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ADHS Deutschland: "Hüther heute - ein Journal"

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Begonnen von P.Stibbons, 29. September 2012, 09:30:21

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P.Stibbons

Eine gekonnte satirische Analyse des Hüther - Medienhype:

http://www.facebook.com/pages/ADHS-Deutschland/125963424135757

Hüther heute – ein Journal

(Kommentar zu einem Beitrag des heute-Journals vom 24.09.2012)

Haben Sie den wunderbar kommentierten Ausschnitt aus der ersten ,,Precht"-Sendung mit Prof. Hüther gesehen, den Harald Schmidt in seiner Show vom 05. 09.2012 präsentierte?
Darin sieht man Richard David Precht mit Gerald Hüther in eng umrissenem Lichtfeld an einer Tischplatte sitzen, atmosphärisch irgendwo zwischen Hinterzimmer-Pokertisch und OP-Liege im Feldlazarett. Beide Protagonisten des neuen philosophischen Duetts wirken aufeinander fokussiert wie weiland Bobby Fischer und Boris Spasski bei der Schachweltmeisterschaft in Reykjavík. Allerdings erwächst aus dem Dialog von Salon-Philosoph und ,,Krawall-Neurologe" (SPIEGEL Online) kein spannendes Duell, sondern eher ein ödes Ballzuwerfen.

In Teilen liegt es daran, dass die Helden des feuilletonistischen Diskurses keine Fragen, sondern nur Antworten kennen. Precht textet unter dem Deckmantel einer sich langsam Bahn brechenden Frage den stets nach Aufmerksamkeit gierenden Hüther minutenlang zu, ohne ihn zu Wort kommen zu lassen. Dann, als der in der Pädagogik dilettierende Neurobiologe zur Antwort ansetzt, macht Schmidt einen Schnitt und bedankt sich für Hüthers Ausführungen. Wer die ganze prechtige Sendung vom ersten Septembersonntag am Bildschirm verfolgte, mag nun bei sich denken: Besser so! Die Medienkritik war ja einhellig vernichtend sowohl für den Gastgeber als auch den Gast.

Prof. Hüther kann die alberne Pseudophilosophiestunde bei Precht ebenso verschmerzen wie den Spott von Harald Schmidt. Ganz gleich, mit welcher Einfalt er seine neurowissenschaftlich verbrämten Binsenweisheiten verkündet – es findet sich stets ein Fernsehredakteur von gleicher Schlichtheit, der die gefällige Reduktion der allzu komplexen Wirklichkeit als eingängige Halbwahrheit zu vermarkten gewillt ist. ,,Das mag daran liegen, dass der Göttinger Neurowissenschaftler es versteht, seine wissenschaftlichen Erkenntnisse derart allgemeinverständlich zu präsentieren, dass man nicht nur kein Studium braucht, um sie zu begreifen, sondern auch keines, um sie zu äußern."

Letzteres schrieb Sebastian Hammelehle unter dem Titel ,,Precht ab" auf der Internetseite des SPIEGEL. Hilft die späte Einsicht wenigstens eines einzigen Journalisten, künftig vermehrt zwischen schönen Worten und tieferem Sinn zu differenzieren? Offenbar nicht. Es hindert weder den SPIEGEL, Prof. Hüthers hanebüchenen Vergleich des Fortpflanzungstriebs der Lachse mit der postindustriellen Arbeitswelt des 21. Jahrhunderts zu publizieren, mit dem er zuletzt die Besucher des Heidelberger Burnout-Kongresses beglückte, noch das heute-Journal, in der Sendung vom 24.09.2012 die Reihe ideologischer Filmbeiträge des ZDF zur ADHS fortzusetzen, die uns das Staatsfernsehen in qualitativer Annäherung an die Reportage-Sendungen des Privatprogramms zunehmend aufnötigt.

Erinnern Sie sich noch an die Beiträge von Frontal21 im Dezember 2008 und Mai 2009, die in Dan-Brown-Manier krude Verschwörungstheorien mit pathetischem Off-Ton und lächerlichen Bildern verknüpften, dabei z.B. einen vorgeblichen Ex-Pharma-Manager in Mafia-Aussteiger-Pose mit offenem Hawaii-Hemd und Goldkettchen zeigten? Da fuhren die nachgespielten Ermittler mit ihren Ingolstädter Luxuskarossen das Firmenemblem auf dem Kühlergrill so prächtig ins Bild, dass der Zuschauer sich unwillkürlich fragte, ob die Frontal21-Redaktion nun geschlossen billig Audi fährt. Im Nachschlag vom Mai 2009 zeigte Frontal21 den ,,ehemaligen Praktikanten" eines Münchner Kinderheims, der dramatisch schilderte, dass Kinder, nachdem sie ADHS-Medikamente eingenommen hätten, ,,Koliken bekommen haben, wirklich schwerwiegende Bauchschmerzen, bis dahin, dass die Kinder am Boden gelegen haben." Auch die Mutter eines Kevin – war das Zufall oder ein humoriger Einfall der Redaktion auf der Suche nach einem unverfänglichen Pseudonym? – und Prof. Hüther kamen damals zu Wort. Nur von der ADHS betroffene Kinder wurden weder gezeigt noch gesprochen.

