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Bücher, die man nicht gelesen haben muss

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Begonnen von Peiresc, 30. März 2023, 20:25:34

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Peiresc

Das Glück der Tiere. Einspruch gegen die Evolutionstheorie

Burkhardt Müller hat 1995 ein Buch über das Christentum veröffentlicht (Schlussstrich. Kritik des Christentums), das klug beobachtet ist. Dann hat er ein Buch geschrieben: "Das Glück der Tiere. Einspruch gegen die Evolutionstheorie". Örks, wie passt das zusammen, habe ich mich gefragt.

Ich habe die ersten 40 Seiten gelesen. Auf diesen 40 Seiten zitiert er keinen wissenschaftlichen Autor zur Sache und definiert nicht einmal ansatzweise irgendeinen der Begriffe, die er verwendet. Ein einziges Metapherngewaber. Ich habe keinen Gedanken erkannt, der sich irgendwie faktisch belegen oder auch nur in eine überprüfbare Hypothese transformieren ließe.
 
ZitatEs heißt gelegentlich, das Lebendige sei wild gewordene Materie. Aber das stimmt so nicht. Auch ein Tornado ist wild gewordene Materie und lebt doch nicht. Er gleicht dem Lebendigen wie das Plappern des Papageis der menschlichen Sprache: [...] (S. 30)

Tiefsinn lass' nach. Der nächste Absatz beginnt so:
 
ZitatJeder kann sehen, dass ein Tier nicht nur Materie ist, sondern beschleunigte Materie;
Man wird folgern, dass "beschleunigt" und "wild" keine Synonyma sind. Man könnte folgern, dass der Tornado wild aber nicht beschleunigt und das Tier beschleunigt aber nicht wild ist, was keinen rechten Sinn ergibt. Oder sollte man folgern, dass die tierische Materie wild und beschleunigt, die tornadische Materie hingegen allein wild ist? Aber ... gibt es nicht auch zahme Tiere? Verwirrung. Der Satz geht so weiter:
 
Zitatdass die Atome, die es an sich zieht, um sich daraus zu bauen, in ihm nur als Gäste oder Tagelöhner verweilen und es so unbeschadet wieder verlassen wie ein Kirschkern den Verdauungskanal.

Aber das unterscheidet den Tornado nicht vom Tier. Es stellt sich also heraus: "wild" und "beschleunigt" sind eben doch Synonyma - Müller war das aber offenbar zu gewöhnlich und zu wenig inspiriert, als dass er gleich damit herausgerückt wäre. Und so fehlt zum Tier-Sein noch das Glück, was in Bewusstsein und in Schönheit zum Ausdruck komme - oder bestehe, wer weiß - und das von der Evolutionstheorie nicht erklärt werden könne. (Genauso wie die Atheisten die Menschen zu Zombies machen, weil sie die Liebe nicht erklären können.)
 
ZitatAuch bin ich der Ansicht, dass Tiere in den Genuss ihrer Schönheit gelangen. Welchen Sinn könnte sie sonst haben? Gar keinen natürlich, schnaubt die Evolutionstheorie: Als wäre Schönheit nur die Außenbespannung der angepassten Organismen, zwar notwendig so zustande gekommen, wie sie sich heute präsentiert, und sie mag sogar, wo sie tarnt, warnt oder wirbt, eine gewisse Aufgabe haben — aber nicht, insofern sie schön ist; in dieser Hinsicht sei sie als völlig kontingent zu betrachten. Oder sollte man etwa glauben, sagt Darwin (und man spürt seinen Unmut in den Zeilen), dass die Schale des Nautilus vor Millionen von Jahren nur zustande gekommen wäre, um so viel später das Auge des Forschers zu erquicken? Schwerlich, das ist wahr. Und zwar nicht nur, weil es keinem Lebewesen zuzumuten ist, so lange zu warten, um so viel Undank zu ernten; und auch nicht nur, weil der Forscher evolutiv als ein Zu- und Zwischenfall eingestuft werden muss, der ebenso gut auch hätte unterbleiben können, während der Nautilus unangetastet durch die Äonen schwebt: sondern weil es nicht angehen kann, dass ein Tier von etwas, das ihm so wesentlich ist, ausgeschlossen sein soll. (S. 35)
Aus dem Sollen folgt ein Sein. Und deshalb muss der Nautilus etwas von seiner eigenen Schönheit bemerken - es kann gar nicht anders sein. Und wenn er kein Nervensystem hat, das dazu in der Lage wäre - sein Problem. Das wieder erinnert an das Problem des Tuberkelbacillus vor seiner Entdeckung durch Koch, wie es von Bruno Latour erkannt (und von Alan Sokal aufgespießt) worden ist. Nebenbei: auf Müllers Definition des Bewusstseins ist man nicht gespannt, wohl aber auf die der Schönheit. Hier ist sie:
 
