jpainsymman.2020.02.012.
Hier der Volltext:
https://www.jpsmjournal.com/article/S0885-3924(20)30098-1/fulltext

Sie schreiben, in der Einleitung:
ZitatDespite the inclusion of PEM lasting several hours in the proposed ICD-10 criteria for CRF [cancer-related fatigue],6 to our knowledge, this is the first attempt to measure PEM in people with chronic CRF.
Die Studie ist aus 2020. Den Terminus ,,PEM" gibt es seit 1991, und seit 2003 taucht er in den Diagnosekriterien der "MECFS" auf (WP, hier (https://en.wikipedia.org/wiki/Post-exertional_malaise)).

Und im Ergebnisteil schreiben Twomey et al:
ZitatOf 17 participants, 13 reported a worsening of fatigue after the exercise test.

Mit anderen Worten: die Spezifität des Symptoms ,,PEM" für das ,,MECFS" ist ein bloßes Postulat, und erste Evidenz spricht gegen die Validität dieser Annahme.
Titel: Re: MECFS ist keine erfundene Krankheit
Beitrag von: zimtspinne am 08. Dezember 2023, 17:02:41
Zitat von: Peiresc am 07. Dezember 2023, 10:33:11
Zitat von: zimtspinne am 07. Dezember 2023, 10:04:57Was sind denn dissoziierte Bewegungs- und Gangstörungen?
Sowas wie Korsakow-S.?

Nein.
https://www.icd-code.de/icd/code/F44.-.html

Dissoziative Störungen kenne ich (grundsätzlich natürlich nur, bin weder betroffen noch Neurologe)
Ich habe nicht verstanden, was von dem verzerrte Realitätswahrnehmung und was Realität ist.
Wenn sie behaupten, nicht mehr zu hören, ist das ja wohl nicht real. Wenn sie Krampfanfälle haben, aber schon.


im ICD-Code steht
ZitatLähmungen und Gefühlsstörungen

sind damit körperliche Lähmungen gemeint? Sind sie gelähmt, während sie dissoziieren? Oder denken sie, sie seien gelähmt?
Was passiert, wenn man ihnen spontan einen Ball zuwirft? Wird dann die Lähmung aufgehoben?
Welche Lähmung auch immer, die gedankliche oder die 'echte' (da denke ich jetzt an Schlafparalyse oder Schrecklähmung zB)


Titel: Re: MECFS ist keine erfundene Krankheit
Beitrag von: Peiresc am 08. Dezember 2023, 18:57:00
Zitat von: zimtspinne am 08. Dezember 2023, 17:02:41Ich habe nicht verstanden, was von dem verzerrte Realitätswahrnehmung und was Realität ist.
Wenn Du es ausführlicher brauchst:
https://hirnstiftung.org/alle-erkrankungen/funktionelle-paresen-und-gefuehlsstoerungen/

Das erinnert mich. Als Kind hatte ich mal ein Aufklärungsbuch. Da war zu lesen, wie es die Bienchen machen und wie das bei den Fischen geht. Nur wie beim Menschen der männliche Same nun zur weiblichen Eizelle kommt, das stand da irgendwie nicht drin. Also habe ich meinen Vater gefragt. Er antwortete in einem Satz, den ich nicht verstanden habe, aber er war nicht bereit, ihn zu erklären.
 ;)

Erwarte keine klaren Antworten. Deine Unsicherheit ist nicht zufällig, sondern Ausdruck der Unsicherheit in der Medizin. Welcher Begriff auch immer für diese Gruppe von Störungen gewählt wird: wenn er sich dereinst durchgesetzt haben wird, dann wird er als diskriminierend empfunden werden und abgelöst werden müssen:

Rainer Tölle, eine der Größen der deutschen Psychiatrie (gest. 2014), schreibt 1985:
ZitatMan sage nicht, der Patient verstehe das falsch. Wenn er sich durch die unvermittelte Konfrontation mit der Diagnose ,,psychogen" diskriminiert fühlt, versteht oder ahnt er die Denkweise des Arztes, der solches Kranksein nicht für echt hält und entlarven will. Psychogen klingt heute ähnlich abschätzig wie früher hysterisch oder psychopathisch.
Einen Kranken so anzusprechen, ist auch untherapeutisch. Oft spiegeln funktionelle Beschwerden oder Symptome ein schmerzliches Erleben wider. Solche Umsetzungen vom Seelischen ins Körperliche (Konversionsreaktionen) geschehen unbewußt. Daher ist der Patient überzeugt, körperlich krank zu sein. Wenn ihn nun der Arzt mit ,,Psychogenese" konfrontiert kann der Patient diese Deutung nicht akzeptieren. Er muß sie ablehnen und abwehren. Eine Folge ist, daß er sich noch mehr auf sein Symptom fixiert. [...]

