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Die Soziologen und die Paramedizin

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Begonnen von pelacani, 09. Dezember 2014, 17:46:01

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pelacani

Aus unserer Serie "XYZ und die Paramedizin" heute: die Soziologen.

The Sociology of Traditional, Complementary and Alternative Medicine
http://onlinelibrary.wiley.com/doi/10.1111/soc4.12182/pdf

ZitatTerminology
...
First, that naming is an exercise in power ...
...
Probably the most commonly used term for this group of healing practices in sociology is 'complementary and alternative medicine' (CAM), ... The absent presence here is, of course, biomedicine
Das fällt auch bei der WHO-Definition der "Traditional & Complementary Medicine" auf. Dort wird von einer nebulösen ,,konventionellen" Medizin unterschieden. Aber das Wort ,,Biomedizin" hier ist genau so ein misnomer. Auch die Erfassung rein psychischer Phänomene mittels Papier und Bleistift könnte wissenschaftliche Medizin sein, die in krassem Gegensatz zur ,,CAM" steht. Ich greife mal vor: Nicola Gale vermeidet es sorgfältig, Worten wie ,,evidenzbasiert", ,,empirisch geprüft", ,,wissenschaftlich", ,,objektiv" oder ähnlichem auch nur den geringsten Kredit einzuräumen.

ZitatIn the UK, Cant and Sharma argue that the shift made by the British Medical Association (BMA) from using the term 'alternative' to 'complementary' in 1993 was motivated by widespread criticism that the BMA was being dogmatic by rejecting non-orthodox approaches completely, so they sought to redefine their role as an 'arbiter' of 'good' and 'bad' medicine.
Politische und wissenschaftliche Korrektheit werden als diametrale Gegensätze wahrgenommen, noch schärfer hier:
ZitatEmpirically, there are links between use of CAM and participation in social movements, such as the women's, social justice, community development and green movements (Gibson 2003; Scott 1998), lifestyle reform movements, such as vegetarianism and anti-vaccination (Adams forthcoming) and antipharmaceutical activism, although clearly not all CAM users would share these political views.
Fehlen nur noch Chemtrails, HAARP, Hohlerde, Flat Earth etc.  Wenigstens diese Blüte wurde noch gepflückt: 
ZitatSome sociologists have critically explored the extent to which CAM practices can be linked to these forms of political resistance (Gibson 2003; Hess 2002). For instance, Scott (1998) explores whether homeopathy can be considered a feminist form of medicine.
Aber das ist eigentlich keine neue Erkenntnis:
ZitatHomoeopathy has proved lucrative, and so long as it continues to be so will surely exist,—as surely as astrology, palmistry, and other methods of getting a living out of the weakness and credulity of mankind and womankind.
[Oliver Wendell Holmes, Medical Essays, 1842-1882]

Wieso wollen die Patienten CAM?
Zitatand finally, that alternative therapies fulfilled a psychological need in the wake of the waning of organized religion, providing an alternative framework for making sense of illness, suffering and misfortune.
Der Kampf um eine Ersatzreligion ist also politisch progressiv. So habe ich das noch gar nicht gesehen.

ZitatThe big question
Probably the most ubiquitous question in wider society about CAM is 'Does it work?'
Es ist nun langsam an der Zeit für diese Frage, und wir sind auf die Antwort gespannt:
ZitatHowever, more recently, sociologists have shown more willingness to engage critically with these publically 'untouchable' questions of medical knowledge and science (Barry 2006)
Die Spannung steigt,
Zitatsociologists ... have started to explore and construct alternative knowledges about how CAM might work,
Hervorhebung im Original. Das war's. Tusch! Wer's nicht glauben will, sehe selber nach. 
Kommen wir zur zentralen Aussage des gesamten Elaborats.
ZitatThe most well developed part of this set of arguments is that the claims of scientific truth and unity by decriers of CAM (i.e. the claim that medicine is based on evidence and practices are only alternative because they cannot be or have not yet been scientifically proven, and if they are proven, they will cease to be alternative and will be part of medicine)

Allerdings. Allerdings,
Zitatare untenable sociologically (Keshet 2009), not least because the model of evidence they use is based on Western biomedical notions of truth. This myth of scientific unity could be considered part of a calculated exclusionary strategy; studies on the professionalization of CAM have frequently considered the responses of the medical profession (Kelner et al. 2006; Winnick 2005). For instance, Winnick studied the American medical profession and argued that although there have been phased changes over time (from condemnation (60s–70s) to reassessment (mid 70s–early 90s) and to integration (90s)), biomedicine has retained its dominance, and that 'dominance is sustained through adaptation to structural change' (Winnick 2005: 38). In the integration phase, she argued that the primary means of control was the subjecting of CAM to scientific scrutiny. [...]
Here particularly, the challenge to avoid reproducing biomedical dominance in terminology and analysis is vital.