ZitatAber Schönheit ist mehr als eine hübsche Hülle, wovon der, der drinsteckt, keine Ahnung hätte; mehr als das Etui des Angepassten. Schönheit ist kein Kleid, nicht einmal Architektur, auch mehr als nur Ausdruck. Sie ist eine von beiden Seiten zarte Membran, die den Kern zugleich umgrenzt und durchscheinend macht, jenen Kern, der sich aus der Besonderheit und der Vollkommenheit des Selbst mengt und in dieser Mengung das Selbst ist und sich empfindet. Seine Haut, die Oberfläche seines Leibs, ist dem Tier die Wendemarke, an der anschlagend es in sich selbst zurückkehrt; aber im Augenblick des Anschlags geht die Welle über und läuft in geradliniger Verlängerung fort ins Unendliche. (S. 35f)
Ah, ja. Die Behaarung der Vogelspinne macht ihren Kern durchscheinend, von außen wie von innen, und das macht ihre Schönheit aus. Gut, dass das mal gesagt wurde. Wir müssen also unsere zwischenzeitliche Meinung revidieren, nach der "Beschleunigung" dasselbe ist wie "Wildheit", und nach der beide Metaphern infantile Analogien in der Wesensschau der wunderbaren, evolutionsfreien tierischen Existenz sind. Die Wahrheit ist:

    Beschleunigung = Wildheit + Bewusstsein + Schönheit

Und deshalb kann die Evolutionstheorie nicht wahr sein.

---

In der FAZ [hier] hatte er eine beifallklatschende Rezension:
Zitat"Gegen eine solche Wissenschaft setzt Burkhard Müller eine Lehre der Vielfalt, des Erbarmens und der Bewunderung. "Es muß einen Genuß der endlichen erlangten Sättigung geben und des Sonnenscheins, wenn es lange kalt gewesen ist. Es muß ein Glück der Existenz als Individuum geben, vielleicht nur so wenig über die Wasserlinie des Daseins aufragend wie ein Eisberg: weil das Unglück sieben Mal tiefer darunter hinabreicht." Diesem beinahe verzweifelten Wunsch nach Güte und Schönheit verdankt der Essay seine Wucht und seine Präzision"
&c. Also, Leuten, die so was schreiben, "Präzision und Wucht" zu bescheinigen, das hat schon was. Aber Kreationist ist Müller wohl nicht, wenn er auch offenbar die gleichen Argumente verwendet. Ich will nicht wirklich wissen, wie er sich die Biogenese (wenn man nicht Evolution sagen darf) jenseits von natürlicher Zuchtwahl und von Teleologie vorstellt. Der Rezensent Thomas Steinfeld ist offenbar ein Geistesbruder. Weiter vorn schreibt er: "Aber noch immer, knapp hundertfünfzig Jahre nach Veröffentlichung der Evolutionstheorie, gibt es kein Experiment, das ihre Gültigkeit belegen, keine Formel, die sie beweisen könnte. Den Indizien zum Trotz: Der Darwinismus ist "Theorie" - im landläufigen, abwertenden Sinne des Wortes."
:schreck