Usw. usw. Für meine Begriffe: alles Einfühlungsvermögen führt letztlich nicht an der Notwendigkeit einer dosierten Konfrontation vorbei. Und, nebenbei, zur echten Simulation gibt es kein sicheres Unterscheidungsmerkmal in der körperlichen Untersuchung. Wie schon mehrfach erwähnt, ins Herz des Menschen zu schauen ist Gott allein vorbehalten.
 8)
Titel: Re: MECFS ist keine erfundene Krankheit
Beitrag von: eLender am 08. Dezember 2023, 23:11:34
Zu den Dissoziationen hatte ich neulich mal einen kritischen Artikel aus dem Ärzteblatt gelesen (von einem Prof. der Psychiatrie). Dabei fiel auch der Begriff "iatrogen", den ich erst mal gurgeln mußte. Ich frage mich auch beim CFS, was man mit so einer Diagnose macht. Ist sie wirklich hilfreich oder schafft man sich damit nur neue Probleme (so patientenseitig). Die therapeutischen Mittel scheinen sich auf Symptombehandlung zu konzentrieren, was ggf. daran liegt, dass man keine "Ursache" kennt*. Das scheint mir zumind. so, bin ja kein Medi. Erinnert mich auch ein wenig an Long Covid und solches Zeugs wie Blutwäsche, die ja helfen soll (Hirschhausen läßt grüßen). Hilft nix, schad nix ist da auch nur eingeschränkt gültig, es kostet ja ordentlich (private) Kohle.

(und danke an Peire, das ist ein ziemlich klarer Hinweis darauf, dass die Einleitung im Artikel nicht notwendigerweise geändert werden muss  :grins2: )

*eine Therapie, die ich da wahrgenommen habe, ist die Psychotherapie. Aber das würde ja in Frage stellen, dass das eine eigene Krankheit mit körperlicher Ursache ist, oda?
Titel: Re: MECFS ist keine erfundene Krankheit
Beitrag von: eLender am 10. Dezember 2023, 22:54:44
In der FAZ wird breit eine Anekdote Geschichte einer Mutter zum Thema abgedruckt. In der Einleitung wird schon mal klar gemacht, dass es die Krankheit gibt und die Mutter nur gegen ignorante und unwissende Fachleute kämpft, die ihr nicht helfen wollen. Sie ist dabei so sehr davon überzeugt, zu wissen, worum es sich handelt, dass sie zu den Ärzten ohne den Patienten (ihren Sohn) geht (der kommt ja nicht aus den Federn) und nur die Diagnose bestätigt bekommen will. Nebenbei hat sie auch schon Vorstellungen zur Therapie. Da helfe nur die Blutwäsche, so wie bei Long Covid (Hirschhausen weiß mehr). Schließlich sei ja auch das CFS nur eine Folge einer Infektion.

ZitatME/CFS-Patienten sind von sehr vielen Symptomen betroffen, was unter anderem dazu beiträgt, dass sich Ärzte mit der Diagnose schwertun. Bislang existiert zudem kein Biomarker, der die Krankheit zum Beispiel im Blut nachweisen kann. Das Kardinalsymptom von ME/CFS ist die Belastungsintoleranz: Jegliche körperliche oder geistige Anstrengung verschlechtert den Zustand. Den schwerstbetroffenen Patienten – die Krankheit tritt in unterschiedlichen Ausprägungsgraden auf – geht es häufig innerhalb von relativer kurzer Zeit so schlecht, dass sie nur noch im Bett liegen können, geschützt vor Licht und Geräuschen, auf die sie extrem empfindlich reagieren. Sie sind chronisch erschöpft und haben starke Schmerzen, oft am ganzen Körper.
https://www.faz.net/aktuell/gesellschaft/gesundheit/chronisches-fatigue-syndrom-bei-jugendlichen-20-stunden-schlaf-jeden-tag-19343877.html

ZitatWährend wir nach einer Diagnose suchen, gibt uns ein Assistenzarzt der Gastroenterologie den Tipp, uns an eine weitere Institution zu wenden, die eine kleine Anlaufstelle für Kinder mit Post Covid hat. Ich fange an zu lesen und begreife schnell: Nein, bitte, es darf nicht ME/CFS sein. Ich lese alles, was es darüber gibt, und ich weiß dann: Das ist es, das hat er.

Aber wir brauchen das schwarz auf weiß, also müssen wir in diese Anlaufstelle.