Kürzlich im Blog hatten wir das in einer etwas schlichteren Variante:
Zitatkaulli : [...] wissenschaftliche Studien können ohnehin nur die machen, die auch beurteilen, ob sie anerkannt werden.
Pelacani: Wer beurteilen will, ob etwas richtig geschrieben ist, muss lesen können. Bedauerlich, aber unabänderlich. Das ist eine der Paradoxien der menschlichen Existenz.
(Wohlbemerkt, ,,schlichtere Variante" bezieht sich hier nur auf die terminology, nicht auf den Inhalt). 

ZitatOver the last 15 years, sociologists have continued to engage critically with CAM and TM.
... Professional sociology is the dispassionate investigation of social phenomena and continues to have an important place by describing and understanding CAM use and practice
Ach, das ist Kritik?

Wie kommt man eigentlich auf derartige Ideen?
ZitatThe focus has been much more strongly on qualitative rather than quantitative methodology

Also, in der Tat:
ZitatThe myth may, however, also be a result of asocial naivety
Das trifft es, auf den Punkt.

:facepalm

pelacani

Meine Frage: nimmt sich die (oder vielleicht friedfertiger: diese) Soziologie eigentlich als Wissenschaft wahr? Und wenn, übt sie damit nicht eine sozial konstruierte, potentielle "symbolische Gewalt" (Bordieu) aus?

:rofl2

F. A. Mesmer

ich greife das Stöckchen gerne auf:

sog. Bindestrichsoziologien gibt es, wie Sand am Meer und es gibt reichlich un sehr mäßig erfolgreichen Soziologienachwuchs, der sich einen Namen machen und damit viel Kohle verdienen will. So weit, so gut.
Ein guter Hinweis auf die Verbreitung einer solchen -soziologie ist der Blick in eine nationale Soziologenorganisation und da der Blick in deren Sektionen/Untergruppierungen.
In der DGS finde ich nur die gröbere Rubrik Medizin- und Gesundheitssoziologie - immerhin eine gröbere Rubrik unter die sich diese Unfug subsumieren lässt.
Nun kenne ich mich da nicht weiter aus, insbesondere sagen mir die Damen und Herren in der Sektion garnichts, sicherlich gibt es auch da phantasiebegabte Fachvertreter, die sich ansonsten auch gut im Genderbereich etc. sehr heimisch fühlen würden, aber eventuell sind das garnicht so viele. Mein Blick in die aktuellen Veröffentlichungen der Sektion sagt mir, dass hier eigentlich und mehrheitlich anderen Fragestellungen nachgegangen wird, auch Impfgegnerschaft etc. nehme ich gerade bei den Medizinsoziologen als deutlich seltener wahr, als bei anderen FachvertreterInnen.

Die Autorin des Aufsatzes Nicole Gale befasst sich schon länger mit dem Thema. Schätze mal, sie will ne Professur und Klappern gehört zum Handwerk.  :-X

Pel, ich vermute schon, dass N.G. das als Wissenschaft empfindet. Das heißt aber noch nicht, dass diese Ansicht innerhalb der Soziologie mehrheitlich geteilt würde, so man das Werk der Dame überhaupt zur Kenntnis nimmt...

Ich sags mal so: es gibt ziemlich viele Medizinier, die Glaubuli, TCM, etc verticken, und auch wenn längst nicht alle daran glauben, gibt es doch mMn überraschend viele, die das für evidenzbasiert halten...

Diese Problemlagen, Motivationen und Verwerfungen, die innerhalb der Medizin entstehen sind denen in der Soziologie vergleichbar um nicht zu sagen identisch. Der sinnfälligste Unterschied zwischen Medizin und Soziologie scheint mir in diesem Zusammenhang der des Budgets (das Einkommen eines Durchschnittsarztes liegt deutlich über dem eines Durchschnittssoziologen) und der Verantwortung (Glaubuli trotz fieser Erkrankung kommt unterlassenen Hilfe deutlich näher, als es jedes Gendergeblubber vermag).

Mit der Forderung nach mehr Wissenschaftlichkeit, Rationalität, Methodenkenntisse, Reflektion usw. liegt man halt praktisch immer richtig. Was die Soziologie und die Soziologen im allgemeinen angeht, stehe ich mittlerweile auf dem Standpunkt: es könnte viel schlimmer sein und bin darüber positiv verwundert.

Typee

Wie würde der alte Max Weber dem die Löffel langziehen!
The universe is under NO obligation to make sense to us
(Neil deGrasse Tyson)

F. A. Mesmer

Zitat von: Typee am 08. Januar 2015, 09:41:37
Wie würde der alte Max Weber dem die Löffel langziehen!
wem?

nebenbei: Max Weber war Volkswirt, gelernter. Als solcher war er Sozialwissenschaflter. Das nannte er keck Soziologie, aber er meinte es etwas breiter. Allerdings sind für Soziologen alle historischen Größen immer Soziologen, z.B. K. Marx, ... Hat was mit Selbstverliebtheit und Sinnsuche zu tun. Beides Phänomene, die dem guten Max auch nicht gerade fremd waren.