Ein anderer Rezensent (Ralf Lilienthal in INFO3, Nov. 2000) bringt es auf einen anderen Punkt:
Zitat"Als dieses Buch zuerst gedacht wurde, muss ein unmerklicher Ruck durch die verknechtete Tierwelt, das eingekäfigte Bestiarium gegangen sein: Wirbelsäulen haben sich gestreckt, Köpfe wurden stolz in den Nacken geworfen, Brustgefieder erglänzte in nie gesehenem Farbenspiel, während alle Zellentüren der Festung »Evolutionstheorie« knirschend vom Rost eines langen Jahrhunderts aufsprangen. Was hier geschehen war und unaufhaltsam weiter geschehen muss, erinnert nicht nur von ferne an die Ereignisse im Sherwood Forrest. Hier wie dort beginnt das ungläubige Erwachen und der langsame Machtverlust eines herrischen und unlegitimen Statthalters, an einer tief im Wald versteckten Wegkreuzung, da der Aufrührer zum ersten Mal seine Kampfkunst beweisen muss."
Nobel-disease ohne Nobelpreis.

Was ich nicht herausgefunden habe, ist die Antwort auf meine Ausgangsfrage: wie passt das zusammen mit seiner Christentumskritik?

ZitatI never pretend to dive into the secrets of a man's heart

- Pierre Bayle.

Max P

ZitatAber Schönheit ist mehr als eine hübsche Hülle, wovon der, der drinsteckt, keine Ahnung hätte; mehr als das Etui des Angepassten. Schönheit ist kein Kleid, nicht einmal Architektur, auch mehr als nur Ausdruck. Sie ist eine von beiden Seiten zarte Membran, die den Kern zugleich umgrenzt und durchscheinend macht, jenen Kern, der sich aus der Besonderheit und der Vollkommenheit des Selbst mengt und in dieser Mengung das Selbst ist und sich empfindet. Seine Haut, die Oberfläche seines Leibs, ist dem Tier die Wendemarke, an der anschlagend es in sich selbst zurückkehrt; aber im Augenblick des Anschlags geht die Welle über und läuft in geradliniger Verlängerung fort ins Unendliche.



Peiresc

Und? Es können eben nicht alle wie ein Nautilus sein!

Schwuppdiwupp

@Peiresc: Ich bewundere aufrichtig deinen Hang zum Masochismus!
Ach, was weiß denn ich ...

Peiresc

Zitat von: Schwuppdiwupp am 30. März 2023, 21:35:34Hang zum Masochismus

Och, nich dafür. Das Ding hat 270 Seiten. Und es gibt Leute, die lesen Heidegger oder Hegel, um denen was am Zeug zu flicken, um von den kilometerlangen Wänden der theologischen Literatur nicht zu reden. Der Ozean des Wahnsinns hat keine Grenzen, da ist das hier wirklich nur ein Tümpel.
 8)

Max P

Zitat von: Peiresc am 30. März 2023, 21:21:21Und? Es können eben nicht alle wie ein Nautilus sein!
Eine zarte Membran haben sie aber.

Typee

Zitat von: Peiresc am 30. März 2023, 20:25:34&c. Also, Leuten, die so was schreiben, "Präzision und Wucht" zu bescheinigen, das hat schon was.

Stimmt doch. Nach anscheinend maximal 30 Seiten hat er sein Thema frontal gegen die Wand gefahren. Wenn das nicht präzise und wuchtig ist.
The universe is under NO obligation to make sense to us
(Neil deGrasse Tyson)

RPGNo1

Das Buch erschien im Jahr 2000. Das war doch die Zeit, als Intelligent Design seinen Höhepunkt erreichte und aus den USA nach Deutschland herüberschwappte. Es erschienen auch eine Reihe pro-ID-Bücher. Vielleicht ist Herr Müller auch auf den Zug Evolutionskritik aufgesprungen und hat versucht, Geld mit einem weiteren Buch herauszuschlagen. Die 5-Sterne-Rezensionen auf Amazon lassen jedenfalls vermuten, dass sich IDler angesprochen fühlten.