Der affirmative Ansatz wird die Medizin revolutionieren. Man wird für die Diagnosestellung keine Mediziner mehr brauchen. Die Therapie kann dann auch der Patient selbst machen. Gut, die Krankenkassen wird man erst mal nicht ersetzen.
Titel: Re: MECFS ist keine erfundene Krankheit
Beitrag von: Peiresc am 10. Dezember 2023, 23:42:49
Zitat von: eLender am 10. Dezember 2023, 22:54:44Jegliche körperliche oder geistige Anstrengung verschlechtert den Zustand.

Und je länger ich darüber sinniere, um so unklarer wird mir das. Alle Analogien versagen.

Wenn ich als Untrainierter einen 10000-m-Lauf mache, bin ich hinterher für eine Woche krank, deutlich länger als jemand, der das geübt hat. Bei jeder sonstigen Art von Krankheit - und Gesundheit - ist ein angepasstes Training sinnvoll, andernfalls müsste man Physiotherapie abschaffen. Es gibt eine Menge Untersuchungen (oder zumindest plausible physiologische Vorstellungen dazu), warum das so ist. Das gilt für das neuromuskuläre System (Rekrutierung) genauso wie für das zentralnervöse (Plastizität), sofern man nur gewisse Grenzen einhält. Bestenfalls ist es nutzlos, wenn nicht mehr genügend Potential für eine Verbesserung zur Verfügung steht, oder es gibt keinen ausreichenden Transfer von der Übungssituation in die Aktivitäten des täglichen Lebens (wenn ich jeden Tag lange Kreuzworträtsel mache, kann ich hinterher besser Kreuzworträtsel machen).

Was die empirischen Studien dazu angeht, die überblicke ich nicht. Es wäre aber dringend zu fragen, ob die wirklich ein dosiertes, ansteigendes Training untersucht haben (können) - denn heutzutage dürfte das schon auf erheblichen Widerstand der Kranken stoßen. Wie will man sie dazu motivieren, wo sie doch von vornherein wissen, dass es ihnen schlechter gehen wird? Schlechteres Befinden nach einmaligem Training im Vergleich zu Gesunden kann nicht als der Vollbeweis für die Existenz dieser Belastungsintoleranz akzeptiert werden, zumal sie sich offenbar auf jede Art von Belastung bezieht. Es sollte doch einigermaßen schwer fallen, dafür pathophysiologische Gemeinsamkeiten zu postulieren.
Titel: Re: MECFS ist keine erfundene Krankheit
Beitrag von: Peiresc am 14. Dezember 2023, 09:06:28
Ich habe noch eine Literaturangabe von 2023
https://www.springermedizin.de/post-covid/fatigue/myalgische-enzephalomyelitis-chronisches-fatigue-syndrom-eine-ue/23952976
ZitatIn einer interessanten Mediatoranalyse stellten sich angstvermeidende Überzeugungen als mediierender Faktor für das Ansprechen der Patient:innen auf GET und CBT heraus. Vereinfacht ausgedrückt, sprachen jene Patient:innen auf die Therapie (insbesondere GET) an, wenn sie ihre angstvermeidenden Überzeugungen bezüglich körperlicher Aktivierung ändern konnten [18].

Dazu ein Leserbrief, der heftig widerspricht:
https://link.springer.com/article/10.1007/s00115-023-01515-2
ZitatDie Übersicht zur aktuellen Evidenz ignoriert die aktuelle Evidenz
[...]
2.
Laut RKI ist ME/CFS insbesondere durch das Kernmerkmal der ,,post exertional malaise" (PEM) charakterisiert, einer ausgeprägten Verschlechterung der vorbestehenden Symptome bereits nach leichter körperlicher oder geistiger Belastung [2]. Laut dem National Insitute for Health and Care Excellence (NICE) führt ,,graded exercise therapy" (GET) zu einer Verschlimmerung und ist daher kontraindiziert.
[...]
Der Leserbrief hat 16 Unterzeichner, rank and file der MECFS-Experten. Federführend ist Leonard Jason, den wir in diesem Faden schon etwas ausführlicher hatten.

Aber wie gesichert ist das mit dem ,,PEM" und mit dem ,,GET"? Uns interessiert also die Evidenz,
https://www.nice.org.uk/guidance/ng206/evidence

Der NICE-Bericht hat mehrere tausend Seiten. Da fällt mir gleich meine Kaufmann-Anekdote wieder ein (#179 (https://forum.psiram.com/index.php?topic=18172.msg270169#msg270169)). Insgesamt werden 55 empirische Studien zu GET aufgelistet. Auffälligerweise werden die eigentlichen Studienergebnisse gar nicht referiert, sondern ausschließlich die Methodik. Die Studienqualität ist in allen Fällen ,,very low" oder ,,low". Auf den ersten Blick nicht ganz unverständlich, denn Doppelblinduntersuchungen sind bei nichtpharmakologischen Interventionen schwierig bis unmöglich. Aber leisten wir uns einen zweiten Blick.