Alles auf demselben traurigen Niveau, das Hammelehle in seinem Kommentar zur ersten Precht-Sendung beklagte, und dies, obschon auch der SPIEGEL in der Vergangenheit nicht frei von polemisch-fehlerhaften Berichten zur ADHS war. Offenbar ist man in Hamburg gelegentlich froh, dass die Mainzer die Qualität des eigenen Journalismus locker unterbieten. Garanten dafür sind Interviews mit den immer gleichen Protagonisten der Anti-ADHS- und Anti-Medikationsszene, darunter Prof. Hüther und sein ewiger Begleiter Dr. Bonney. Vielleicht gibt es ja im ZDF-Archiv ein zehnstündiges Interview mit beiden, aus welchem die Redakteure des Senders Mal um Mal kleine Versatzstücke herauslösen und versenden können. Andererseits genügt eine Filmvorlage von wenigen Minuten, denn Hüther und Bonney wiederholen letztlich stets dieselben Phrasen vom ach so einfachen Weg der ,,Verhaltenskorrektur an der Oberfläche" durch Tabletten (Bonney) sowie einer Schule, die aus dem vorigen Jahrhundert stamme und ,,brave Pflichterfüller" (Hüther) schaffe.

Vordergründig handelt der Filmbeitrag von Sven, einem 14-jährigen Schweizer Jungen, der in Basel eine Privatschule für verhaltensauffällige Kinder besucht. Zuvor gaben seine Eltern ihm Methylphenidat (MPH), da die Regelschule dies nach Aussage der Eltern forderte und sie keine Alternative kannten. Das heute-Journal zeigt einmal mehr eine Graphik des MPH-Verbrauchs in Deutschland während der letzten knapp 20 Jahre, die in suggestiver Manier wie die Entwicklung des Aktienkurses eines Pharmakonzerns anmutet, jedoch unerwähnt lässt, wer den Wirkstoff in welcher Form zu welchem Zweck verschrieben bekommt. Dass das Szenenbild der Medikamentenübersicht sodann auch die Produktverpackung eines Präparats mit anderem Wirkstoff enthält, erscheint den Machern der Reporte mutmaßlich als lässliche Ergänzung, da es offenkundig hilft, die schiere Menge der Mittel eindrucksvoll zu illustrieren, die Kindern mit ADHS verabreicht werde.

Sven selbst spricht von ernstzunehmenden Nebenwirkungen: ,,Da bist du nicht du, das ist wie als hätte man Scheuklappen an, Du bist nur auf das konzentriert, Gefühle und alles sind abgeschaltet, Du bist eigentlich nur wie eine Maschine." Er schätzt seine neue Schule, in der er sich ,,viel freier" und ,,mehr wahrgenommen" erlebt. So hatte das Prof. Hüther bereits 2009 für Frontal21 formuliert: ,,Kinder werden in den Schulen in gewisser Weise, wenn man es ganz hart sagt, abgerichtet oder funktionalisiert. Und wenn sie nicht funktionieren, dann muss man eben nachhelfen, das hat man früher mit Prügeln gemacht, und ich fürchte fast, dass das jetzt die Medikamente erreichen." Hüthers oberflächliche Existenzanalyse der Kindheit im 21. Jahrhundert ist zwar bei Hermann Hesses ,,Unterm Rad" (1906) und Francis Fukuyamas ,,Our Posthuman Future" (2003) geklaut, doch beim ZDF scheint man dieses wohlfeile Unbehagen in der Schulkultur so sehr zu schätzen, dass man jede Gelegenheit nutzt, das Hüther´sche Weltbild zu promovieren.

Wieder fehlt alles, was eine seriöse Berichterstattung ausmacht: Eine differenzierte Darstellung von Verhaltensauffälligkeit im Allgemeinen und ADHS im Besonderen; eine vorurteilsfreie Diskussion über die durchaus kontrovers zu beantwortende Frage, welche Bedeutung Psychopharmaka (nicht nur Methylphenidat) in unserem erwachsenen Leben, v.a. jedoch im Leben unserer Kinder haben sollen, zumal von der Tatsache abgesehen, dass Nebenwirkungshäufigkeit und Nebenwirkungsprofil der ADHS-Medikation durch die Aussagen des Jungen in keinster Weise repräsentiert werden; ein realistisches Bild von Schule, die im Mittel unserer Gesellschaft nicht so ist, wie Prof. Hüther sie beschreibt (nebenbei: die permanente Abwertung der Lehrer an Regelschulen als willfährige Gehilfen eines vermeintlich rationalistisch-totalitären Schulsystems ist unerträglich); nicht zuletzt eine Ausgewogenheit der Interviewpartner.