zimtspinne

Zitat von: Peiresc am 30. März 2023, 20:25:34
ZitatAber Schönheit ist mehr als eine hübsche Hülle, wovon der, der drinsteckt, keine Ahnung hätte; mehr als das Etui des Angepassten. Schönheit ist kein Kleid, nicht einmal Architektur, auch mehr als nur Ausdruck. Sie ist eine von beiden Seiten zarte Membran, die den Kern zugleich umgrenzt und durchscheinend macht, jenen Kern, der sich aus der Besonderheit und der Vollkommenheit des Selbst mengt und in dieser Mengung das Selbst ist und sich empfindet. Seine Haut, die Oberfläche seines Leibs, ist dem Tier die Wendemarke, an der anschlagend es in sich selbst zurückkehrt; aber im Augenblick des Anschlags geht die Welle über und läuft in geradliniger Verlängerung fort ins Unendliche. (S. 35f)

Zitat"Als dieses Buch zuerst gedacht wurde, muss ein unmerklicher Ruck durch die verknechtete Tierwelt, das eingekäfigte Bestiarium gegangen sein: Wirbelsäulen haben sich gestreckt, Köpfe wurden stolz in den Nacken geworfen, Brustgefieder erglänzte in nie gesehenem Farbenspiel, während alle Zellentüren der Festung »Evolutionstheorie« knirschend vom Rost eines langen Jahrhunderts aufsprangen. Was hier geschehen war und unaufhaltsam weiter geschehen muss, erinnert nicht nur von ferne an die Ereignisse im Sherwood Forrest. Hier wie dort beginnt das ungläubige Erwachen und der langsame Machtverlust eines herrischen und unlegitimen Statthalters, an einer tief im Wald versteckten Wegkreuzung, da der Aufrührer zum ersten Mal seine Kampfkunst beweisen muss."

Intelligent design hin oder her, ich finde diese Strecken an Wörtern einfach schon schön zu lesen.
Man darf halt nicht nach Logik oder einem tieferen Sinn suchen. Macht man bei Schönheit aber ja allgemein nicht, oder!?

Reality is transphobic.

zimtspinne

Zitat von: Peiresc am 30. März 2023, 20:25:34Beschleunigung = Wildheit + Bewusstsein + Schönheit

Und deshalb kann die Evolutionstheorie nicht wahr sein.

Das alles kann man auch irgendwie zusammenbringen, also intelligent design, Evolutionstheorie, Beschleunigung, Wildheit, Bewusstsein + Schönheit.

Dazu fällt mir eine ungezogene Savannah (F1) ein:
(ich hätte beim Designen noch die nackten Füße berücksichtigt und das Hundeviech, aber ansonsten gut gelungen)

https://www.youtube.com/watch?v=A753wFZmERo


@ Peiresc

du hast einen erlesenen Buch- oder Autorengeschmack, alles in allem, was ich bisher davon mitbekommen habe.
Ist das handverlesen oder kommst du zu solcher Lektüre eher zufällig?





Reality is transphobic.

Peiresc

Zitat von: zimtspinne am 31. März 2023, 15:00:15kommst du zu solcher Lektüre eher zufällig?

Ich suche sie nicht, sie sucht mich.  8)

HAL9000

Zitat von: zimtspinne am 31. März 2023, 14:50:35... ich finde diese Strecken an Wörtern einfach schon schön zu lesen....
Naja, frei assoziiertes Geblubbere, "schön" um der Schönheit Willen, Inhalt egal.
Wem's gefällt. Mich macht so etwas nur ärgerlich.

Typee

Irgendwie kamen mir Denke und Schreibe vertraut vor, jetzt fällt mir wieder ein woher: das ist Rudi-Steiner-Sprech. Denk dir etwas Schaum vorm Mund dazu, und da hast du ihn, oder genauer: seinen Wiedergänger.
The universe is under NO obligation to make sense to us
(Neil deGrasse Tyson)

Peiresc

Zitat von: zimtspinne am 31. März 2023, 14:50:35ich finde diese Strecken an Wörtern einfach schon schön zu lesen
Zur Sicherheit sollte ich noch erwähnen, weil ich es nicht verlinkt hatte: die zweite Rezension ist eine Parodie.  :grins2:

HAL9000

Zitat von: Peiresc am 31. März 2023, 21:21:36... die zweite Rezension ist eine Parodie.  :grins2:
Ah, danke! Das beruhigt mich wieder etwas.