Das NICE-Ergebnis legt zwei Schlüsse nahe,
A)    Sämtliche Forscher sind Idioten oder
B)    Die Qualitätsanforderungen, die das NICE hat, sind nicht erfüllbar.
Lässt sich damit die Aussage ,,führt zu Verschlimmerung, also kontraindiziert" als gesichert belegen? Nein. Gesichert wäre einzig die Aussage ,,wir wissen es nicht". Bei ähnlicher Datenlage hätte bei jeder glaubensmedizinischen Methode (Akupunktur, Yoga etc.) die Schlussfolgerung gelautet: ,,kann versucht werden".

Das mit der Verschlimmerung stützt sich offenbar allein auf die Meinung der Betroffenen,
ZitatThe use of CBT and GET has been strongly criticised by people with ME/CFS on the grounds that their use is based on a flawed model of causation involving abnormal beliefs and behaviours, and deconditioning. Some people with ME/CFS have reported worsening of symptoms with GET and no benefit from CBT
von der wir nicht wissen, wie repräsentativ sie ist und ob sie ein objektivierbares Korrelat hat. Ein Problem steckt schon in dem Begriff ,,Anstrengung", der unbehebbar subjektiv ist. Es fehlt mir z. B. an Vorstellungskraft, welche Art von überdauernden körperlichen Folgen eine rein geistige Anstrengung haben kann, und was genau das überhaupt ist, eine geistige Anstrengung. Was den einen nervt, kann dem andern Spaß machen. Entscheidend dafür, ob und ab wann eine Tätigkeit ,,anstrengend" ist, ist der Affekt, mit dem man sie erledigt.

Wir hatten vorne, dass schon Zähneputzen zu wochenlanger Bettruhe und der Notwendigkeit parenteraler Ernährung führen kann. Aber die Logik zwingt einen dazu anzunehmen, dass das nicht fakultativ ist, sondern obligatorisch, denn es handelt sich bei der ,,Verschlechterung schon durch leichte Anstrengung" um einen Circulus vitiosus, der unausweichlich zu Siechtum und Tod führt, und jeder Betroffene muss im Krankheitsverlauf an diesem Punkt vorbei kommen.

Irgendwas stimmt da nicht.

Und noch ein Leserbrief:
ZitatFragwürdiges Akronym

Nun ist das fünfbuchstabige Akronym, das ich hier nicht wiederholen will, auch an prominenter Stelle im Der Nervenarzt zu lesen. Leider ist es irreführend daher, weil es Konzepte koppelt, die nicht zusammengehören. Die Bestandteile weisen nicht nur eine unterschiedliche Historie auf, sondern sind auch nomenklatorisch disparat. Myalgische Enzephalomyelitis ist ein ätiopathogenetisch und neuroanatomisch definierter Begriff [...] Ein eindeutiger Erregernachweis gelang aber nie und Belege (Liquorbefund, Bildgebung) für eine tatsächliche Entzündung des Zentralnervensystems fehlten fast völlig, sodass bereits damals der eigentliche Wortsinn der Bezeichnung weitgehend verfehlt wurde. [...]
Leider hat dieses Mixtum compositum bereits in eine Leitlinie (AWMF 053-002) und die ICD-10-Klassifikation (G 93.3) Eingang gefunden. Solange es aber keine faktischen Belege für eine nachweisliche Enzephalomyelitis gibt, tun Wissenschaft, medizinische Praxis und Publikationsorgane sicherlich gut daran, die Begriffe separat und nicht pauschalierend, unterschiedslos oder in fixer Kombination zu verwenden.
https://www.springermedizin.de/myalgie/myalgie/fragwuerdiges-akronym/25454966

Das NICE meint übrigens diese Klippe elegant umschifft zu haben. Sie sprechen von
ZitatMyalgic encephalomyelitis (or encephalopathy)
Eine ,,Enzephalopathie" ist nicht näher definiert, sie bedeutet einfach ,,Hirnkrankheit". Tradition ist aber in der Medizin noch nie ein ausreichender Grund gewesen, eine Terminologie ehrfürchtig beizubehalten. Es wäre eine Untersuchung wert herauszufinden, was sie daran gehindert hat, die Enzephalitis ersatzlos zu streichen. Jesuitischer Scharfsinn? Hümmlersche Unparteilichkeit?
Titel: Re: MECFS ist keine erfundene Krankheit
Beitrag von: zimtspinne am 14. Dezember 2023, 11:13:59
Zitat von: Peiresc am 14. Dezember 2023, 09:06:28ir hatten vorne, dass schon Zähneputzen zu wochenlanger Bettruhe und der Notwendigkeit parenteraler Ernährung führen kann. Aber die Logik zwingt einen dazu anzunehmen, dass das nicht fakultativ ist, sondern obligatorisch, denn es handelt sich bei der ,,Verschlechterung schon durch leichte Anstrengung" um einen Circulus vitiosus, der unausweichlich zu Siechtum und Tod führt, und jeder Betroffene muss im Krankheitsverlauf an diesem Punkt vorbei kommen.
Wie genau wird denn diese Verschlimmerung gemessen, überprüft, quantifiziert, objektiviert?
Gibt es dort eine Fühl-Skala, ähnlich der Schmerzskala?
Vor Zähneputzen 8, nach Zähneputzen 10?