Ist das zu viel verlangt, zumal für einen Kurzbeitrag in einer Nachrichtensendung? Wenn ja, so macht es doch Sinn, im Vorfeld zu bedenken, dass vier Minuten nicht ausreichen, um die Themen Schule und ADHS und Medikation der Bedeutung der Sache angemessen abzuhandeln. Es sei denn, man wünscht von Anfang an eine tendenziöse Argumentationslinie, an deren Ende das Verdikt stehen soll: Kinder bekommen Tabletten, da die Gesellschaft zu bequem, zu geizig oder schlicht zu dumm ist, ihr Schulsystem zu reformieren. Vor diesem Hintergrund erscheint die zunächst eigentümlich wirkende Platzierung des Beitrags im heute-Journal durchaus stimmig. Das ZDF berichtet nicht über Politik, es macht Politik. Sowenig wie Frontal21 in Sachen ADHS einen Skandal aufdeckte, sondern vielmehr einen Skandal schuf. Für eine gute Zuschauerquote, die gleichermaßen von der voyeuristischen Betrachtung echten Leids wie von der Inszenierung vermeintlichen Elends profitiert, macht das offenkundig keinen Unterschied.

Im Grunde amüsiere ich mich inzwischen, wenn ich Berichte mit Prof. Hüther sehe, lese, höre. Ich begleite seine Karriere vom anerkannten Neurobiologen über den Hobbypsychiater, Sinn-Stifter, Almtherapeuten und selbstberufenen Rousseau der Neuzeit zum Schul- und Gesellschaftskritiker seit mehr als einer Dekade mit gerührter Anteilnahme. Gespannt erwarte ich die von ihm mitgestalteten Studiengänge zum ,,Potenzialentfaltungscoach" an deutschen und österreichischen Hochschulen, denn sein ureigenes Leben ist mithin das beste Beispiel für eine ungeahnte Entfaltung. Sorge bereitet mir allenfalls die Aussicht, dieser persönliche Wandel des Gerald Hüther könnte anderen zum medial vermarkteten Vorbild gereichen, Naturwissenschaft und Pädagogik in derselben unbedacht-selbstgefälligen Atemlosigkeit zu reformieren.

Schließlich erkenne ich in den Schulen von heute, die ich regelmäßig besuche, die Grundschule und das Gymnasium meiner Kindheit kaum wieder, so sehr haben sie sich in den letzten 30 Jahren verändert. Damals wechselte mehr als die Hälfte meiner baden-württembergischen Grundschulklasse aufs Gymnasium, Dreiviertel hätten die Noten dafür gehabt. Klassenzimmer und Unterricht ähnelten mehr den Schilderungen aus der Grundschulzeit meines Vaters als der Situation in den deutschen Schulen des Jahres 2012. Es war meist ruhig in der Klasse, wir hörten zu, lernten viel und waren stolz darauf. Die Lehrer waren streng, doch selbst sie Älteren unter ihnen liebten ihren Beruf meist noch nach Jahrzehnten, was es ihnen leichter machte, uns Schüler zu mögen. Meine Eltern wären niemals auf den Gedanken gekommen, Lehrern zu sagen, wie sie ihre Arbeit zu erledigen haben; immerhin erhoben die Lehrer auch nicht den Anspruch, die Berufe der Eltern zu beherrschen. Und in einem waren wir Schüler, Lehrer und Eltern uns am Ende meiner Schulzeit im Jahr 1988 einig: Eine weitere dilettantische Schulreform, ausgehend von Universitätsprofessoren, Kultusbeamten und Politikern hätte unsere weitgehend glückliche Zwangsgemeinschaft endgültig erledigt!

Das ist meine Erinnerung. Andere haben in ihrer Schulzeit zu anderer Zeit und an anderem Ort Besseres wie auch Schlechteres erlebt. Es gibt so vieles, was in den Schulen unserer Tage verbessert werden kann. Das meiste und Wichtigste betrifft jedoch nicht Lehrplan und Schulverfassung, so sehr auch diese der Fortentwicklung bedürfen, sondern die Gestaltung des Unterrichts vor Ort. Hier sind die Hüther´schen Theorien und das verkürzte Beispiel einzelner Lebensläufe in Modellschulen keine sinnvolle Grundlage. In diesem Sinne wäre es schön, das ZDF strahlte einmal wieder den wunderbaren Film ,,Sein und Haben" aus, eine preisgekrönte französische Dokumentation aus dem Jahr 2002 über eine französische Dorfschule in der Auvergne. Das würde zwar hundert weitere Minuten zu den vier des heute-Journal-Beitrags bedeuten, wäre dem immens wichtigen Thema Schule allerdings mehr als an angemessen.

Dr. Johannes Streif

http://www.seinundhaben.net/