ZitatLaut RKI ist ME/CFS insbesondere durch das Kernmerkmal der ,,post exertional malaise" (PEM) charakterisiert, einer ausgeprägten Verschlechterung der vorbestehenden Symptome bereits nach leichter körperlicher oder geistiger Belastung [2]. Laut dem National Insitute for Health and Care Excellence (NICE) führt ,,graded exercise therapy" (GET) zu einer Verschlimmerung und ist daher kontraindiziert.

wenn man das konsequent zu Ende denkt: Jede auch nur leichte geistige und körperliche Belastung führt zu einer Verschlechterung und ist daher zu unterlassen, Patient wartet in völliger Untätigkeit und Belastungslosigkeit auf das Ende seiner Tage.

Ist das auch so ein affirmativer Ansatz?

Ansonsten wird ja bei jeder noch so auswegslosen Krankheit um jeden Funken Leben gerungen, selbst wenn sich dadurch der Zustand verschlechtern könnte (Krebspatient im Endstadium feiert nochmal Geburtstag, obwohl er weiß, dass er am nächsten Tag dafür bitter büßen wird und womöglich nie mehr auf den Vor-Geburtstags-Zustand zurückkommt.)

Das nennt sich auch Überlebenswillen.
Der scheint hier zu fehlen.

"Ich kann nicht" sieht aus wie: "Ich will nicht", aber es ist: "Ich kann nicht wollen".
(steht in einem meiner Bücher über Depressionen)

Titel: Re: MECFS ist keine erfundene Krankheit
Beitrag von: Peiresc am 14. Dezember 2023, 12:18:23
Zitat von: zimtspinne am 14. Dezember 2023, 11:13:59Wie genau wird denn diese Verschlimmerung gemessen, überprüft, quantifiziert, objektiviert?
Gibt es dort eine Fühl-Skala, ähnlich der Schmerzskala?
Vor Zähneputzen 8, nach Zähneputzen 10?
Genau.

Zitat von: NeuroMD am 05. Dezember 2023, 14:46:20Paper dazu zb:
https://www.mdpi.com/1648-9144/59/3/571 (https://www.mdpi.com/1648-9144/59/3/571)
Darin:
medicina-59-00571-g001[1].png
Titel: Re: MECFS ist keine erfundene Krankheit
Beitrag von: zimtspinne am 14. Dezember 2023, 12:54:42
Zitat von: Peiresc am 10. Dezember 2023, 23:42:49Wenn ich als Untrainierter einen 10000-m-Lauf mache, bin ich hinterher für eine Woche krank, deutlich länger als jemand, der das geübt hat.

Alles, was recht ist, aber ein trainierter Läufer ist nach 10000 m gar nicht krank, also auch nicht deutlich kürzer als ein Ungeübter. Der ist ja normalerweise auch nicht eine Woche krank, eher gibt er nach 1 km auf. Und hat eine Woche lang Muskelkater, aber das nimmt er als positives Zeichen.
Mach bitte nicht den Leuten Angst vor Sport (wie StrgF).  ;D 
Titel: Re: MECFS ist keine erfundene Krankheit
Beitrag von: Peiresc am 14. Dezember 2023, 13:33:50
Zitat von: zimtspinne am 14. Dezember 2023, 12:54:42das nimmt er als positives Zeichen.

Das ... ist nicht gewiss; es geht auch anders.
https://de.wikipedia.org/wiki/Katastrophisieren
Titel: Re: MECFS ist keine erfundene Krankheit
Beitrag von: zimtspinne am 14. Dezember 2023, 13:49:12
ok, muss das "nicht krank" jetzt doch korrigieren.
Gibt ja den Open Window Effekt (Phänomen) nach einem intensiven Training, was aber auch bisschen umstritten ist in den Details.
Das wäre dann 1. Immunsuppression (krankheitswertig auf jeden Fall!  8) ) 
Dazu 2. 'Fieber' (bis 40°C oder in Ausnahmefällen sogar darüber), bis zu 2 cm kleiner, bis 3 kg Gewichtsverlust  (Dehydration beides), 3. Nieren gefährdet, 4. erhöhter Cortisolspiegel für viele Stunden, 5. Entzündungswerte rauf, 6. kardialer Stress usw usf. 
Genaugenommen ist man nach einem Marathon wirklich 'krank', wenn in diesem Moment ein Arzt drübergucken würde und nichts vom Wettkampf wüsste.
Könnte man sogar schon krankheitliche Großbaustelle nennen. ;)

Titel: Re: MECFS ist keine erfundene Krankheit
Beitrag von: zimtspinne am 14. Dezember 2023, 15:44:21
Studie hab ich mir kurz angesehen (bin noch unterwegs) und komme damit nicht klar.
Wieso nur 24 h Stunden Regeneration zwischen zwei Belastungstests bei maximaler Anstrengung? Finde ich zu wenig für Untrainierte. Da sollten mal mindestens 48 h Erholungszeit einkalkuliert werden.

Leider wird ja nicht näher beschrieben, wie diese Tests aufgebaut sind - ich wundere mich allerdings, dass die Fatigue-Teilnehmer die überhaupt bewältigen konnten.
Normalerweise erleben die ja nach (hochgefährlichen) Aktivitäten wie Sport einen kompletten Zusammenbruch, totale Erschöpfung aller Energiereserven und dann geht gar nichts mehr. Sie sind erstmal bettlägerig quasi.
Und dann absolvieren diese selben Patienten alla Hopp zwei Belastungstests nacheinander bei höchstem Anstrengungsgrad (bezieht sich das nur auf die Belastungsintensität oder -dauer, -volumen, -dichte etc? da muss man ja auch alle Belastungsparameter kennen)? Und so eine kurze Regenerationszeit?

Verstehe ich alles gaar nicht. Sorry.

Möchte aber gerne wissen, ob man Leuten, die über Erschöpfungszustände klagen und eine Diagnose Fatigue ausgehandelt haben erhielten Sport empfehlen kann oder nicht. bzw ob man die besser heimschicken sollte, falls sie von sich aus erscheinen.

Wenn ich das paper lese, ist das eine ganz komplizierte und heikle Angelegenheit, wenn es auch nur um diese Belastungstests geht.
Am besten alles seinlassen und sich ins Bett packen.
Titel: Re: MECFS ist keine erfundene Krankheit
Beitrag von: zimtspinne am 20. Dezember 2023, 16:34:04
Hurra! Die Barmer gibt Bewegung und Sport als Empfehlung aus bei tumorbedingter Fatigue.

https://www.barmer.de/gesundheit-verstehen/koerper/krebs/fatigue-bei-krebs-1067262#Bewegung_und_Sport_bei_Fatigue-1067262

ZitatEine langanhaltende Fatigue muss nicht aussichtslos sein: Es gibt verschiedene Behandlungsmöglichkeiten, die die Symptome lindern können. Zu diesen gehören:

Behandlung körperlicher Ursachen
Aufklären und Verständnis schaffen
Psychoonkologische Betreuung
Bewegung und Sport
Rehabilitation nach Krebs

und das grad dort, wo man sich über Fatigue nicht weiter wundert und es auch so viele rational erscheinende Gründe und Ursachen dafür gibt.
Es hat sich offenbar was getan, seit ich mich zuletzt mal mit dem Thema beschäftigt hatte.
(hab mich noch nicht getraut, das anzuklicken. Aus Angst, dass dort doch noch was beklopptes erscheint, Katzenyoga oder so)
Titel: Re: MECFS ist keine erfundene Krankheit
Beitrag von: zimtspinne am 20. Dezember 2023, 17:05:42
Bei den Biomarkern hingegen geht nichts voran.

ZitatConclusions All potential ME/CFS biomarkers difered in efciency, quality, and translatability as a diagnostic marker.
Reproducibility of fndings between the included publications were limited, however, several studies validated the
involvement of immune dysfunction in the pathology of ME/CFS and the use of lymphocytes as a model to inves‑
tigate the pathomechanism of illness. The heterogeneity shown across many of the included studies highlights the
need for multidisciplinary research and uniform protocols in ME/CFS biomarker research.

https://bmcmedicine.biomedcentral.com/counter/pdf/10.1186/s12916-023-02893-9.pdf

d.h. Freuds Hysteriekonzept kann noch nicht in den Schredder, obzwar es dahin gehört.

Titel: Re: MECFS ist keine erfundene Krankheit
Beitrag von: zimtspinne am 21. Dezember 2023, 10:59:57
Eigentlich ist ja n "Trial-and-Error" Wir-irren-uns-(nicht-immer)-empor nichts besonderes.

Das gescheiterte Rituximab-Experiment (https://www.doccheck.com/de/detail/articles/21516-chronic-fatigue-syndrom-aus-fuer-rituximab) finde ich aber interessant.

ZitatKleine Studien, große Erfolge
Es folgte eine Beobachtung von drei Patienten im Jahr 2009, bei der sich die CFS-Symptome durch die Gabe von Rituximab verbesserten. Im Jahr 2011 untersuchten Fluge und Mella 30 CFS-Patienten im Rahmen einer kleinen doppelblinden Phase-II-Studie. Verglichen wurden 15 CFS-Patienten, die Rituximab erhielten, die anderen 15 dienten als Placebogruppe. Zwei Drittel jener Patienten, die Rituximab erhielten, berichteten über eine Verbesserung ihres Zustands, verglichen mit niemandem aus der Placebogruppe. Zusätzlich führten sie eine offene Studie mit 29 Patienten durch, die aber unveröffentlicht blieb. Und auch in der darauf folgenden Studie im Jahr 2015 waren die Ergebnisse wieder positiv: Von 28 Patienten konnte bei 18 eine deutliche Verbesserung der typsichen Symptome erzielt werden.

So klein die Teilnehmerzahl der bisherigen Studien auch war, die Untersuchungsergebnisse stimmten die Forscher optimistisch. Sie führten eine klinische Phase-III-Studie mit 151 CFS-Patienten über einen Zeitraum von ca. drei Jahren durch. Die Ergebnisse wurden kürzlich veröffentlicht. Die Hälfte der Teilnehmer hatte ein Jahr lang in regelmäßigen Abständen Rituximab-Infusionen erhalten, der Rest bekam Placebo-Infusionen. Die Symptome der Patienten wurde in diesem Zeitraum und noch ein weiteres Jahr lang gemessen, da der Wirkstoff etwas Zeit braucht, um zu wirken.

Die Wahrheit tut manchmal weh
Die bisherigen Annahmen der Wissenschaftler konnten allerdings nicht bestätigt werden. Zwar berichteten 26 Prozent der Wirkstoffgruppe über nachlassende Müdigkeit. Doch dies taten sogar 35 Prozent der Placebogruppe ebenso.

herrlich!


Sowas (https://www.faz.net/aktuell/gesellschaft/gesundheit/chronisches-fatigue-syndrom-bei-jugendlichen-20-stunden-schlaf-jeden-tag-19343877.html) sollte unbedingt irgend eine Form von experimenteller Behandlung bekommen.... entweder jeden Tag mit Spinnen aus dem Bett scheuchen oder es mal mit Hypnose versuchen oder ein Arzneimittel geben. Ein Schlüssel zum Erfolg scheint ja zu sein, etwas zu tun.

Gar nichts tun geht gar nicht. Das ist nicht normal, dahinter muss eine seltsame Krankheit des Geistes stecken.

Vor einiger Zeit las ich etwas über die seltensten und schlimmsten Erkrankungen, die existieren.
Die allerübelste wurde genauso wie oben das Krankheitsbild des Patienten Jonas beschrieben.
Die Leute liegen nur noch im Bett, ertragen nicht mal mehr oder ganz schwer Anwesenheit anderer Menschen, ihre Pflege und Besuche von Angehörigen müssen immer intensiv vorbereitet werden. Besuche dürfen nur kurz ausfallen, Körperkontakt sollte vermieden werden. Danach brauchen die Patienten wieder lange, um sich davon zu erholen.
Abgeschottet liegen sie also bei Dunkelheit (oder wars Dämmerung?) nur im Bett. Ertragen weder Geräusche, noch irgendwas 'normales'.
Leider fand ich den Text niemals wieder und hatte mir den Namen der seltsamen seltenen Krankheit auch nicht gemerkt.

Titel: Re: MECFS ist keine erfundene Krankheit
Beitrag von: eLender am 21. Dezember 2023, 22:38:23
Zitat von: zimtspinne am 21. Dezember 2023, 10:59:57mit Spinnen aus dem Bett scheuchen
Ich bin mal nachts aufgewacht (im Halbschlaf, außer Haus) und meinte, einen dunklen Fleck neben mir auf der Matratze zu sehen. Dachte noch kurz, das wird ja jetzt wohl keine Spinne sein. Habe eh schlecht geschlafen, da ein Auge entzündet war. Habe dann mutig da hin gegriffen, um das zu verifizieren. Da schießt das Ding auf mich zu, unter die Bettdecke. Ich war noch nie so schnell aus dem Bett gehüpft wie da. War hellwach, das Herz auf 180 und das Auge pochte böse. Ich gebe zu, dass ich bzgl. Spinnen eine leicht phobische Veranlagung habe :schreck Ansonsten bin ich aber voll mutig, ischwör ::)

Hat jetzt wenig mit dem Thema zu tun, aber ich musste das mal rauslassen. Ich fühle mich jetzt auch besser :angel:

Aber zum Thema: wenn das so offensichtlich eine Autoimmunerkrankung sein soll, warum findet man keine Biomarker? Kenne mich da zu wenig aus, aber das müsste man doch an irgendeinem Parameter erkennen können (Entzündungen..?). Und ggf. sollte man doch eine Veränderung eines (Blut-)Wertes nach Belastung finden können, der nur bei diesem Syndrom auftritt. Ich weiß, so etwas hat man bisher nicht gefunden (so wie bei Long Covid, soweit mir bekannt). Bei beiden Syndromen heißt es immer, das wären die Spätfolgen irgend einer Infektion oder Entzündung.

Wenn man so eine Diagnose erhält, ist man doch auch meist nicht mehr voll erwerbsfähig (höchstens als Matratzentester einsetzbar). Sind solche Diagnosen von den sozialen Trägern (Krankenkassen, Arbeits-, Sozialamt) akzeptiert und wird eine Arbeitsunfähigkeit zugestanden? Irgendwo war zu lesen, man würde da stets auf eine Reha pochen. Da die Krankheiten aber als nicht heilbar gelten (obwohl es in der obigen Studie einen beträchtlichen Teil der Patienten gab, die im Verlauf symptomfrei wurden, ohne Medikament), wird man doch selbst nach einer Reha nicht weiter arbeiten können.

Ich will nicht bezweifeln, dass es das wirklich gibt (also die Symptomatik), aber das ist ja dann eine lebenslange Mühsal. Ohne Anerkennung durch die Träger ist man als erwachsener Mensch (den die Eltern nicht mehr pflegen können / wollen) doch ziemlich am Ende? Maierling?
Titel: Re: MECFS ist keine erfundene Krankheit
Beitrag von: eLender am 24. Dezember 2023, 22:09:05
Bei BR-Alpha ein längerer Artikel zum Thema. Kein Wort des Zweifels, nur eine lange Klagerede, dass man das endlich mit Milliardenbeträgen erforschen soll; schließlich ist das viel schlimmer als Krebs und Depressionen. Dazu noch eine recht häufige Krankheit, die aus den Menschen lebende Leichen macht.

ZitatWas ist, wenn die Grippe, der Infekt und das Fieber selbst nach Wochen und Monaten nicht mehr weggehen? Wenn alle Blutwerte scheinbar in Ordnung sind und kein Arzt einem sagen kann, warum man sich so krank fühlt? So ähnlich geht es in Deutschland rund 250.000 bis 300.000 Menschen, darunter etwa 40.000 Kinder und Jugendliche. Sie sind an ME/CFS erkrankt.
https://www.ardalpha.de/wissen/gesundheit/krankheiten/chronisches-erschoepfungssyndrom-me-cfs-myalgische-enzephalomyelitis-mecfs-covid-grippe-100.html

Scheinbar eine multifaktorielle Erkrankung mit vielen körperlichen Fehlsteuerungen, auch eine Immunerkrankung gilt als sicher. Aber leider ist das alles nicht messbar, nur der Belastungstest offenbart das alles.

ZitatME/CFS ist eine Multisystemerkrankung, dabei geraten das Immunsystem, das autonome Nervensystem, die Gefäße und der Energiestoffwechsel der Körperzellen durcheinander. Das hat viele Symptome zur Folge. Wichtigstes Phänomen bei der Diagnose: die belastungsabhängige Symptomverschlechterung, der Fachbegriff lautet post-exertional malaise (PEM). In der schlimmeren Form wird dafür auch der Begriff postexertionale neuroimmune Erschöpfung (PENE) verwendet.

ZitatWer nur leicht betroffen ist, bemerkt an guten Tagen kaum Einschränkungen. Viele ME/CFS-Patienten sind aber dauerhaft ans Haus gebunden, können nicht mehr arbeiten oder zur Schule gehen, sind sozial isoliert.
Sie verbringen ihre Tage im Liegen, in einer reizarmen Umgebung, zum Beispiel im Dunkeln. Einige Patienten sind von künstlicher Ernährung abhängig und auf Pflege angewiesen. ME/CFS gehört zu den Krankheiten mit der niedrigsten Lebensqualität überhaupt.
Wäre es nur ein schwere Depression, wäre es ja nicht so schlimm.